
Ab 2008 führte der belgische Staat umfangreiche Ermittlungen gegen verschiedene Kämpfe, die sich gegen Haftanstalten, Grenzen, Gefängnisse und die Welt der Autorität und Ausbeutung richteten, durch – immer ohne Zugeständnisse. Im Visier: die anarchistische Bibliothek Acrata, anarchistische und antiautoritäre Publikationen (Hors Service, La Cavale und Tout doit partir), Dutzende von Flugblättern und Plakaten, über hundert Aktionen, Angriffe und Sabotageakte… mit anderen Worten: der Kampf gegen die Herrschenden in all seinen verschiedenen Ausdrucksformen.
Ursprünglich veröffentlicht von La Lime Übersetzt von Riot Turtle.
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Ursprünglich waren 12 Genoss*innen wegen „Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung“ angeklagt. Nach einem langjährigen Prozess durch die juristische Vorhölle, verurteilte das Berufungsgericht schließlich 9 der Angeklagten im Jahr 2020 zu Haftstrafen auf Bewährung. Ein weiteres Gerichtsverfahren ist für 7 Genoss*innen noch anhängig, die Hauptanklage lautet „Anstiftung zu Verbrechen und Verfehlungen“.
Die guten alten Zeiten
Ende 2008, inmitten der diffusen Feindseligkeiten, die durch die Revolte in Griechenland nach der Ermordung des jungen Anarchisten Alexis Grigoropoulos durch die Polizei ausgelöst wurden, leitete die Bundesstaatsanwaltschaft eine Voruntersuchung ein, die sich gegen Anarchist*innen in Belgien richtete. Im Jahr 2010, als der Kampf gegen den Bau eines neuen Gefangenenlagers in Steenokkerzeel im Gange war, wurde die Untersuchungsrichterin Isabelle Panou mit der Leitung der Ermittlungen beauftragt. Von da an wurden die Ermittlungen von der Antiterrorabteilung der föderalen Polizei durchgeführt. Im Mai und im September 2013 fanden im Rahmen dieser Ermittlungen ein Dutzend Hausdurchsuchungen statt, die sich gegen verschiedene Wohnungen und die anarchistische Bibliothek Acrata in Brüssel richteten. Bei dieser Gelegenheit wurde erstmals die Existenz einer Antiterror-Ermittlung bekannt. Die Ermittlungen wurden 2014 abgeschlossen und gipfelten in der strafrechtlichen Verfolgung von zwölf Anarchist*innen vor Gericht.
Der rote Faden, der sich durch die Ermittlungen zieht – die nicht weniger als 32 Kisten voller Papiere hervorgebracht haben -, ist die Hypothese einer anarchistischen „Terrorgruppe“, die in Brüssel aktiv gewesen sein soll und deren Aktivitäten die Beschuldigten entweder „gefördert“ oder an denen sie „teilgenommen“ haben. So wird eine lange Liste von rund 150 Anschlägen (darunter zahlreiche Brandanschläge) gegen Herrschaftsstrukturen – Polizeistationen, Gerichte, Banken, Unternehmen, die von der Inhaftierung profitieren, Baustellen, Autos von Diplomaten, NATO-Mitarbeiter*innen und Eurokraten, Mobilfunkmasten usw. – in Brüssel und Umgebung zwischen 2008 und 2013 gesammelt. Aus den Akten geht hervor, dass nicht nur die föderale Polizei an den Ermittlungen beteiligt war, sondern auch die Staatssicherheit und der militärische Nachrichtendienst sowie verschiedene Antiterrorabteilungen der Polizei anderer europäischer Länder.
Nach den 6 Jahre dauernden Ermittlungen hatte der Bundesanwalt nicht weniger als 29 Anklagen formuliert. Neun Genoss*innen wurden beschuldigt, mehr oder weniger lange Zeit einer terroristischen Vereinigung angehört zu haben. Drei von ihnen wurden auch beschuldigt, die „Anführer*innen“ zu sein. Darüber hinaus wurden drei weitere Personen, die nach einem Anschlag auf die Polizeistation von Marolles (in Brüssel) festgenommen worden waren, beschuldigt, einen Tag lang dieser terroristischen Vereinigung angehört zu haben. Dieses übergreifende Thema wird durch spezifischere Anschuldigungen wie die Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration vor dem Haftzentrum 127bis in Steenokkerzeel (vom Staatsanwalt in „versuchte Brandstiftung“ umgewandelt) ergänzt, Vorbereitung und Beteiligung am Angriff auf die Polizeistation in Marolles (von der Staatsanwaltschaft als „terroristischer Akt“ eingestuft), Körperverletzung von Polizeibeamt*innen, Behinderung des öffentlichen Straßenverkehrs, Verursachung von Schäden verschiedener Art, Ladendiebstahl, Brandstiftung an Fahrzeugen von Gefängniswärter*innen im Gefängnis von Ittre, Anstiftung zu terroristischen Straftaten, usw. Es ist anzumerken, dass sich diese spezifischen Anschuldigungen jeweils gegen bestimmte Genoss*innen richteten – nicht jeder wurde wegen aller Vorwürfe angeklagt.
