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Zur Verteidigung der anarchistischen Erinnerung: Einhundert Jahre seit dem Tod von Ricardo Flores Magón

Erklärung von Anarchist*innen im so genannten Mexiko, die zu einem Jahr der Aktivitäten zur Verteidigung und Weiterführung der inhaltlichen anarchistischen Erinnerung an Ricardo Flores Magón, einhundert Jahre nach seinem Tod, aufrufen.

Ursprünglich veröffentlicht von  Its Going Down. Übersetzt von Riot Turtle.

Lasst jeden Mann und jede Frau, die die Freiheit und das anarchistische Ideal lieben, es mit Entschlossenheit, mit Beharrlichkeit, ohne Rücksicht auf Gespött, ohne Abwägung der Gefahr, ohne Rücksicht auf die Folgen propagieren; lasst uns an die Arbeit gehen, Genoss*innen, und die Zukunft wird unser anarchistisches Ideal sein

Ricardo Flores Magón

Am 21. November 1922 wurde der Anarchist Ricardo Flores Magón in einer Gefängniszelle in Leavenworth, Kansas, in den Vereinigten Staaten ermordet. Hundert Jahre nach seiner Ermordung durch Handlanger der US-Regierung hat die offizielle Geschichtsschreibung versucht, das Leben und den Kampf von Flores Magón und der Liberalen Partei Mexikos (PLM) zu beschönigen und ihn als „Vorläufer“ der so genannten „mexikanischen Revolution“ und als Vertreter des Reformismus von Francisco I. Madero darzustellen. Sie haben versucht, Ricardo Flores Magón als einen Journalisten und liberalen Schriftsteller darzustellen, der gegen die Diktatur von Porfirio Díaz gekämpft hat, und haben versucht, seinen revolutionären und anarchistischen Charakter auszulöschen, um seine Figur wiederzugewinnen und sie als politisches Kapital zu nutzen.

Ricardo Flores Magón war gegen jeglichen Caudillismo und Personenkult. Er lehnte den Spitznamen „Magonismo“ für die Anarchist*innen der PLM energisch ab und behauptete, dies sei ein von der Regierung benutzter Begriff, um die Leute glauben zu machen, es handele sich um eine weitere Bewegung wie den „Maderismo“. Der Begriff wurde nicht nur von Ricardo Flores Magón abgelehnt, sondern auch von den Männern und Frauen der PLM: „Als Anarchist*innen haben wir keine Idole„, sagten sie. Heute versuchen die Herrschenden, den Begriff „Magonismo“ zu verwenden, um die Menschen zu verwirren und zu vermeiden, die PLM und Flores Magón als das zu bezeichnen, was sie waren: Anarchist*innen. Wenn es ihren Interessen dient, verschweigen sie, wofür diese Anarchist*innen wirklich gekämpft haben und wofür sie ihr Leben geopfert haben: die Abschaffung von Privateigentum, Kirche und Staat.

Ricardo Flores Magón war ein überzeugter Anarchist und kämpfte sein ganzes Leben lang gegen das, was er die dunkle Dreifaltigkeit nannte: Autorität, Kapital und Klerus. Aus diesem Grund erlebte er Verfolgung, Exil und Gefangenschaft. Doch sein unzerbrechlicher Geist spürte eine so große Leidenschaft für die Freiheit, dass keine der ihm zugefügten Qualen die Flamme, die in seiner Brust brannte, zu löschen vermochte. Gemeinsam mit anderen Männern und Frauen setzte er sich für eine soziale Revolution von unten ein. Eine Revolution, die nicht darauf abzielte, einen neuen Tyrannen an die Macht zu bringen, sondern die Grundlagen des kapitalistischen Herrschafts- und Ausbeutungssystems zu zerstören, damit die rote Fahne des kollektiven Landbesitzes und der Freiheit hoch und frei wie der Wind wehen konnte, für alle.

Mit der Ankündigung der sogenannten Vierten Transformation (4T), das Jahr 2022 zum Jahr von Ricardo Flores Magón zu erklären, betonen wir als anarchistische Individuen und Kollektive, dass die Erinnerung an Magón und die PLM nicht durch die grotesken Morgennachrichten-Spektakel von López Obrador wiedergewonnen werden kann. Im Gegenteil, wir bekräftigen, dass die Erinnerung an die PLM Teil der Geschichte der Kämpfe der Bevölkerung für ihre Emanzipation und Freiheit ist. Es ist die Geschichte von Ricardo und Enrique Flores Magón, von Librado Rivera, Práxedis Guerrero, Anselmo Figueroa, des Indigenen Mayo Fernando Palomares, des Indigenen Yaqui Javier Huitimea, von Hilario Salas, vom mythischen Santanón, von Cándido Donato Padua, Blas Lara, Emilio Guerrero, von den indigenen Tarahumara Camilio Jiménez, vom unermüdlichen Nicolás T. Bernal, von Joe Hill, Jack Mosby und den Wobblies, von den Compañeras Margarita Ortega, Maria Talavera, Teresa Brousse, Concha Rivera, von Francisco Mendoza, von Jesús Rangel, von der Zeitung Regenaración, von den mutigen PLM-Guerillakämpfer*innen, vom Streik in Río Blanco, in Cananea, von den Aufständen in Acayucan, Las Vacas oder Palomas. Es ist die Geschichte von Tausenden von aufständischen Frauen und Männern, die in den Reihen der PLM für die Freiheit und die Erneuerung der Gemeinschaft gekämpft haben.

