
Vor ein paar Tagen sprachen Aktivist*innen dieser Gegeninformationsgruppe mit Genoss*innen aus Deutschland und beantworteten ihre Fragen. Siehe auch unsere eigene aktuelle Übersicht über Sabotage gegen die Aggression der russischen Truppen und unterstützt bitte unser digitales Medienzentrum auf dieser Seite, um den Zivilist*innen in Charkiw zu helfen, die während dieses Irrsinns ständig unter Beschuss stehen.
Ursprünglich veröffentlicht von Libcom. Geschrieben von assembly.org.ua. Übersetzt von Riot Turtle.
Wie wird der Krieg in Russland wahrgenommen? Wie stark ist die Antikriegsbewegung?
Die Menschen sind unterschiedlich, in Russland wie anderswo. Die einen glauben der offiziellen Propaganda und meinen, dass die russischen Truppen in der Ukraine die guten Menschen befreien und die bösen bestrafen, und dass es sogar die Ukraine war, die Russland angegriffen hat. Andere sprechen vom ewigen Konflikt zwischen Ost und West (oder zwischen Russland und dem Rest der Welt), dass jede Nation um „Lebensraum“ und Ressourcen kämpft, und dass man, wenn man nicht angreift, von anderen geschluckt wird. Und natürlich gibt es Menschen, die sich aktiv gegen den Krieg stellen. In Russland und Belarus bedeutet das auch, dass sie gegen das Regime sind.
Nach Angaben von OVD-Info sind bereits 63 Personen wegen Protesten gegen den Krieg angeklagt worden. Die erste von ihnen hat bereits ihre Strafe erhalten – zwei Jahre Knast. Dabei handelt es sich um die Moskauer Student*in Anastasia Levashova, die der Staatsanwaltschaft zufolge einen Molotov-Cocktail in Richtung der Polizei warf (es wurde niemand verletzt). Die anderen warten noch auf ihren Prozess.
Mehr als 15.000 Menschen wurden in Russland wegen ihrer Teilnahme an Anti-Kriegs-Protesten festgenommen, die meisten von ihnen bekamen hohe Geldstrafen oder wurden in Gewahrsam genommen.
Aber das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Es gibt zum Beispiel keine Massenbewegung wie die der Mütter, die gegen die Entsendung ihrer Söhne in den sicheren Tod in Tschetschenien gekämpft haben, die sich in den 1990er Jahren auch für die Freilassung und Suche nach Kriegsgefangenen eingesetzt haben.
Im heutigen Russland gibt es keine Bedingungen für die Durchführung seriöser und unabhängiger soziologischer Forschung und Umfragen zum Thema der Einstellung der Russ*innen zum Krieg. Daher ist es schwierig zu sagen, welcher Prozentsatz die Politik Putins unterstützt. Wir haben den Eindruck, dass die meisten Menschen nach wie vor sowohl die Politik des Präsidenten als auch den Krieg unterstützen. Im Großen und Ganzen wird der russische Imperialismus schon seit Jahrhunderten gepflegt. Unter den Zaren, unter den Bolschewiki und sogar noch mehr unter Putin. Was jetzt geschieht, ist ein Muster. Leider.
In Deutschland und ganz Westeuropa gibt es eine Aufrüstung und eine Mobilisierung der NATO. Wir diskutieren viel über anarchistischen Antimilitarismus und darüber, nicht für die eine oder andere Seite des militärischen Konflikts zu kämpfen, sondern über Sabotage und Widerstand gegen den Staat und dessen Streitkräfte, sei es die NATO oder Russland, und unabhängig davon, ob dieser Staat demokratisch oder autokratisch ist. Der Staat benutzt immer einen äußeren Feind, um die Bevölkerung durch Propaganda und Gruppenzwang zu mobilisieren. Wir haben gehört, dass in Russland seit vielen Jahren Militärpropaganda betrieben wird und dass der Staat immer repressiver wird… Wie sieht die Dynamik der militaristischen Mobilisierung in Russland aus? Welche Diskussionen werden geführt?
Russland ist seit vielen Jahren eine autoritäre, militaristische Diktatur, und die Situation wird immer schlechter. In Russland ist der Kampf gegen die Aggression in der Ukraine ein Kampf gegen das Regime, für die soziale Revolution. Das ist kein Widerspruch, das verstehen alle Anarchist*innen. Die Ukraine ist nicht das erste Land, in dem Russland sein imperiales Wesen gezeigt hat. Nach der Unterdrückung der revolutionären und oppositionellen Kräfte im Lande hat das russische Regime geholfen, den Anti-Lukaschenko-Aufstand in Belarus niederzuschlagen, dann gab es eine kurze Exkursion, um den Aufstand in Kasachstan niederzuschlagen, und jetzt haben sie einen Krieg gegen die Ukraine begonnen.
