
Es folgt ein Interview mit Raoul Vaneigem, dessen Original in französischer Sprache in der belgischen Zeitung Le Soir veröffentlicht und vom uns übersetzt wurde.
Ursprünglich veröffentlicht von Le Soir. Übersetzt von Enough 14.
Die Menschheit ist dabei auszusterben, damit eine Wirtschaft überleben kann, in der sich das wahnsinnig gewordene Geld rund um die Uhr dreht und sich ihr eigenes Grab schaufelt.
Raoul Vaneigem
Die elementaren Wurzeln von Raoul Vaneigem
In was für einem Umfeld bist du aufgewachsen? Hat deine Kindheit den Weg für den Rest deiner Reise geebnet?
Meine Kindheit spielte sich in Lessines ab, einer kleinen Arbeiterstadt [in Belgien].[1] Die Steinbrüche bestimmten die Elendsviertel, in denen ich lebte, ganz im Gegensatz zu den schönen Orten, die hauptsächlich von der Bourgeoisie bewohnt wurden. Zu jener Zeit wurde das Klassenbewusstsein sozusagen durch die Sirenen unterstrichen, welche zu bestimmten Zeiten den Beginn und das Ende der Arbeit, Pausen und Unfälle signalisierten. Mein Vater, ein Eisenbahnarbeiter, bedauerte, dass er es aus Mangel an finanziellen Mitteln nicht vermochte, ein Universitätsstudium zu absolvieren. Er träumte von einem besseren Schicksal für mich, aber nicht ohne mich vor jenen zu warnen, die durch den Aufstieg auf der sozialen Leiter zu „Verrätern ihrer Klasse“ wurden. Ihm verdanke ich jene Vorbehalte, welche ich schon früh gegenüber der Rolle der Intellektuellen – Führer, Tribune, Chefdenker – hatte. Die Ablehnung, die heute angesichts des Niedergangs der sogenannten „Eliten“ spürbar ist, bestätigt die Berechtigung meines Widerwillens. In La liberté enfin s’éveille au souffle de la vie,[2] zeige ich auf, wie und warum die Herrschenden immer dämlicher werden. Wer sich einen Schritt zurückzieht von der Drangsalierung der Medienlügen, kann folgendes leicht verifizieren: Die intellektuelle Intelligenz nimmt mit zunehmender Macht ab, und die vernünftige Intelligenz schreitet in Gesellschaft dessen, was wirklich menschlich ist, voran.
Ich habe den Freuden des Wissens, der Erforschung und der Verbreitung des erworbenen Wissens immer einen hohen Stellenwert eingeräumt. Ich sehe die Neugierde – neben Liebe, Schaffen und Solidarität – als jene leidenschaftlichen Anziehungskräfte, die für den Aufbau eines menschlichen Wesens am allerwichtigsten sind. Aber genau diese werden nach wie vor von einem System erstickt, das „Bildung“ schamlos als die Mentalität des „Geh mir aus dem Weg“ bezeichnet, in welcher der wettbewerbsorientierte Markt seine Sklaven heranzieht.
Ich bin in überhaupt nichts ein Experte.[3] Mein Mouvement du libre esprit [4] entspricht dem Wunsch, sich näher mit dem Mittelalter zu befassen, dem Historiker etwas vorschnell eine allgemeine Anhänglichkeit an den christlichen Glauben zuschreiben. My Résistance au christianisme [5] antwortet auf die spielerische Beschäftigung, die mir schon immer Freude bereitete, „von Gott unberührt“ zu sein, wie es Prévert so schön formulierte. [6] Die beste Kritik über diesem liebenswürdig subversiven Zeitvertreib kommt von den „Gelb-Westen“ [7], die ganz zu Recht der Ansicht sind, dass existentielle und soziale Kämpfe wichtiger sind als solche Kleinigkeiten wie religiöse, politische und philosophische Meinungen.