Die Gerichte im Staffelrennen
Nach einer Anhörung zur Legitimierung der im Rahmen dieser Untersuchung angewandten besonderen Ermittlungsmethoden – Beschattung, Abhören von Telefonen, Anbringen von Mikrofonen in einem Haus, heimliche Hausdurchsuchungen, Versuche der Infiltration, Anbringen von Überwachungskameras außerhalb von Häusern und in einem Fall innerhalb – wurde die Akte im Oktober 2015 an die Beratende Kammer weitergeleitet. Am 1. August 2017 entschied diese Kammer über die Weiterleitung des Falles an die Gerichte und über die Anklagepunkte die zurückgehalten werden sollten. Die Kammer hat den erschwerenden Umstand des Terrorismus gestrichen, soweit die Staatsanwaltschaft ihn einem konkreten Verbrechen zugeordnet hatte. Gleichzeitig stufte sie den Anklagepunkt der Beteiligung an einer „terroristischen Vereinigung“ in Beteiligung an einer „Vereinigung mit dem Ziel der Begehung von Verbrechen und/oder Vergehen“ um. Die Kammer ließ auch zahlreiche Anklagepunkte fallen, für die sie in den Akten keine ausreichende Begründung fand.
Die Verhandlung vor dem Strafgericht fand am 29. und 30. April 2019 statt. Zwei der Angeklagten waren im Gerichtssaal anwesend, weigerten sich aber, Fragen zu beantworten. Alle 12 Angeklagten wurden von Anwält*innen vertreten. Das Urteil erging am 28. Mai, Richter Keutgen entschied die Unzulässigkeit der Anklage gegen 9 der Angeklagten, da „die eingesetzten Ermittlungsmethoden den Rahmen des unbedingt Notwendigen und Zulässigen überschritten haben“ und „einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden“ für „ein faires Verfahren“ verursacht haben. In Bezug auf den Angriff auf die Polizeistation von Marolles wurden zwei Personen freigesprochen und eine Person wurde des Widerstands gegen die Festnahme für schuldig befunden, ohne dass sie verurteilt wurde, weil die angemessene zeitliche Dauer überschritten worden war. Einige Wochen später legte der Staatsanwalt Berufung gegen das Urteil ein (außer gegen die beiden Angeklagten, die vollständig freigesprochen wurden).
Am 8., 9. und 16. Oktober 2020 fand die Verhandlung vor dem Berufungsgericht statt. Nur ein Mitangeklagte(r) war anwesend und weigerte zu sprechen. Staatsanwalt Malagnini empfahl eine Haftstrafe von 3 bis 6 Jahren und forderte damit das Doppelte der Strafe, die er in der ersten Instanz gefordert hatte. Am 12. November verkündete Richter Van Der Noot (der im Gerichtssaal seine Feindseligkeit gegenüber dem Angeklagten nicht verborgen hielt) sein Urteil. Unter anderem wurden die Beschuldigungen im Zusammenhang mit der Demonstration in der Justizvollzugsanstalt Steenokkerzeel nicht bestätigt, noch sah der Richter eine kontinuierliche Organisation während des gesamten Untersuchungszeitraums (sondern verurteilte für die Zugehörigkeit zu einer Vereinigung zwischen den spezifischen Daten von Verbrechen oder Vergehen), noch erkennt er Anführer*innen an. Die Anschuldigungen, die er als hinreichend bewiesen ansieht, beruhen auf der „Gesamtheit der Indizien“ (Biografie des Angeklagten, der in der Umgebung gesehen oder beim Verlassen der Wohnung zu „ungewöhnlichen“ Zeiten gesehen wurde usw.) und oft ohne jegliche Beweise, die die Identifizierung der konkreten Urheber*innen ermöglichen würden. So wird aus der (vermuteten) Anwesenheit vor Ort eine „Mitwirkung an der Ermöglichung“ der Straftaten. Auf diese Weise führen mehrere Anklagen im Zusammenhang mit Demonstrationen und Baladen (unangemeldete gemeinsame Demonstrationen, bei denen Plakate geklebt, Flugblätter verteilt, Slogans gesprüht, Lieder gesungen werden usw.) zu Verurteilungen wegen Sachbeschädigung, Blockaden, bewaffneten Widerstands, Beleidigung von Eurokrat*innen usw. Auch die Schlägerei mit zwei Autofahrern und die Beschädigung ihrer Limousinen am Eingang zur „Internationalen Subversiven Buchmesse“ im Jahr 2011 führten zu Verurteilungen. Diese letztgenannten Verurteilungen sowie die Verurteilungen aufgrund von Graffiti („Eat the rich“, „Nique les proprios“ und „Niq le fric“) erhalten den erschwerenden Umstand, dass sie „durch Hass auf eine Person aufgrund ihres Vermögens motiviert“ sind.
