
Vor etwa zehn Jahren machte Slavoj Žižek die vereinfachte Umschreibung des Zitats aus den „Gefängnis-Notizen“ von Antonio Gramsci populär, das wie folgt lautet: „Die Krise besteht gerade darin, dass das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann; in diesem Interregnum treten die verschiedensten Krankheitssymptome auf„. Heute, fast ein Jahrhundert später, kämpfen wir gegen dieselben „Krankheitssymptome„, von denen dieser italienische Denker damals schrieb: den Faschismus, dessen Fahne zur Trikolore Vlasovs wurde; verschiedene Imperialismen, die den „kleinen Nationen“ die Handlungsfähigkeit absprechen; und das Kapital, das keine anderen Werte kennt als die Maximierung des Profits.
Ursprünglich veröffentlicht von Nihilist. Übersetzt von Riot Turtle.
Oh widerstandsfähige alte Welt!
Doch trotz der gleichen Antagonist*innen haben sich die Zeiten geändert, und das „Alte“ weigert sich, zu sterben. Trotz der Starrheit in seinem Kern hat es gelernt, flexibel zu sein und seine eigene zynische Plastizität zu entwickeln. Der Faschismus wird durch den Ruf nach „Entnazifizierung“ gestärkt, das Kapital verseucht den Informationsraum mit zügellosem Greenwashing, und westliche „Antiimperialist*innen“ wappnen sich mit Westsplaining (einer Beschreibung der Realitäten der Welt ausschließlich durch das Prisma Westeuropas) als zentralem theoretischen Rahmen. Die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Hegemonie machen es schwierig, Widerstand aufzubauen und sich eine neue Ordnung, eine neue Menschlichkeit vorzustellen.
Selbst jetzt, wo die Geschichte bebt und vibriert, können wir also nicht sagen, dass das Alte stirbt, aber auch nicht, dass das Neue geboren werden kann. Der gegenwärtige „Status quo“ ist kein sterbender alter Zar, sondern der Körper, der aus den Kleidern genäht wurde, die vor langer Zeit der Nekrose zum Opfer fielen, und aus Implantaten, die die Zeichen des Lebens simulieren, d.h. das, was einmal die fortschrittlichen Ideen waren, die von einer reaktionären Ideologie integriert wurden. Diese Frankensteins der Moderne sind der russische „Antifaschismus“, der chinesische „Sozialismus“, der Kapitalismus „mit menschlichem Antlitz“.
Doch auch wenn sich die verabscheuten reaktionären Ideologien weigern zu sterben, sind die groß angelegte russische Invasion und der beeindruckende ukrainische Widerstand zu historischen Ereignissen geworden. Ereignisse, die uns an die Lebendigkeit der Geschichte erinnern, an ihre Plastizität, die jeder von uns beeinflussen kann. Vitalität und Pluralität der Akteur*innen sind zwei untrennbare Merkmale des ukrainischen Widerstands, denn neben der vertikalen Kommandostruktur, die von einem starken Anführer*in geleitet wird, wird er von ausgeklügelten Strukturen an der Basis genährt. Freiwillige Kämpfer*innen, Millionen von Freiwilligen innerhalb und außerhalb der Ukraine, Tausende von Cyber-Aktivist*innen.
Wie ein chaotischer, selbstorganisierter Bienenstock, angeregt durch die historische Bedeutung des Augenblicks und den Geruch des Blutes des Feindes, leisten die Ukrainer*innen aktiven Widerstand gegen die „zweitstärkste Armee der Welt„. Der kollektive Kampf gegen die große Bedrohung macht ein unbedeutendes Individuum zum Urheber*in eines historischen Ereignisses, und die Geschichte selbst verliert ihre Starrheit und erscheint nicht mehr als die tödliche Folge eines „Status quo„.
