
Genoss*innen aus Trentino (italienisches Territorium) haben ihr achtes Wandpapier über den aktuellen Ausnahmezustand veröffentlicht, welches nun in mehreren Städten geklebt wird.
Ursprünglich veröffentlicht von Il Rovescio. Übersetzt von Enough 14.
Ihr könnt Nr. 1 hier und Nr. 2 hier, Nr. 3 hier , Nr. 4 hier , Nr. 5 hier , Nr. 6 hier und Nr. 7 hier lesen.
11. Mai 2020
Über den Berg
Dies ist der Stand der Dinge. Selbst Ökonom*innen, die alles andere als radikal sind, beginnen, vier Auswege aus der gegenwärtigen Situation anzunehmen: ein Abgleiten in die Barbarei; Staatskapitalismus; Staatssozialismus; eine andere Gesellschaft, deren Grundlage die gegenseitige Hilfe ist. Die Online-Tageszeitung „Milano Finanza“ titelte am 6. Mai: Warum das kapitalistische System praktisch tot ist. Die These – falsch, aber bezeichnend -, die vom Chef eines wichtigen Investitionsfonds unterstützt wird, lautet, dass ein System, in dem Unternehmen ohne staatliche Intervention keine Gewinne erzielen können, kein kapitalistisches System mehr ist. Aber der Hauptpunkt war die Schlussfolgerung: Wenn bestimmte Veränderungen nicht von oben gelenkt werden, werden andere von unten aufgezwungen. Wer hätte so etwas noch vor wenigen Monaten gesagt? Das Problem ist, dass die Initiative im Moment fast vollständig in den Händen von Staaten und Technokrat*innen liegt, was uns einer der ersten drei Lösungen näher bringt und uns von der letzten entfernt, der einzigen, welche sowohl das Überleben des Ökosystems als auch die Freiheit des Einzelnen retten kann.
Zur Bestätigung
Am 6. Mai schlug Vito Crimi, Vizeminister des Innern und politischer Chef der 5-Sterne-Bewegung [1], vor, denjenigen, die ein Grundeinkommen oder Naspi [2] erhalten, zu „erlauben“ (zu Gütig!) in die Landwirtschaft zu gehen und dort zu arbeiten, um den Mangel an ausländischen Arbeitskräften auszugleichen, „ohne ihr Recht auf dieses Einkommen zu verlieren“. Als ob nichts geschehen wäre, sagten die Pentastellato [3] (dem jedoch der Präsident der PD [4] der Emilia Romagna Bonaccini vorausgegangen war: „Wer ein Grundeinkommen erhält, kann dort arbeiten gehen, also gibt er etwas von dem zurück, was er sich nimmt“) die Dinge wie sie sind. Es ist an der Zeit, mit der archaischen Vorstellung aus dem 19. Jahrhundert aufzuräumen, dass der Chef zahlen muss und dass eine bestimmte Arbeit einem relativen Gehalt entspricht, welches durch das Kräfteverhältnis zwischen Chef und Arbeitnehmer*innen bestimmt wird. Von nun an wird die Arbeit ein Zugeständnis (eine Zwangskonzession, d.h. eine Zumutung) sein, ebenso wie das (immer miserabler werdende) Einkommen, welches durch Entscheidung der Regierung genommen werden kann – wir haben in diesen Tagen eine Kostprobe davon erhalten, was sie mit einem simplen Erlass bewirken kann – und vor allem, dass es in keinster Weise der geleisteten Arbeit entspricht und auch nicht Gegenstand von Verhandlungen und Konflikten sein wird. 600 Euro im Monat, dafür 12 Stunden unter der Sonne zu arbeiten, erscheint dir wenig? Dann verlierst du deine Leistungen. Du möchtest einen angemessenen Lohn aushandeln? Der nächste bitte! Du möchtest einen Vertrag mit Stundenlohn, Überstunden, Krankheit, Urlaub, Beurlaubung, freier Tag, Beiträgen, Streikmöglichkeit? Crimi und Bonaccini sprechen nicht darüber, andere Politiker werden es auch nicht tun, für sie ist dies wahrscheinlich Museumsstoff. Ein Wendepunkt, um mit der „kommenden Krise“ umzugehen (oder ist sie schon da?): Die Empfänger von Subventionen wären eine Arbeitsreserve, buchstäblich ohne Kosten für die Bosse und ohne zusätzliche Kosten für den Staat, da es sich um bereits zugewiesene Gelder ( man sollte besser sagen: Krümel) handelt, deren Auszahlung ohnehin gesetzlich vorgesehen ist. Ein Vorschlag, der symmetrisch zu der ablehnenden Haltung steht, Wanderarbeiter ohne Papiere zu regularisieren, eine Arbeitskraft zu sehr niedrigen Kosten für die Unternehmen, zu Null Kosten für den Staat. Umso mehr Grund für Italiener*innen und die Migrant*innen, gemeinsam gegen eine neue Art der Sklaverei zu kämpfen, welche nichts Dringliches hat: angesichts der Profite, die sie garantieren, besteht kein Zweifel daran, dass diese Bedingungen, einmal auferlegt, dauerhaft und immer umfassender werden.
