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Feministische Praxis unter der Pandemie – das Private bleibt politisch

Wir, Solidarisch gegen Corona, dokumentieren einen Beitrag des Arbeitskreises MoRA – MitordentlicherRadikalität aus Leipzig, der sich angesichts zunehmender häuslicher und genderbasierter Gewalt unter der COVID19-Pandemie formiert hat. MoRa ruft am 16.05.2020 zu einem Aktionstag gegen sexualisierte und häusliche Gewalt und Femizide im Leipziger Auwald auf, in dem es Anfang April zu einem Femizid gekommen ist. Die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, so stellen sie in ihrem Text heraus, führen nicht nur zu einer Zunahmen häuslicher Gewalt, sondern bringen eine feministische Organisierung und Gegenwehr vor große Schwierigkeiten. Wie kann das Private und Individualisierte, auf das Frauen weltweit derzeit zurückgeworfen werden, von einer politischen Praxis wieder eingeholt werden? Wie weit trägt ein feministischer Aktivismus, der sich in die digitalen Welten verlagert hat? Wie kann über das Internet hinaus eine feministische Gegenöffentlichkeit wieder und weiter hergestellt werden? MoRa wollen sich mit euch über eure feministischen Praxen unter der Pandemie austauschen und laden zum Diskutieren ein.

Ursprünglich veröffentlicht von MoRA – MitordentlicherRadikalität – Vorwort von Solidarisch gegen Corona.

Es geht um Privates und Öffentliches.

1. Das Private ist politisch

Das „Private ist Politisch“ ist eines der Mantras der feministischen Bewegung. Feministische Politiken zielten und zielen darauf ab, Reproduktionsarbeit sichtbar zu machen, die Domestizierung der Frau im Privaten aufzubrechen und antipatriarchale Gegenöffentlichkeiten zu schaffen. Dabei geht es nicht nur um reformistische Strategien, wie die Frauenquote, die Frauen den Weg in das öffentliche Leben der Erwerbsarbeit ermöglichen sollen. Autonome, antiparlamentarische oder zivilgesellschaftliche Gruppen schaffen (informelle) Netzwerke, die die gegenseitige Unterstützung und Organisierung von FLINT* im Fokus haben: Von Kinderläden über Frauenhäuser, geteiltes Wissen zu Schwangerschaftsabbrüchen, Fantifas, Selbsthilfe-Gruppen, Bar-Abenden, Infoläden bis hin zu Selbstverteidigungskursen zielen feministische Politiken auf das Schaffen einer Gegenöffentlichkeit, in der Frauen sich unter anderen Prämissen als den patriarchalbürgerlichen vernetzen, organisieren und unterstützen konnten. Die eigenen Kämpfe, Probleme und Erfahrungen nicht nur als individuelle zu begreifen, sondern als Teil einer Gesellschaft mit bestimmten Geschlechterverhältnissen und Körpernormierungen zu verstehen, ist zentraler Kern feministischer Politik. Ob im Bett, in der Küche oder im Plenum: Das Private ist politisch. Kollektive feministische Organisierung wird so auch zum Mittel, internalisierte Sexismen aufzubrechen. In ihr steckt das Wissen, dass die Einzelne auf ihre gesellschaftlich geformte Subjektivität zurückgeworfen nicht selten patriarchale und andere Herrschaftsverhältnisse reproduziert. Hierzu braucht es Räume, die diese Politiken ermöglichen und wenn nötig Schutz vor (cis-)sexistischen Zugriffen und Übergriffen bieten. Und es braucht feministische Politik-Formen, die eine gesellschaftliche Veränderung bewirken. Diese sind in Zeiten von Corona jedoch kaum mehr zugänglich. Oder?

2. Digitalisierung: Das Internet als feministische Öffentlichkeit?
So waren feministische Bewegungen in den letzten Jahren nicht unbedingt auf Straßenaktivismus oder Schutzräume wie feministische Kneipen oder Infoläden angewiesen. Die Bewegungen von #meetoo und #aufschrei entstanden im Internet. Ihre social media Kampagnen wirkten bis in den Mainstream. Dabei war es zum Teil die Zugänglichkeit der social media Kanäle, die dazu führte, dass auch bisher nicht gehörte Stimmen eine Öffentlichkeit erhielten. Die Digitalisierung der Bewegung konnte insofern eine Vielfalt von Stimmen hörbar machen und zugleich ein politisierendes Moment schaffen, bei dem die Betroffenen ihre Erfahrungen als Teil einer patriarchalen Gesellschaft verorteten. Das Internet konnte hier einen fruchtbaren Boden bieten, auf dem feministische Bewegungen wachsen konnten. Das zeigen auch die vielen Foren, in denen queerfeministische marginalisierte Identitäten sich supporten, empowern und ein kollektives Bewusstsein bilden können. Sie sind für die Bewegung als digitale Schutzräume vielleicht nicht weniger wichtig als der FLINT-Abend in der linken Lieblingskneipe. Nicht nur feministische Internetaktivistinnen wie die Haecksen haben verstanden: Das Internet ist ein sozialer Raum, der von Feminist*innen genutzt werden kann und keinesfalls patriarchalen Strukturen überlassen wird/werden sollte. Aber genügt das?