Es ist die individuelle und kollektive Erkenntnis der Plastizität der Geschichte und die Fähigkeit, sie zu beeinflussen, die den Kern der Politik der Moderne ausmacht. Das Zeitalter vor der Krise der „großen Ideen„, in dem der Gedanke an die Notwendigkeit einer radikalen Umstrukturierung der Gesellschaftsordnung noch offensichtlich war. Die Moderne endete mit einer Reihe von Katastrophen, die sich in den faschistischen und bolschewistischen Regimen in Eurasien und in der Bildung der Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft in den Vereinigten Staaten manifestierten. Aber wenn wir in der heutigen Welt die Notwendigkeit tiefgreifender Veränderungen diagnostizieren, dann brauchen wir die Entschlossenheit der Moderne, um sie umzusetzen.
Und gerade die Starrheit der Geschichte und die Unmöglichkeit, sich produktiv eine Alternative vorzustellen, sind die Zeichen einer nicht-modernen Politik. Das gilt sowohl für die Vormoderne, in der revolutionäre Umwälzungen nicht möglich waren, als auch für die Postmoderne mit ihrer Krise der „großen Ideen“ und dem Mythos vom „Ende der Geschichte„, dem Glauben, dass unsere Kulturen keine radikal neuen sozialen Ordnungen mehr bilden können.
Der rechte „Pragmatiker*in“ und der linke Demagog*in in der Vorhut der Ordnung
Der Kern der aktuellen politischen Krise des Westens lässt sich anhand zweier exemplarischer Charaktere für den Zustand der europäischen Politik, in dem wir uns befinden, veranschaulichen. Wir interessieren uns nicht für ihre Charaktere, sondern vielmehr für die Archetypen der modernen westlichen Politik, die sie verkörpern.
Einer von ihnen ist Yanis Varoufakis, Chef der linken Internationalen Diem25 und Autor*in des Konzepts des „Techno-Feudalismus„. Mit diesem Konzept beschreibt Varoufakis die Transformationen des Spätkapitalismus, vor allem das letzte Stadium der Entfremdung der Finanzwelt von der realen Wirtschaft. Varoufakis stellt fest, dass sich der postmoderne Kapitalismus ebenso organisch in eine neue Form des Feudalismus verwandeln kann, wie sich der Feudalismus einst in den Kapitalismus verwandelte.
Obwohl er das in seinem Artikel nicht zum Ausdruck bringt, finden wir in der Möglichkeit eines solchen Übergangs die Verbindung zwischen der Vormoderne und der Postmoderne, die Möglichkeit einer Transformation zwischen beiden, die nicht durch die Moderne vermittelt wird. Varoufakis beklagt, dass der Kapitalismus „nicht mit einem revolutionären Knall, sondern mit einem evolutionären Wimmern“ endet, aber es kann keinen revolutionären Knall geben ohne die zeitgemäße Bereitschaft, die Welt in Opposition zum reaktionären Widerstand zu gestalten.
Am interessantesten ist jedoch, dass Varoufakis auch ein Produkt nicht-modernen Denkens ist, was sich in seinen Ansichten über die Ukraine zeigt, wo er seine ohnmächtige Verwirrung im Labyrinth der Nuancen im Zusammenhang mit den Faktoren NATO und Azov demonstriert, seine Unfähigkeit, die Entschlossenheit in seinen Urteilen über den ukrainischen antiimperialistischen Kampf zu demonstrieren. Diese vulgarisierte „Kritik“ und das weiße Rauschen der sekundären Nuancen lassen ihn die einfache Eindeutigkeit der Realität des russischen Faschismus und des ukrainischen Widerstands nicht sehen.
Der andere ist Christian Lindner, der deutsche Finanzminister*in und der Vorsitzende der rechtsliberalen FDP. Lindner ist derzeit einer der einflussreichsten Verfechter des Großkapitals unter den europäischen Politiker*innen. Am ersten Tag des Krieges, so der ukrainische Botschafter*in in Deutschland, Andriy Melnyk, hat Lindner seine große Skepsis gegenüber den Aussichten auf Waffenlieferungen an die Ukraine gezeigt, denn seiner Meinung nach hat unser Land im Krieg gegen Russland keine Chance. Ungeachtet seiner Fehleinschätzung war dies der reinste „Pragmatismus“ der Rechten, mit dem die Vertreter*innen dieses ideologischen Lagers gewöhnlich den „Status quo“ verteidigen.