Du bist auch eine Inspiration für Generationen von Menschen, die sich auf der Suche nach einer anderen Gesellschaft befinden. Wie und wann hast du diesen Weg eingeschlagen? Woher kommt deine radikale Perspektive?
Ohne eine Kindheit in einem eher festlichen familiären Umfeld zu idealisieren (“ Nur weil du arm bist, heißt es nicht, dass du ärmlich leben musst! „, pflegte mein Vater zu sagen), hatte ich den paradoxen Eindruck, dass diese freundliche Zuneigung, die mir so viele Qualen ersparte (abgesehen von dem allgegenwärtigen Schuldgefühl), mich auch in direkten Kontakt mit den grausamen Bedingungen brachte, welche die Männer, Frauen, Kinder und Tiere um mich herum überfielen. Und zwar so gut, dass der Zorn über Ungerechtigkeit und Barbarei an die Stelle der Auflehnung gegen die elterliche Autorität trat, welche sich während der Adoleszenz verstärkt. Mein Vater hat nie versucht, mich zum Schweigen zu bringen, indem er sich auf seine Macht berief oder einen Mangel an Respekt zeigte, wenn ich ihn in unseren stürmischen politischen Diskussionen als „Sozialdemokrat“ bezeichnete.
Welche Begegnungen waren in deinem Leben prägend? Und warum?
Zweifellos jene, die, als sie auf fruchtbarem Boden landeten, auf ein existentielles Bedürfnis reagierten, auf eine Lücke, die es zu füllen galt. In keiner bestimmten Reihenfolge: Zolas Germinal, Zweigs Le combat avec le démon, Nietzsche, Marx, Hölderlin, Shelley, Nerval, Jarry, Artaud und der Surrealismus. Später: Voline, Coeurderoy, Ciliga, Ida Mett, Victor Serge, Montaigne und Jan Valtin. Und schließlich: Fourier.[8]
Wer waren deine Mitreisenden, die dir wertvolle Perspektiven gegeben haben? Wie etwa Siné, [9] der auf seine Weise lange Zeit deine Vorstellungen teilte?
Henri Lefebvre, Guy Debord, Attila Kotànyi und Mustapha Khayati. Ich kannte Siné nicht sehr gut, aber ich schätzte seinen unnachgiebigen Kampf gegen die „Idiotenmacher-Maschine“ (welche vom Nationalsozialismus und Stalinismus so hervorragend geölt wurde), die heute unter Volldampf läuft.
Kannst du Beispiele von Menschen nennen, von denen du denkst, dass sie eine Inspiration für alle sein könnten? Zum Beispiel: Subcommandante Marcos (heute Galeano), welcher ein Sprecher (und kein Anführer) der zapatistischen Bewegung war? Oder Noam Chomsky, der mit dir die Doppellaufbahn eines politisch engagierten Intellektuellen teilt? Oder Greta Thunberg, welche sich auf lokaler Ebene gegen die Zerstörung unserer Ökosysteme aufgelehnt hat?
Es sind keine wertvollen Lehren zu ziehen, wenn die Menschen nicht zuallererst den Personenkult abschaffen. Die Zapatistas haben es nie versäumt, die Menschen daran zu erinnern, dass sie kein Modell, sondern ein Experiment sind. Ich habe die Schriften Chomskys nie gelesen. Ich weiß nicht, welchen kapitalistischen Manipulationen im Green-Dollar-Bereich Greta Thunberg ausgesetzt war, aber die verschiedenen Beleidigungen, die Jugendlichen entgegengeschleudert wurden, welche die Erde retten und aus dem Griff des Profitstrebens befreien wollen, haben gezeigt, wie sehr die Rückgratlosigkeit diejenigen getroffen hat, die sich rühmen, Intellektuelle oder sogar – das ist der Gipfel der Lächerlichkeit – Philosophen zu sein. Meistens halten sich Soziologen mit offiziellen Einschätzungen auf, während sie gleichzeitig die sie umgebende Poesie, welche versucht, die Welt zu verändern, verachten. Verehrter junger Marx, Du, der Du schriebst: „Die Philosophen haben die Welt nur interpretiert, jetzt geht es darum, sie zu verändern!‘‘ Ich fühle mich in besserer Gesellschaft mit den Aufständischen des alltäglichen Lebens, die, so konfus sie auch sein mögen, überall auf der Welt für Veränderungen agitieren. Unter ihnen wächst eine neue Denkweise. Sie wird ihre radikale Neuartigkeit in die Denkweise und die Gewohnheiten der Menschen einprägen, solange sie an ihren Grundprinzipien festhält: keine Führer, keine selbsternannten Vertreter, keine politischen oder gewerkschaftlichen Maschinen; Selbstorganisation und absolute Priorität für Menschlichkeit und Solidarität.
