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#Corona-Splitter: Warum wir am 1. Mai auf die Straße gehen müssen

Auf Indymedia DE hat eine Diskussion über den diesjährigen 1. Mai begonnen. Es folgt ein Text zu Corona, dem 1. Mai und der Komplizenschaft grosser Teile der radikalen Linken mit der autoritären Formierung im Pandemie-Ausnahmezustand.

Ursprunglich veröffentlicht auf Indymedia DE. Bild oben: Archivbild 1. Mai 1929 in Berlin.

*Weitere Texte zur Diskussion*
https://1mai.blackblogs.org
https://erstermai.nostate.net

Wir können es noch immer nicht ganz fassen, trotz unserer Kenntnis von George Orwells Roman und unserer Erfahrungen mit Wolfgang Schäubles Politik. Wir fragen uns derzeit häufig, ob wir uns in einem Traum befinden, aus dem wir gleich erwachen. Wenn wir uns dann körperlich nahe kommen, um uns gegenseitig zu zwicken, kommt auch die Gewissheit: Nein, der ganze Spuk wird nicht so schnell vorbei sein.

Isoliert und allein zuhause wird jede*r einzelne von uns blöd. Wenn wir kaum noch Menschen treffen, fehlt uns der Austausch. Wir werden mit all den Schreckensmeldungen allein gelassen. Wir hören und lesen von steigenden Infiziertenzahlen, von Hausarrest in anderen Ländern, von Überlegungen nach schärferen Einschneidungen hierzulande. Die Polizei setzt diese durch, einzelne Städte rufen bereits die Bundeswehr zur Hilfe, die sich für ihren Inlandseinsatz bereit macht. Die Mobilfunkanbieter haben längst unsere Bewegungsdaten an staatliche Stellen weitergereicht. Und alles das ohne rechtliche Grundlage, aber für die vermeintlich gute Sache. Sie wissen, was sie tun.

Wir wissen sehr wenig. Wie ansteckend und gefährlich ist das Virus? Wie lange werden die beschlossenen Maßnahmen noch andauern? Weil es noch keine Antworten gibt, wird in Italien und anderen Ländern an Erkrankten mit einem Malaria-Mittel und einer Hochdosis Interferone experimentiert. Weil die Antworten fehlen, gibt es präventive Vorsichtsmaßnahmen mit gravierenden Auswirkungen. Wir leben alle in einem großen Versuchslabor.

Die herrschenden Zustände fördern Unsicherheit, Verzweiflung und oft irrationale Angst. Auch damit ist das große Kommunikationsbedürfnis der Menschen zu erklären, denen wir auf Straßen und Plätzen begegnen. Die Nachrichten tun ihr übriges, angefangen von den Bildern leerer Supermarktregale bis zu den Bildern der Särge in Norditalien, die sich dort stapeln, weil ebenfalls ängstliche Bestatter*innen ihre Arbeit eingestellt haben. Der Tod ist allgegenwärtig.

Und der Tod geht auch an uns nicht vorüber. Man kann an Corona sterben, auch wenn man sich nicht infiziert hat. Depressionen treiben Menschen in den Suizid. Als wir jetzt die Todesanzeige eines Freundes lesen mussten, ist Wut und Traurigkeit in uns hochgekocht. Als Linke hatten wir offensichtlich auch kein rettendes Angebot mehr. In der aktuellen Totenstatistik der Systemkrise wird der Freund nicht auftauchen.
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*Bedrückende Zeiten*

Die Menschen müssen sich weiter zur Lohnarbeit schleppen und es gibt keine Partys mehr. Die Not der Hedonist*innen ist groß. Während wir von Stimmen hören, das Essen sei das einzige in diesen Zeiten, was man noch genießen könne (und hoffentlich gibt es bald Spargel!), machen sich andere Sorgen, wie sie ihren Hunger stillen können. Am Ende werden viele verarmen.

In der aktuellen Debatte regiert die Sicht des globalen Nordens. Hier dreht es sich noch mehr als sonst um das eigene Land, teilweise auch um Europa und seine Nachbarn, aber allerhöchstens und äußert selten reicht es bis Gaza oder Rojava. Der Internationalismus ist der große Verlierer dieser Zeit.

Der Blick auf andere Kontinente, wo der Postkolonialismus niemals flächendeckend Gesundheitssysteme ermöglicht hat, wo es kaum Coronatests und deshalb keine beängstigenden Zahlen gibt, wo seit Jahrzehnten tagtäglich massenhaft Menschen sterben, dieser Blick macht uns klar, dass wir hier in der Metropole trotz allem an Luxusproblemen leiden.

Und doch droht auch hier die gesellschaftliche Katastrophe. Es ist nicht das Virus, das die Verhältnisse, die Gesellschaft und die Individuen verändert, sondern der Umgang mit Corona (und wie wir darauf reagieren) sowie die staatlichen Maßnahmen (und wie wir uns dazu verhalten). „Im Zweifel ist auf vieles verzichtbar“, hören wir von verschiedenen Seiten. Widerspruch scheint unmöglich. Sowohl soziale Kontakte als auch Menschenrechte sind jedoch unverzichtbar. Der Mensch ist ein soziales Wesen und darauf angewiesen, anderen zu begegnen, sich mit ihnen auszutauschen und auseinanderzusetzen. Wie könnten wir sonst solidarisch sein? Menschenrechte werden trotzdem außer Kraft gesetzt, wie beispielsweise das auf Asyl, während andernorts zeitgleich Flüchtlingslager brennen.