In solchen „pragmatischen“ Antworten auf die Anforderungen der Realität können wir beobachten, wie der gewöhnliche kleinbürgerliche Konformismus als die am weitesten verbreitete zeitgenössische Ideologie endet. Linders sekundenlanges Zittern vor der Autorität der „russischen Waffen“ (er änderte seine Meinung sofort, als die Stärke des ukrainischen Widerstands deutlich wurde) ist von derselben Art wie sein ideologischer Dienst am Großkapital, dem Imperium des Profits, das die Verantwortung für die Strukturierung der Realität auf sich nehmen muss.
Wir haben also zwei Figuren an der Spitze des „Status quo„: den rechten „Pragmatiker*innen“ und den linken Demagog*innen. Der eine reduziert die Vielfalt der Politik auf die für das Kapital nützliche „Technokratie„, der andere schickt sich an, mit dem neofaschistischen Russland zu koexistieren, während er über die Feinheiten seiner eigenen Demagogie stolpert.
Die moderne Ukraine, arrogant und unbequem
Und nun kommen wir wieder auf die Frage zurück, welche Bedeutung der russisch-ukrainische Krieg für die revolutionären Hoffnungen im globalen Maßstab hat. Wie wir an den Beispielen zweier archetypischer Figuren der postmodernen Politik sehen, fehlt beiden die moderne Vitalität oder zumindest die situative Offensichtlichkeit einer Antwort auf die ewige Frage: „Was ist zu tun?„
Obwohl der ukrainische politische Diskurs über ein schwaches theoretisches Fundament verfügt (vergessen wir nicht, dass die theoretischen Koryphäen in Friedenszeiten noch die nationaldemokratischen „Intellektuellen“ waren), können wir in der Ukraine zum zweiten Mal in den letzten zehn Jahren die einzigartige Synthese von vitaler Leidenschaft und effektiver Selbstorganisation beobachten. Trotz des theoretischen Reichtums der westlichen Politik bleibt eine solche Synthese dort der Phantasie kleiner Gruppen von Idealist*innen überlassen.
Deshalb entsprechen weder die russische Invasion, vulgär in Bezug auf ihre Brutalität, noch der mutige moderne ukrainische Widerstand der „Normalität“ des heutigen Westens. Die Ukraine wird zum Störenfried eines Status quo. Das hat vor allem mit der geopolitischen und militärischen Vorherrschaft der Russischen Föderation zu tun. Aber es hat auch mit dem postmodernen Konformismus des Westens zu tun.
Und wir, die Störenfriede, sollten keine Angst haben, unbequem zu sein. Diejenigen, die all die Jahre lang „nie wieder“ gemurmelt haben, haben dieses „wieder“ direkt vor ihren Augen geschehen lassen. Dies ist ein weiterer Beweis dafür, dass mit der politischen Landschaft von heute etwas nicht stimmt. Und unsere neue ukrainische Moderne, die in der Not geboren wurde, aus der Vitalität des Handelns und der effektiven Selbstorganisation, sollte das der ganzen Welt so frech wie möglich sagen. Diese ukrainische Moderne muss mit ihrer arroganten jugendlichen Stimme die Notwendigkeit bekräftigen, die Herrschaft der Imperialist*innen und Profitmacher*innen zu beenden. Diese Stimme muss so laut und deutlich sein, dass selbst die „Pragmatiker*innen“ und Demagog*innen verstehen, dass der Fatalismus der Wahl zwischen Kapitalismus und Techno-Feudalismus nichts für uns ist, wenn unsere Augen vor Leidenschaft brennen und unser Geist vor Ideen sprudelt.