Wie bist du zu einem einflussreichen Mitglied der Situationistischen Internationale geworden? Hat dich der Wonnemonat Mai [1968] sehr überrascht?
Es war Henri Lefebvre, an den ich geschrieben hatte, der mich mit Guy Debord in Kontakt gebracht hat.[10] Überrascht von Mai? Nein. Zufrieden? Glücklich? Ja! Die [französische] Revolution von 1789 ist nicht aus dem Denken der Aufklärung entstanden, aber es ist unbestreitbar, dass Menschen wie Diderot, Rousseau und Voltaire der aufständischen Entfaltung nicht völlig fremd waren. Wenn die von der Situationistischen Internationale ausgearbeitete Kritik einfach mit einer historischen Wende zusammenfiel, in der der Kapitalismus im Konsumismus eine neue Profitquelle entdeckte, so ist es andererseits unbestreitbar, dass Debords Société du spectacle, Khayatis De la misère en milieu étudiant und mein Traité de savoir-vivre à l’usage des jeunes generations [11] einen Einfluss auf die Besetzungsbewegung vom Mai 1968 hatten, die sich klandestin weiter ausbreitete. Den seit Jahrtausenden als unveränderlich geltenden „Wahrheiten“ wurde der Todesstoß versetzt: hierarchische Macht, Respekt vor der Autorität, das Patriarchat, Angst und Verachtung gegenüber Frauen, Hass auf die Natur, Verehrung des Militärs, religiöser und ideologischer Gehorsam, Konkurrenz, Rivalität, Raub, Opfer und die Notwendigkeit von Arbeit. Seitdem hat sich eine Idee durchgesetzt: Das wirkliche Leben darf nicht mit dem Überleben verwechselt werden, welches das Schicksal von Frauen und Männern auf dasjenige von Last- und Raubtieren reduziert.
Du hast mit der Situationistischen Internationale gebrochen, indem du ihr offenkundiges Versagen bei der Umgestaltung der Gesellschaft festgestellt hast, aber auch, um deinerseits „deine Kohärenz absolut wiederherzustellen“.[12] Wie hast du diese politischen Spaltungen auf persönlicher Ebene erlebt? Welche Lehren hast du für den Kampf gezogen?
Der Triumph der konsumeristischen Kolonialisierung und das Scheitern unseres Projekts einer generalisierten Selbstverwaltung waren sehr schwierig. Die Verzweiflung bekräftigte ihren Griff [13], und eine große Zahl von Feinden der Ware wurde zu ihren Anhängern. Diese Erfahrung hat mich von allen politischen Verpflichtungen, von jeder Beteiligung in Gruppen abgeschreckt. Die konsumeristische Kolonialisierung untergrub gewiss das radikale Denken, aber das Leben selbst hörte nicht auf, seine Rechte überall auf der Welt geltend zu machen. Die Verarmung, welche sich allerorts ausbreitet, bedroht diesen Zustand des Wohlbefindens, der, wie die Realität der Kaufkraft zeigt, nur durch die Beharrlichkeit des Lügens aufrechterhalten werden kann. Ich zähle darauf, dass das Leben, das in jedem Menschen vorhanden ist, ein Erwachen des Bewusstseins entfacht, die Individuen von ihrem idiotischen Individualismus befreit und ihnen die Intelligenz zurückgibt, welche jeden einzelnen Menschen zu einem zusammenhängenden – ganz einfach: menschlichen – Wesen macht.