Mehrere Anklagepunkte verjährten in den Monaten vor der Berufungsverhandlung, aber der Richter fand einen Weg, diese zu umgehen, indem er die Fristen aufgrund der Lockdown im Frühjahr verlängerte (auch wenn diese Verhandlung nicht durch den Zusammenhang mit Covid verzögert wurde). Je nach Schwere der Straftat wird den Verurteilungen der Zusatz „Vereinigung mit dem Ziel der Begehung“ entweder „Vergehen“ oder „Verbrechen“ hinzugefügt. Die fünf Genoss*innen, die nur wegen der ersten „leichteren“ Kategorie verurteilt wurden, erhielten jeweils eine Bewährungsstrafe über einen Zeitraum von 3 Jahren (wenn sie in diesem Zeitraum eine Straftat begehen, kann der nächste Richter auch eine Strafe für diese Vorstrafen aussprechen). Die Genoss*innen, die auch für die zweite Kategorie verurteilt wurden, werden zu Haftstrafen auf Bewährung verurteilt; zwei erhalten 10 Monate (5 Jahre auf Bewährung), einer erhält 8 Monate (5 Jahre auf Bewährung) und ein weiterer erhält 6 Monate (3 Jahre auf Bewährung). Diesen vier Genossinnen und Genossen werden während der jeweiligen Bewährungszeit auch bestimmte staatsbürgerliche Rechte entzogen: Beschäftigung im öffentlichen Dienst, Wählbarkeit, Wahlrecht. Der Genosse, der lediglich der „Vereinigung mit dem Ziel der Begehung von Verbrechen und/oder Vergehen“ und nicht der Begehung konkreter Straftaten angeklagt war, wird freigesprochen. Darüber hinaus werden Geldstrafen verhängt, und mehr als die Hälfte der Prozess- und Ermittlungskosten müssen übernommen werden. Der Staat wird etwas weniger als die Hälfte plus die Rechnung für die Telefonabhörungen zahlen, da diese nach Ansicht des Richters „keine Beweise lieferten, die zu Verurteilungen führten“ (die Kosten der Telekommunikationsunternehmen belaufen sich auf 92 000 Euro).
Eine weitere Wiederholung
In der Zwischenzeit wird ein weiteres Verfahren gegen 7 Anarchist*innen vor Gericht verhandelt. Dieser Fall ist das Ergebnis von Ermittlungen zwischen 2012 und 2015, die ebenfalls von derselben Antiterrorabteilung der föderalen Polizei durchgeführt wurden, diesmal jedoch unter der Leitung von Ermittlungsrichter De Coster. Der ursprüngliche Vorwurf der Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung wurde von der Staatsanwaltschaft fallen gelassen. Die verbleibenden Anklagepunkte sind „Anstiftung zu Verbrechen (Brandstiftung) und Vergehen (Sachbeschädigung)“, beide „ohne Folgen“, für 6 der Angeklagten und „Besitz von verbotenen Waffen“ (Pfefferspray und eine Steinschleuder) für alle 7. Nachdem der Fall vor der Anklagekammer (zur Genehmigung der Ermittlungsmethoden) und der Beratungskammer (die nichts an der Anklage änderte) verhandelt wurde, fand am 29. Mai 2020 eine erste Sitzung vor dem Strafgericht statt. Das flämischsprachige Gericht beschloss, den Fall an ein französischsprachiges Gericht zu verweisen (in Brüssel existieren beide parallel). Wir warten nun auf einen Termin für die erste Sitzung vor dem französischsprachigen Strafgericht.
La Lime – Solidaritätfonds aus Brüssel
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Acrata – Anarchistische Bibliothek
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