Die NATO ist legaler Terrorismus, das verstehen wir sehr gut. In diesem Punkt stimmt die russische Propaganda. Aber wenn sie der Ukraine mit Waffen helfen, haben wir nichts dagegen. Die Anarchist*innen sind zu schwach, um eine eigene Armee aufzubauen, wie es Nestor Machno vor hundert Jahren getan hat. Vor dem Krieg und sogar zu Beginn des Krieges gab es unter Belarussischen Anarchist*innen Diskussionen über die Frage, was Anarchist*innen im Falle eines militärischen Konflikts tun sollten. Die meisten Gruppen und Kollektive unterstützten die Ukraine. Nicht die Oligarchen, nicht Selenskyj (obwohl er sich, um ehrlich zu sein, als Militärpolitiker*in mit Würde und Geschick verhält – das muss man ihm schon lassen). Egal, wie bösartig Europa und die NATO sind (und sie sind wirklich ekelhaft mit ihrer Heuchelei. Erinnert euch wenigstens an Jugoslawien oder den Nahen Osten, oder die Aufteilung in gute Geflüchtete aus der Ukraine und schlechte Geflüchtete aus Afrika und dem Nahen Osten), es ist nicht die NATO, die Russland angegriffen hat. Wir müssen alles daran setzen, dass Russland verliert. Und natürlich immer wieder mit einer antimilitaristischen Politik argumentieren: gegen die NATO, Russland, die Türkei, China…

Wie schätzt ihr die Lage ein? Hier in Deutschland herrscht große Panik vor einem möglichen Atomangriff und dem Beginn des Dritten Weltkriegs. Außerdem sind wir sicher, dass wir bald mit einem noch größeren Strom von Geflüchteten und einer Wirtschaftskrise konfrontiert sein werden…
Wir wissen nicht, was in Putins Kopf vorgeht, aber wir denken, dass es nicht zu einem Atomkrieg kommen wird. Das wäre ein Todesurteil für uns alle. Die russische Welt ist ein großes Ungeheuer, zumindest in diesem Teil von Europa. Anarchist*innen müssen in solch kritischen Momenten wie dem Krieg dem Bösen widerstehen und nicht über die Reinheit der Ideen nachdenken. Das Schicksal von Russland, der Ukraine und Belarus hängt von einem Sieg über Putins Russland ab. Es besteht die Chance, dass ein Sieg in diesem Krieg das gesellschaftliche Bewusstsein in unserer Region verändern wird. Wir glauben, dass sich der Antikriegsfunke zu einem revolutionären Feuer entzünden kann. Schließlich ist die Geschichte noch nicht geschrieben. Der Sieg der Ukraine kann zu einem Ausgangspunkt für unsere gesamte Region werden. Der Sturz Putins, die Teilung Russlands in viele Republiken, die Befreiung von Belarus… Die Teilnahme von Anarchist*innen am Krieg und das Sammeln von Kampferfahrungen, die Selbstorganisation und Solidarität der Ukrainer*innen (und Belaruss*innen) im Kampf gegen die Invasoren, das Interesse der ganzen Welt an unserer Region, Zerstörung, Schmerz und Millionen verwüsteter Schicksale – all das gibt Hoffnung auf ein Überdenken der kapitalistischen, imperialistischen und anderen „Werte“, an die die Menschen im Belarus fest geglaubt haben. Die Ukraine kann ein Beispiel für ein neues Europa werden, mit einer verantwortungsbewussten Gesellschaft, die den Preis für ihre eigene Freiheit, ihr Leben und ihre Würde kennt. Wo Selbstorganisation keine leere Phrase ist, sondern ein greifbares Beispiel für soziale Beziehungen. Aber all dies braucht Zeit. Daran glauben wir. Obwohl wir verstehen, dass sowohl liberale als auch nationalistische Werte aus bestimmten Gründen ihr eigenes politisches Kapital schlagen werden. Dies sollte jedoch kein Hindernis für das Vorantreiben unserer Ziele sein. In der Zwischenzeit ist Russland eine Brutstätte des Faschismus und Imperialismus, die beseitigt werden muss, bevor es zu spät ist.
Kremlin delenda est!
No pasaran!
Wir empfehlen euch unter anderem, einen Blick auf unseren bunten Bericht über die Lebensbedingungen und sozialen Probleme der Menschen, die sich seit mehr als einem Monat in der Charkiwer U-Bahn aufhalten, zu werfen, denn die städtischen Behörden haben auch unter diesen Bedingungen nicht die Absicht, die meisten der realen Probleme der Bevölkerung zu lösen.
assembly.org.ua, 10. April, 2022