Als Genießer lobst du die „feine Faulheit „[14] und prangerst die Entfremdung der Lohnarbeit an. Dennoch veröffentlichst du, als gäbe es kein Morgen.
Ich bin kein Hedonist (die Ideologie des Vergnügens ist eine Verfälschung davon). Ich gehöre nicht dem Kult des Schreibens an. Ich weiß nichts über eine Schreibblockade; ich fürchte nur darum, dass ich eine Idee nicht niedergeschrieben habe, die ich möglicherweise vergessen könnte. Ich schreibe nur aus einer inneren Notwendigkeit heraus, um weitere Gedanken voranzutreiben, die vielleicht am Erwachen des menschlichen Bewusstseins teilhaben können, welches durch den großen weltumspannenden Zorn der Menschen gefordert wird.
Du hast dich immer für die uneingeschränkte Freiheit der Äußerung gegenüber jeglicher Zensur eingesetzt. Die tragischen Ereignisse in Europa (das Attentat auf Charlie,[15] aber auch die jüngste Ermordung eines Professors in Frankreich[16] zeigen, dass das Recht auf Blasphemie nicht mehr so gewährleistet ist wie früher (auch wenn viele den Preis dafür bezahlt haben). Was meinst du dazu?
Blasphemie hat nur für einen religiösen Geist irgendeine Bedeutung. Religion war schon immer das Herz in einer herzlosen Welt. Wenn der soziale Kampf das lebenswichtige Organ einer radikal neuen Gesellschaft zum Schlagen gebracht hat, werden wir den Zusammenbruch des Christentums erleben, das früher so mächtig war. [17] Die Liquidierung des Klassenbewusstseins, die durch die gewerkschaftliche und politische Bürokratisierung der Arbeiterbewegung und insbesondere durch die Flutwelle des Konsumismus verursacht wurde, hat zugelassen, dass sich das schlimmste Gift der Welt – das Geld – im Herzen der Gesellschaft eingenistet hat. So wie das Christentum vom Zerfall der römischen Religionen profitierte, hatte der Islam keine Probleme damit, die Trümmer des Christentums aufzusammeln. Keine noch so große Repression wird dem ein Ende bereiten. Der einzige Weg, seinen tödlichen Griff zu zerstören, ist die Rückkehr zu jenen Lebenden, welche die existenziellen und sozialen Aufstände mit sich bringen. In den Kämpfen des zivilen Ungehorsams zählen weder Haut- noch Haarfarbe, weder Geschlecht noch Glaubenssysteme.
Wir durchleben eine bedeutende Krise der öffentlichen Gesundheit. Welche Vorkehrungen hast du selbst getroffen? Verstehst du die [Gründe für die] Einschränkung einiger unserer Freiheitsrechte in diesem Zusammenhang? Bist du der Meinung, dass diese [Pandemie] eine koordinierte, zentralisierte Aktion des Staates erfordert, was ja häufig von Anarchisten kritisiert wird?
In L’insurrection de la vie quotidienne,[18] verweise ich auf die Möglichkeit einer Selbstverteidigung des Gesundheitswesens.[19] Ein Vertrauensverhältnis zwischen Patienten und Pflegepersonal, das sich technischer Mittel bedient, wird die Angst beseitigen, die mehr tötet als das Virus. [20] Diese Panik, die heute durch die Methodik von Goebbels verbreitet wird,[21] erlaubt es dem Staat, Big Pharma [22] und seine Aktionäre auf Kosten der öffentlichen Gesundheit, der Bildung und des Gemeinwohls (unserer res publica) zu bereichern. Die Menschheit ist dabei auszusterben, damit eine Wirtschaft überleben kann, in der sich das wahnsinnig gewordene Geld rund um die Uhr dreht und sich ihr eigenes Grab schaufelt.