Es ist die Erinnerung an die Arbeiter*innen auf dem Land und in der Stadt, die für die Beendigung der wirtschaftlichen Ausbeutung gekämpft haben. Es ist die Erinnerung an unsere gefallenen Mitstreiter*innen wie Tobi, Ruffo, Sacra und so viele andere, die ihr Leben für eine freie Welt gaben, an Männer und Frauen, die Grenzen und Fahnen abschaffen wollten, an jene, die davon träumten, Knäste, Polizei und Militärs zu zerstören. Es ist das Gedenken an diejenigen von uns, die Feinde aller Staaten, allen Autoritarismus und jeglicher Hierarchie sind.

Aus all diesen Gründen laden wir anarchistische Kollektive, Organisationen und Einzelpersonen ein, sich an den Aktivitäten zur Verteidigung des anarchistischen Gedächtnisses: 100 Jahre nach dem Tod von Ricardo Flores Magón zu beteiligen, die am 7. Januar 2022, Jahrestag des Streiks in Río Blanco beginnen, bis zum 30. Dezember 2022, dem 112. Todestag von Práxedis G. Guerrero.

Es ist nicht unsere Absicht, dem Buch der Heiligen der Linken ein weiteres Datum hinzuzufügen. Es gibt bereits zu viele Märtyrerinnen und Heldinnen. Unser Bestreben ist es, das anarchistische Gedächtnis zu retten, es zu kennen, zu erinnern, zu studieren, zu verkünden und zu verbreiten, um die Geschichte des anarchistischen Kampfes durch Aktion weiterzuschreiben. Zu diesem Zweck laden wir alle Anarchist*innen, die stolz darauf sind, welche zu sein, ein, Foren, Diskussionen, Buchpräsentationen, Studiengruppen, Kunstausstellungen, Filmvorführungen, Radioprogramme, Kundgebungen, Versammlungen, Demonstrationen, Mobilisierungen und alles zu organisieren, was uns hilft, die Erinnerung, unsere Erinnerung, in eine anarchistische Waffe gegen alle Tyrann*innen und Unterdrücker*innen zu verwandeln. Der Kampf um unser Gedächtnis ist ein weiterer Bereich des Kampfes gegen unsere Unterdrücker*innen und wir sind bereit, ihn zu führen.

Heute wie gestern werden die Ausbeuter*innen mit Blut und Feuer an der Macht gehalten. Wie alle Autoritäten setzt auch die so genannte Vierte Transformation (4T) Gewalt und Repression ein, um ihre Politik und Megaprojekte durchzusetzen, und sie hat zu keinem Zeitpunkt gezögert, jeden zu verfolgen, zu ermorden und zu inhaftieren, der sich ihr widersetzt. Dies ist der Fall der sieben Compañeros der Gemeindeversammlung von Eloxochitlán de Flores Magón in der Sierra Mazateca von Oaxaca, dem Geburtsort von Ricardo, die seit über sieben Jahren im Gefängnis sitzen, weil sie die Autonomie ihrer Gemeinde aufrechterhalten und sich mit Hartnäckigkeit und Mut den ständigen Angriffen der Besitzer*innen von Geld und Macht widersetzen.

Während die so genannte Vierte Transformation (4T) dem Erbe von Ricardo Flores Magón huldigt, verstärkt sie weiterhin die kapitalistische Unterdrückung. Einerseits verwaltet sie diese mit der Umsetzung von Hilfs- und Linderungsprogrammen, die nichts an dem Elend und dem Leid der Tausenden von proletarischen und indigenen Frauen und Männern in dieser Region ändern. Andererseits verschärft sie es mit einer alarmierenden Ausweitung der Militarisierung in unseren Gemeinden, um Megaprojekte wie den mit den schlechten Namen Maya-Zug und den Interozeanischen Korridor durchzusetzen, die die Enteignung von Territorien und die Verwüstung der Erde zugunsten der herrschenden Klasse vertiefen.

Einhundert Jahre nach dem Tod von Ricardo Flores Magón werden wir als Anarchist*innen weiterhin die schwarze Fahne der Freiheit schwenken. Wir werden uns weiterhin jeder Regierung widersetzen, ganz gleich, ob sie sich als links bezeichnet, denn für uns ist „der Wechsel des Herrschers weder eine Quelle der Freiheit noch des Wohlbefindens“.

Setzen wir das Beispiel der Anarchist*innn der mexikanischen Liberalen Partei fort, kämpfen wir für das Leben, halten die Fahne der Regeneración hoch und streben nach Land, Brot und Freiheit für alle. Wir schreien mit Rebellion, während wir uns wie Wasser bewegen.

Es lebe Land und Freiheit!

Es lebe die Anarchie!

Freiheit für die Gefangenen von Eloxochitlán de Flores Magón!

Januar 2022


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