Gegen die katastrophale Situation in den Lagern auf den griechischen Inseln gehen Menschen auf die Straße und hinterlassen Spuren; einer der wenigen Inhalte, an dem sich derzeit Protest organisiert. Eine solidarische und internationalistische Stimme, eine Stimme für die ökonomisch Ausgebeuteten und politisch Unterdrückten, die der Revolutionäre 1. Mai immer war, ist heute nötiger denn je.
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*Große Teile der Linken waren dabei*

Viele von uns zählen zu der hierzulande existierenden großen Mehrheit, die die Maßnahmen so bereitwillig hingenommen bzw. noch schärfere Maßnahmen gefordert hat. Die Linke war sogar Vorreiterin. Autoritäre Vorschläge nach Isolation der Kranken, nach Registrierung und einer Kontrolle von oben sind aus unseren Reihen gekommen. Bis heute verhalten sich Freund*innen wie Regierungssprecher*innen, eine eigene Meinung oder gar Kritik an der herrschenden Politik sind Mangelware.

Wir haben sie noch gut im Ohr, ihre Worte der Ablehnung des Abstimmungsmarathons im Olympiastation. Heute äußern sich die gleichen Leute plötzlich euphorisch über die Erfolgschancen von Online-Petitionen. Wir erinnern uns noch an ihre sympathische Fundamentalkritik an den Bullen. Jetzt sprechen sich dieselben Freund*innen für Ausgangssperren aus – wegen der „Unvernünftigen“, die noch auf den Straßen und Plätzen unterwegs sind. In dieser Logik ist auch klar, wer für die Kontaktverbote und das harte Durchgreifen der Ordnungsmacht verantwortlich ist: Nicht Politik und Staat, sondern wir selbst. Wir sind die Gefahr und werden bestraft. Die Migrant*innen tragen eigenhändig die Schuld für erlittene Polizeigewalt, wenn sie noch auf den Straßen waren, ihre Kinder auf Plätzen spielen ließen statt sich in der engen Wohnung einzusperren. Und wir waren nicht vor Ort dabei, haben nicht gegen die Schlägerbullen eingegriffen und den staatlichen Angriff nicht auf eine politische Ebene gebracht. So wie alles derzeit läuft, kann es sich die AfD zum Vorbild nehmen.

Wenn wir unsicher und vorsichtig (hinter)fragen, wenn wir unsere kritischen Meinungen oder Vorschläge formulieren, werden wir oft harsch zurechtgewiesen oder erhalten einfach nur „Nein“ oder „Schwachsinn“ als Antwort. Ein Argument braucht es dafür gar nicht mehr. Wer mit der großen Mehrheit einig ist, muss nicht weiter begründen. Dieses autoritäre Verhalten schüchtert ein. Damit werden wir alle noch lange zu kämpfen haben. Und die Auswirkungen lassen sich nicht mehr zurückdrehen. Wie werden wir diesen heute tonangebenden Menschen nach Corona begegnen?
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*Nicht systemrelevant sondern systemsprengend*

Die Grundlage linksradikaler Politik, der fundamentale Widerspruch zum Hier und Jetzt, hat in den vergangenen Wochen ebenfalls großen Schaden genommen. Aus der linken virtuellen Welt hören wir aktuell viele radikale und realpolitische Forderungen an staatliche Stellen. Leider hören wir nur selten Vorschläge, was wir tun können und müssen, um die Umsetzung der aufgestellten Forderungen Realität werden zu lassen. Ist das überhaupt möglich, wenn wir in unseren vier Wänden sitzen?

Wir sind nicht so optimistisch wie einige moderate Freund*innen. Wir sind überzeugt: Es wird nichts vergesellschaftet werden. Wer seine Miete nicht zahlt, wird aktuell nicht gekündigt. Aber die Miete wird nachträglich gezahlt werden, sonst werden die Vermieter*innen knallhart sein, keine Frage. Die Zwangsräumungen sind ausgesetzt. Aber die Räumungen sind nur verschoben, sie werden alle noch stattfinden, keine Frage. Und es wird schlimmer kommen, mit mehr Räumungen, mehr Hartz-IV-Sanktionen, mehr Repression als zuvor, wir werden die kommenden Jahre für die Krise zahlen müssen, wenn wir jetzt nicht aktiv werden.

Wenn Krankenhäuser als Wirtschaftsunternehmen geführt werden, wundern wir uns nicht über ein miserables Gesundheitssystem. Wir wollen die Ursache beheben und das kapitalistische System überwinden. Vielleicht bieten diese Zeiten die Ruhe und Gelegenheit, sich zu verständigen, was in naher und ferner Zukunft dafür zu tun ist. Die radikale Linke liefert dazu kluge theoretische Texte. Andere hoffnunggebende Gefährt*innen sind mit Transparenten und Graffiti an Häuserwänden, mit Kundgebungen im öffentlichen Raum sichtbar. Sie besetzen sogar Häuser. Diese Versammlungen (alle nennen sie pleonastisch „verantwortungsvoll“) stehen für ein befreiendes Handeln gegen die Isolation, für ein mutmachendes Wiedersehen mit Freund*innen, und für ein kollektives Erlebnis, das in diesen Zeiten so notwendig ist.

Ja, wir müssen mutiger sein und uns der autoritären Formierung widersetzen. Ja, wir müssen für Demokratie, Menschenrechte und Versammlungsfreiheit streiten. Ja, wir müssen unsere Räume zum sozialen Austausch erhalten und notfalls mühevoll neue organisieren. Ja, wir müssen unter Notstandsverordnungen politisch handlungsfähig bleiben. Und ja, wir müssen Klandestinität üben und praktizieren bevor es zu spät dafür sein wird. Denn letztlich geht es uns in allen Zeiten um nichts weniger als den gewaltsamen Umsturz der herrschenden Verhältnisse. Der Revolutionäre 1. Mai war und ist dafür immer ein geeigneter Anlass.

H&S, Berlin, 13. April 2020.


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