Bist du dir des Umbruchs in den Ökosystemen bewusst, und wie erklärst du dir, dass es so lange dauert, bis sich unser Verhalten ändert?
Wie würdest du es finden, wenn die Staaten und die multinationalen Konzerne, für die das Leben im Hinblick auf den unmittelbaren Profit nichts bedeutet, sich mit den [Veränderungen des] Klimas befassen würden? Die verbitterte Passivität derer, die angesichts ihres Schicksals resignieren, ist noch viel schlimmer als die Tyrannei ihrer Herrschenden. Wir haben gesehen, was Nuit Debout, die Indignados in Spanien und die Anti-Austeritäts-Bewegung in Griechenland hervorgebracht haben. [23] Es gibt keine andere Lösung als die Rückkehr zu den grundlegenden Dingen. Die [sich weiter verschlechternden] Existenzbedingungen, die wirtschaftliche und bürokratische Verwüstung, die Vergiftung von Lebensmitteln und die Entmenschlichung der Bevölkerung sind zu den Motoren eines allgemeinen Aufstands geworden (auch wenn er nur zeitweise auftritt). Echte Demokratie wird von lokalen Initiativen ausgehen, welche global föderalisiert sind. Ich verweise den Leser auf meine Analyse der ZAD[24], die ich in meinem Beitrag zum „Contribution à l’émergence de territoires libérés de l’emprise étatique et marchande“ entwickelt habe. [25] Wir wurden immer zur Vernunft nach der Logik der Makro-Gesellschaft gedrängt. Für die Verdinglichung des Marktes gibt es das Subjekt nicht. Zahlen sind tote Objekte. Heute erwacht die Subjektivität wieder zum Leben [s’ébroue]. Wichtig ist, dass ich den Wunsch habe, zu leben, und dass ich täglich gegen das kämpfe, was mich daran hindert. Es ist nicht die Zahl von Protestierenden, die ihre Kraft schafft, sondern die vernünftige Intelligenz, die unter den Einzelnen fortschreitet, sie eint und sie von populistischer Verblödung fernhält, jenem Individualismus, der Menschen zu Idioten macht und einen Sündenbock sucht, um ihre Frustrationen zu lindern.
Die feministische Bewegung hat sich in den letzten Jahren stark weiterentwickelt. Was denkst du darüber? [26]
Es hat lange gedauert, dies zu verstehen: Die Befreiung der Frauen und die Wiederherstellung der Natur sind untrennbar miteinander verbunden. Es wird an der neuen Gesellschaft, die langsam aus der Versenkung hervor kommt, liegen, die Konfrontation zwischen der ultimativen Arroganz des versagenden Patriarchats und einem Feminismus, der, von blindem Rachegelüsten motiviert, die Rechte auf die schlimmsten Vorrechte der Männer für sich beansprucht, zu überwinden. Stellen wir uns folgendes vor: Wir feiern den wunderbaren Sieg von Thatchers Mob! Die wundervolle Emanzipation [einer Frau], die Regierungsministerin, Polizeipräfektin, Soldatin, Polizistin, Folterknechte und Geschäftsfrau geworden ist! Der Mensch ist die Zukunft von Männern und Frauen; er ist die Überwindung [des Gegensatzes zwischen] Maskulinismus [Virilismus] und Feminismus.
Was ist deine Meinung bezüglich Belgien? Bedeutet dieses schwer regierbare Land etwas für dich? Wie siehst du dessen Zukunft?