Gewissenhaft oder mit Gewalt
Der Zusammenhang zwischen den sich verschlechternden Lebens- und Arbeitsbedingungen und einer zunehmend künstlichen Gesellschaft tritt zeitgleich an die Oberfläche. Wir werden kaum in der Lage sein, diese Unglücksökonomie zu stoppen, ohne kollektive Räume zu schaffen, in denen wir uns gegen das wachsende Elend organisieren und gleichzeitig ein Gesamturteil über ein System formulieren können, welches sich ganz offen im Krieg mit dem Planeten und all seinen Bewohner*innen befindet. Der Widerstand gegen die Einführung von 5G wird wahrscheinlich eine solche Gelegenheit sein. Ein weiteres Schlachtfeld könnte das Thema Gesundheit werden. Um in der übrigen Bevölkerung Unterstützung für ihre eigenen Kämpfe zu finden, müssen kritische Gesundheitsfachkräfte anfangen, sich nicht nur gegen Kürzungen und Privatisierungen auszusprechen, sondern auch gegen die strukturellen Ursachen (z.B. Verschmutzung und Nahrungsmittelverfälschung), aufgrund derer immer mehr Patient*innen ihrer Branche zugeführt werden. Es ist genau ein solches Urteil, welches fehlt – in diesem Sektor wie in allen anderen – unter der Last des Überlebens erdrückt. Nur Räume der direkten Kommunikation und des gemeinsamen Kampfes können diese Bürde lindern. Andererseits, wenn es nicht durch die bewusste Blockade einer zunehmend dement gewordenen Produktion geschieht, werden die Menschen „unter dem Joch wiederholter ökologischer Katastrophen lernen müssen, sich von einer Welt voller Illusionen zu trennen“.
Grundlegende Prinzipien
In Erwartung – oder als Ersatz – für den Antrag auf Nachverfolgung der Kontakte hat das Italienische Institut für Technologie (dessen Direktor Roberto Cingolani zur Task Force gehört, die von der Regierung zur Planung der „Rückkehr zur Normalität“ nach der Quarantäne eingesetzt wurde) bereits ein digitales Armband entwickelt und auf den Markt gebracht, welches ertönt, wenn der „Sicherheitsabstand“ nicht eingehalten wird, und das Kontaktdaten mit etwaigen infizierten Personen speichert. Der Gouverneur von Ligurien will es ab diesem Herbst zur Pflicht machen. In der Zwischenzeit plant das Bildungsministerium, die „Didaktik“ auch für September online zu halten (die Hälfte der Schülerinnen und Schüler „in Präsenz“, die andere Hälfte verbunden mit dem Internet). „Es gibt niemals Hindernisse für diejenigen, welche keine Grundsätze haben“, wurde kürzlich geschrieben. Und was sind diese Prinzipien? Welche Idee von Freiheit, von „menschlicher Natur“ und sozialen Beziehungen als Kontrapunkt zu den Machenschaften an uns selbst und der Welt? Die Bekräftigung bestimmter Werte ist vielleicht die gebieterischste ethische und praktische Notwendigkeit dieser historischen Phase. Um widerspenstige Lehrer, Eltern, die sich weigern, ihre Kinder in die Schule zu schicken, Student*innen, die nicht die für den „Fernunterricht“ notwendige „institutionelle E-Mail“ zur Verfügung haben werden, muss ein Netzwerk von Unterstützung, Reflexion und Widerstand geschaffen werden. Wahrscheinlich sind die Elemente der Verweigerung weiter verbreitet als wir denken, obgleich sie zerstreut und ängstlich sind.
Ein Anfang
Eine erste Diskussion über all diese Fragen fand am Sonntag, dem 10. Mai, auf dem Gelände No Tav [5] von Acquaviva e Resistente statt. Mehrere Stunden lang diskutierten etwa fünfzig Personen aus verschiedenen Orten der Region Trentino darüber, wie sie diese zwei Monate der Gefangenschaft erlebt haben, und skizzierten Ideen und Vorschläge im Hinblick auf weitere Treffen, um sicherzustellen, dass wir nicht zur Normalität zurückkehren werden.
Anmerkungen
[1] Die Fünf-Sterne-Bewegung (italienisch: Movimento 5 Stelle, M5S) ist eine politische Partei in Italien. Bei den Parlamentswahlen 2018 wurde die M5S zur größten Einzelpartei im italienischen Parlament und trat in die Regierung ein. https://en.wikipedia.org/wiki/Five_Star_Movement
[2] NASPI ist der Name eines Programms zur Arbeitslosenunterstützung in Italien. Um Anspruch auf NASPI zu haben, müssen man in den 4 Jahren vor Beginn der Arbeitslosigkeit mindestens 13 Wochen beim Nationalen Institut für Soziale Sicherheit (INPS) versichert gewesen sein, und mindestens 30 Tage dieser Arbeitsversicherung müssen in den letzten 12 Monaten vor der Entlassung abgeschlossen worden sein. https://www.a-kasser.dk/unemployment-insurance-in-europe/italy/
[3] Die Anhänger*innen der 5-Sterne-Bewegung werden pentastellato genannt.
[4] Die Demokratische Partei (italienisch: Partito Democratico, PD) ist eine sozialdemokratische politische Partei in Italien. Seit September 2019 ist die Partei Teil des Kabinetts Conte II, in einer Koalition mit der Fünf-Sterne-Bewegung. Die Partei führt auch sieben Regionalregierungen. https://en.wikipedia.org/wiki/Democratic_Party_(Italien)
[5] No Tav ist die Bezeichnung für eine populäre italienische Grasswurzelbewegung, welche in den frühen 90er Jahren entstanden ist. Sie umfasst eine große Zahl von Menschen, die gegen Hochgeschwindigkeitsbahnprojekte in Italien kämpfen, und inspirierte auch Aktivist*innen, Vereinigungen und Volksversammlungen im Ausland. https://www.infoaut.org/english/a-short-intro-to-the-no-tav-movement
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