3. Feministischer Aktivismus: Körper- und Fürsorgeerfahrungen
Die körperlichen Einschreibungen der patriarchalen Gesellschaft können durch Social Media zwar artikuliert und hörbar gemacht werden. Ihnen wird jedoch keine andere körperliche Erfahrung entgegengesetzt. Die Aktivist*innen bleiben vereinzelt vor ihren Rechnern und mit diesen im Privaten verhaftet. Feministischer (militanter) Aktionismus lebt jedoch gerade davon, den in den eigenen Körper eingeschriebenen Passivität, Verobjektivierung und Normvorstellungen etwas entgegen zu setzen. Sei es, indem der patriarchalen Gewalt in Form militanter (Rache-) Aktionen begegnet wird (die Fantifa Bewegung hats vorgemacht) oder die sexistische individuelle Verobjektivierung durch kollektive Protestformen gebrochen wird. Bei Reclaim the Streets- Demonstrationen, Slut- Walks, Blockaden von Lebensschutzmärschen oder Selbstverteidigungskursen geht es doch gerade darum, dem (cis-)sexistischen, verobjektivierenden Zugriff auf den Körper eine andere körperliche Erfahrung entgegenzusetzen; Selbstbestimmung eben. Diese Erfahrungen können nicht im Internet gemacht werden, für sie müssen Betroffene vor die Tür. Genauso kann eine virtuelle Aufwertung von Fürsorgearbeit keine gelebte Wertschätzung dieser ersetzen. Und eine virtuelle Reflexion der eigenen Männlichkeit hat noch lange nicht zur Folge, dass Männer ihre Emotionen auch außerhalb des WorldWideWeb im Griff haben.

4. Corona: Mehr Staat – mehr Privatisierung
Und nun Corona. Die staatlich verordnete Privatisierung unter dem Credo des „Social Distancing“ hat gezeigt, wie notwendig die Politisierung des Privaten und der Kampf für eine feministische Gegenöffentlichkeit sind. Die vom Staat priorisierte Virengemeinschaft in Form der heterosexuellen Kleinfamilie war zunächst für von häuslicher Gewalt Betroffene enorm problematisch. Für sie und die feministischen Unterstützungseinrichtungen hatte der Social Shut-Down fatale Folgen: Die Quantität häuslicher Gewalt stieg; zugleich wurden die Möglichkeiten sich Hilfe in Gewalt-Situationen zu suchen mit den Auflagen, dass Haus nur „wenn nötig“ zu verlassen, auf
einen Schlag zugleich enorm eingeschränkt und riskanter. Während die Amtsgerichte ihren Betrieb einstellen und Sorgerechts- sowie Kontaktverbotsverfahren nicht mehr betrieben werden können, werden die Frauenhäuser überlaufen. Einige Kommunen reagierten, indem sie den Frauenhäusern gönnerisch den kleinen Finger reichten und ohnehin leerstehende Gebäude zeitweise als Notunterkünfte zur Verfügung stellten. Nachhaltiger Gewaltschutz sieht anders aus. Ganz zu schweigen von den Problemen, die den Frauenhäusern aufgrund von Hygieneauflagen und seit jeher begrenztem Platz begegnen. Corona führt bisher also einerseits zu einer verstärkten Privatisierung der Kleinfamilie als „Herz der Gesellschaft“ durch den Staat – und machte blind für die Gefahren, die im
Privaten liegen. Diese Priorisierung der Kleinfamilie zeigt zugleich, welchen Beziehungsformen der Staat Anerkennung schenken möchte. Nicht romantische, nicht familiäre, nicht monogame Beziehungsformen können in Zeiten von Corona nur erschwert praktiziert werden. Darüber hinaus offenbart sich gerade an der staatlichen Corona Politik erneut die Abwertung von Reproduktionsarbeit, die alte Rollenbilder verfestigte. Während die Autofabriken möglichst schnell wieder an den Start gehen sollen, bleiben die Kitas geschlossen. Home Office und Kinderbetreuung ist zwar eine „Mehr“-Belastung. Mit der Gefahr, die von einem Wirtschaftseinbruch ausgeht, kann sie dennoch nicht mithalten.

5. Autonomer Feminismus in Zeiten von Corona: Analysen und Strategien
Feministische Politik in Zeiten von Corona kann sich also nicht ins Internet oder die eigenen vier Wände zurückziehen. Und: Die Corona Krise hat die staatlichen Akteure nicht aus ihrem selbstverordneten, auf (cis-)sexistischen Herrschaftsstrukturen wohl gebetteten Dornröschen Schlaf wach geküsst. Wer hätts gedacht. Unsere Kämpfe müssen wir schon
selber führen. Wie aber können feministische autonome (vielleicht sogar revolutionäre) Politiken in Zeiten von Corona aussehen? Wie geht eine feministische Bewegung, die versucht das Private zu Politisieren, mit der staatlich verordneten Privatisierung sämtlicher Lebensbereiche um? Hat sich das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit während Corona überhaupt so grundlegend geändert, dass es lohnt, ihm Zeit zu schenken? Wir sind interessiert an euren Analysen und Strategievorschlägen. Wie nutzen patriarchale Strukturen die Privatisierung in Zeiten von Corona aus? Welchen Problemen begegnet ihr in euren Communities? Wie geht ihr damit um, dass nicht nur von der normalen Sexismus-Kacke sondern auch von Corona unterschiedliche Leute unterschiedlich betroffen sind? Welche feministischen (Gegen-)Strategien, welche Aktionsformen schlagt ihr vor?

Lasst uns ins Gespräch kommen.

Schreibt uns eine Mail an mora_le@riseup.net oder postet eure Antwort auf unserem Blog: https://dasprivatebleibtpolitisch.wordpress.com/.


Die Leipziger Feminismus-Gruppe MoRa (MitordentlicherRadikalität).

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