Ich weigere mich, mich mit einer geographischen Einheit zu identifizieren.[27] Es ist mir egal, ob ich Belgier oder Irokese bin, aber ich war bewegt von der Belgierin, die auf die Frage nach den Auswirkungen der Gefangenschaft und der Schließung von Bars [um die Ausbreitung von Covid-19 zu verlangsamen],[28] sagte, sie sei empört, weil „es eine ganze Lebensweise ist, die zerstört wird. „[29] Ich liebe belgische Fritten; ich genieße ein Westmalle Tripel, ein Bush, ein Rochefort, ein St. Feuillien Grand Cru;[30] ich hänge sehr an meinem Picard-Dialekt. Ich habe nichts mit jenen Schafen gemein, die im Namen „Belgiens“ weiterhin ihre Schlachter wählen. Das was die Freude am Leben tötet, ist die Freude am Aasschmaus.
Du wendest dich in deinem Schreiben häufig an junge Menschen. Welche Vorschläge hast du heute für einen jungen Menschen (sagen wir 16 Jahre alt)?
Lernt zu leben, nicht zu kriechen wie ein Hund, dem man Befehle erteilt. Weigert euch, die freiwillige Knechtschaft anzuerkennen, experimentiert mit Gesellschaftsformen, in denen es nicht mehr nötig ist, sich für eine Handvoll Dollar erniedrigen zu lassen. [31] Aber welches Recht habe ich, Ratschläge zu geben, und warum sollten gerade ihr euch daran halten, wenn ihr den Wunsch, so zu leben, nicht in euch verspürt?
Eine belgische Theatergruppe, das „Raoul Collectif“[32], erhebt heute Anspruch auf deinen Namen (und dein Erbe). Was hältst du davon?
Es ist ein Zeugnis der Freundschaft und Komplizenschaft, welches den Menschen hilft, zu leben. Nach und nach schaffen solche verstreuten Elemente das Projekt gegenseitiger Hilfe, von welchem Kropotkin träumte.[33]
Gramsci sagte einmal: „Die alte Welt stirbt, die neue Welt taucht nur langsam auf, und in diesem Halbdunkel kommen Ungeheuer hervor“[34] Wie kann man ihnen ausweichen?
Wir befinden uns inmitten eines zivilisatorischen Wandels; die alte Zivilisation stirbt, die neue wird geboren, wobei sie sich vor dem Neuen fürchtet. Die Ungeheuer werden verschwinden, wenn wir die Furcht, die ihnen ihre wahre Substanz verleiht, vertreiben.
Schließlich bitten wir die Personen, die wir interviewen, in der Regel darum, uns etwas zum Lesen zu empfehlen. Was schlägst du vor?
Immer wieder und immer wieder (vor allem, wenn es darum geht, seine Ideen in die Tat umzusetzen), La Boétie’s Discours de la servitude volontaire.[35] Aber die beste Lektüre, die schwierigste und fesselndste, bleibt das Lesen seiner selbst.
Fußnoten
[1] Mehr über Vaneigems Kindheit findt sich in Rien n’est fini, tout commence (Editions Allia, 2014), übersetzt von NOT BORED! als Selbstportraits und Karikaturen der Situationistischen Internationale (Colossal Books, 2015): http://www.notbored.org/caricatures.pdf.
[2] La liberté enfin s’éveille au souffle de la vie, veröffentlicht von Le Cherche Midi (2020), noch nicht ins Englische übersetzt.
[3] Nach der französischen Version von Wikipedia ist Vaneigem ein „Médiéviste“ und „spécialiste des hérésies“. Er hat in der Tat drei Bücher über das letztere Thema geschrieben: Les Hérésies (PUF, Sammlung „Que sais-je“, 1994), sowie die beiden anderen Bücher, die er erwähnt.
[4] Mouvement du libre esprit généralités et témoignages sur les affleurements de la vie à la surface du Moyen Âge, de la Renaissance et, incidemment, de notre époque (Ramsay, 1986). Übersetzt von Randall Cherry und Ian Patterson als Movement of the Free Spirit: General Considerations and Firsthand Testimony Concerning Some Brief Flowerings of Life in the Middle Ages, the Renaissance and, Incidentally, Our Own Time (Zone Books, 1998).
[5] Résistance au christianisme: Les heresies des orgines au XVIIIe siècle (Fayard, 1993). Übersetzt von NOT BORED! Als Resistance to Christianity: A Chronological Encyclopedia of Heresy from the Beginning to the 18th Century: http://www.notbored.org/resistance.html.
[6] Jacques Prévert war ein französischer Dichter (1900-1977). „J’ai toujours été intact de Dieu“ ist der Titel eines seiner Gedichte.
[7]Vgl. Raoul Vaneigem, „Tout est possible, même les assemblées d’autogestion“, übersetzt von NOT BORED! als “Concerning the ‘Yellow Vests’: Everything is Possible, Even Self-managing Assemblies” (2018): http://www.notbored.org/yellow-vests.pdf.
[8] Bemerkenswert ist die Abwesenheit von Sade, der einst in Vaneigems Werk eine wichtige Rolle spielte. Siehe zum Beispiel folgende Äußerung in The Revolution of Everyday Life (1967): „Es ist höchste Zeit, dass Revolutionäre Sade mit der gleichen Sorgfalt lesen, mit der sie Marx lesen“.
[9] Maurice Sinet, französischer Künstler und Karikaturist (1928-2016).
[10] Vgl. den Brief von Guy Debord an Raoul Vaneigem vom 31. Januar 1961: http://www.notbored.org/debord-31January1961.html.
[11] Ins Englische übersetzt als „The Society of the Spectacle“, „On the Poverty of Student Life“ und „The Revolution of Everyday Life“, von zahlreichen unterschiedlichen Übersetzern. In deutscher Übersetzung* erschienen als „Handbücher der Lebenskunst für die jungen Generationen“(https://schmecks.noblogs.org/files/2012/07/handbuchderlebenskunst.pdf)„ Die Gesellschaft des Spektakels“, (http://www.copyriot.com/sinistra/reading/theorie/spektakel.pdf) „Über das Elend im Studentenmilieu“ (https://www.copyriot.com/diskus/02_04/09_elend.html)
[12]Siehe Vaneigems Rücktrittsschreiben vom 14. November 1970, veröffentlicht in Situationist International, The Real Split in the International (1972): http://www.notbored.org/resignation.html. Für Debords vernichtende Antwort siehe seinen Brief an die verbliebenen Mitglieder der SI vom 9. Dezember 1970: http://www.notbored.org/debord9December1970.html.
[13] 1974 wählte Vaneigem ein Pseudonym („Ratgeb“), als er De la grève sauvage à l’autogestion généralisée (Editionen 10/18) veröffentlichte, übersetzt von Paul Sharkey als From Wildcat Strike to Total Self Management (Bratach Dubh, 1981). Er veröffentlichte nichts unter seinem eigenen Namen bis 1979, als er Le Livre des Plaisirs (Encre) herausbrachte, das von John Fullerton als The Book of Pleasures (Pending Press, 1983) übersetzt wurde. Aber erst 1986, als er The Movement of the Free Spirit veröffentlichte, schien er endlich wieder auf den Beinen zu sein.
[14]. Vgl. Raoul Vaneigem, Éloge de la paresse affinée (Editions du Centre Pompidou, 1996), übersetzt von NOT BORED! Als “In Praise of Refined Laziness” (2006): http://www.notbored.org/laziness.html
[15]Am 7. Januar 2015 schossen zwei islamische Extremisten als Reaktion auf “ satirische “ Darstellungen Mohammeds, wie sie von Charlie Hedo veröffentlicht wurden, in die Büroräume des Magazins, töteten 12 Menschen und verletzten 11 weitere.
[16] Am 16. Oktober 2020 wurde ein französischer Mittelschullehrer namens Samuel Paty ermordet und dann von einem islamischen Extremisten enthauptet, der sich darüber empörte, dass der Lehrer seinen Schülern Mohammed-Karikaturen zeigte.
[17] Beide von den Interviewerinnen erwähnten Ereignisse betrafen Blasphemie gegen den Islam, nicht gegen das Christentum.
[18] L’insurrection de la vie quotidienne: Textes et entretiens (Grevis, 2020), noch nicht ins Englische übersetzt.
[19] Vgl. „Decretons l’autodefense sanitaire“, übersetzt von NOT BORED! mit „We Decree the SelfDefense of Our Health“ (2020): http://www.notbored.org/self-defense.pdf.
[20] Seit Februar 2020 sind mehr als 250.000 Amerikaner aufgrund von Covid-19 gestorben. Es gibt keine verlässlichen Statistiken darüber, wie viele Amerikaner aus Angst gestorben sind.
[21] Die klare Implikation hier ist, dass die Art und Weise wie die Coronavirus-Pandemie erzählt wird eine große Lüge ist.
[22] Englisch im Original.
[23] Nuit Debout („Nachts aufstehen“) war eine französische soziale Bewegung, die gegen das Arbeitsgesetz von El Khomri war (2016); die Indignados war eine spanische Anti-Austeritäts-Bewegung (2011-2015); und die Anti-Austeritäts-Bewegung in Griechenland war 2011-2012 aktiv. Alle endeten in einer Niederlage, vermutlich weil sie es versäumten, „diejenigen zusammenzubringen, die sich bereits mit ihrem Schicksal abgefunden haben“.
[24] ZAD ist die Abkürzung für „zones à défendre“ (zu verteidigende Zonen).
[25] Beitrag, à l’émergence de territoires libérés de l’emprise étatique et marchande: Réflexions sur l’autogestion de la vie quotidienne (Payot-Rivages, 2018), noch nicht ins Englische übersetzt.
[26]Anmerkung des Herausgebers Le Soir: Die Frage des Feminismus wurde aus der Papierversion entfernt und in die Online-Version [dieses Interviews] übertragen.
[27] Es scheint offensichtlich, dass Belgien ein „schwer zu regierendes Land“ ist, nicht wegen seiner Geographie, sondern weil es drei verschiedene Sprachgemeinschaften (Französisch, Flämisch und Deutsch) umfasst.
[28] Vgl. Jennifer Baker: „Belgien hat die europaweit höchste Covid-19-Infektionsrate. Was ist da so falsch gelaufen?“, veröffentlicht am 2. November 2020, NBC News: https://www.nbcnews.com/news/world/belgium-has-europe-s-worst-covid-19-infection-ratewhat-n1245738.
[29] Eine Suche nach dem Satz c’est tout un art de vivre que l’on détruit bringt nichts als Links zu eben diesem Text.
[30] Das sind alles belgische Biere.
[31] Englisch im Original.
[32] Diese Gruppe – fünf junge weiße Männer – wurde im Februar 2009 gegründet und von einer Regierungsorganisation (der Föderation Wallonie-Brüssel) finanziell unterstützt. Sie schreibt und spielt ihre eigenen Stücke. Sie scheinen sich nicht an gegenseitigen Hilfsprojekten zu beteiligen, zumindest werden keine auf ihrer Website beschrieben: http://www.raoulcollectif.be.
[33] Vgl. Peter Kropotkin, Gegenseitige Hilfe: Ein Faktor der Evolution, erstmals 1902 in russischer Sprache veröffentlicht.
[34] Antonio Gramsci, Gefängnis-Notizbücher, geschrieben auf Italienisch zwischen 1929 und 1935, posthum veröffentlicht.
[35] Etienne La Boétie war ein französischer Anarchist, Richter und politischer Philosoph (1530-1563). Sein Diskurs über die freiwillige Knechtschaft wurde posthum und klandestin veröffentlicht.
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