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Kampf der Klassenjustiz! Für Giannis Michailidis und alle Gefangenen, die die Entlassungsbedingungen erfüllen! [Berlin]

Aktionsaufruf der Versammlung in Solidarität mit Giannis Michailids, Berlin.

-Die europäische Lüge von Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit

-Über die Praxis von Präventivgewahrsam und präventiver Polizeiarbeit

-Hungerstreik als Mittel des Kampfes unter Knastbedingungen

Bild oben: Über 5000 Menschen auf der Demonstration in Solidarität mit den anarchistischen Hungerstreikenden Giannis Michailidis in Athen, am 14. Juli 2022. Bild via Twitter account @risinggalaxy

Ursprünglich veröffentlicht von Indymedia DE. Geschrieben von Versammlung in Solidarität mit Giannis Michailids, Berlin.

Die europäische Lüge von Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit

Die europäische Identität fußt auf einem Narrativ der überlegenen Kultur. Überlegenheit durch die Beachtung unangreifbarer individueller Rechte und Menschlichkeit durch eine liberal-konstitutionelle Demokratie. Überlegenheit durch Gleichheit und Gerechtigkeit durch die Definition des Gesetzes durch das zivile und das bürgeriche Recht. Doch das ist eine Lüge. Ihre Gesetze existieren nur um die Macht des Staates, die Hierarchie der Privilegierten und die Vorzüge ihrer Jünger zu sichern. Gerechtigkeit und Menschenrechte existieren nicht, wenn es um die „Anderen“ geht: die Nicht-Europäer*innen, die Dissident*innen, die Marginalisierten, die Antistaatlichen, die Anarchist*innen. Die Gesetze entziehen ihnen „legal“ jedes Recht.

Mit der Inhaftierung und dem Morden des Anarchisten Giannis Michailidis und anderer Individuen, die dem Dogma von Staat und Kapital im Weg stehen, handelt die rechte Regierung der Neuen Demokratie in diesem Gesetzesrahmen und der so genannten Jusitz. Unser Gefährte wird von der bürgerlichen Justiz mit der einzigen Begründung gefangen gehalten, dass er eine Gefahr darstelle und nicht etwa dass er eines Rechtsbruch verdächtigt wird. Er hat seine Strafe abgeleistet, wird aber weiter als Geisel in Präventivhaft ohne Anklage und ohne Hoffnung auf Entlassung gehalten.

Der Staat stellt sich als neutraler Vermittler gegensätzlicher Interessen dar. Die willkürliche Teilung der Gewalt in Legislative, Exekutive und Judikative macht den Anschein der Neutralität des Systems in den Augen des modernen intellektuellen Bürgers noch unangreifbarer. Man muss nicht die Anwendung dieser Theorie ausprobieren, um zu verstehen, dass sie praktisch nicht funktioniert, sind die Bedingungen der Ungleichheit und Unfreiheit, die um uns herum herrschen doch eher die Regel als die Ausnahme. Die Unantastbarkeit von Polizist*innen und Vergewaltiger*innen, die dieser Tage mal wieder auf dem Territorium des griechischen Staates an das Licht kommt, verstärkt die Annahme, dass die drei Gewalten in der Tat nicht unabhängig sind, sondern dass sie als Schutz untereinander funktionieren und dass ihre eigentliche Rolle darin liegt, die herrschende Ordnung der Dinge zu festigen und zu schützen. In jedem europäischen Land wird wegen ihrer offensichtlich tötlichen Praktiken die Polizei „Mörder“ gerufen. Der Fall des griechischen Polizisten Korkoneas, der 2008 Alexis getötet hat und jetzt vom selben Gericht entlassen wurde, das entschieden hat, G. Michailidis nicht auf freien Fuß zu setzen, ist nur ein herausragendes Beispiel dafür, wie das Justizsystem der überlegenen europäischen Kultur arbeitet.

Es ist eine Tatsache, dass die Gesetze einfach ungerecht sind. Sie kommen von Leuten einer Klasse, die das Leben von Millionen von Menschen reguliert, einerseits versucht an der Macht zu bleiben und andererseits, die Ursachen zu reproduzieren, die ihnen dazu verholfen haben, sich an die Spitze zu setzen. Als eine der Quellen von Macht ist es nicht möglich, dass diese ihre Gesetze auch nur irgendeine Relevanz für die Begriffe von Gerechtigkeit und Freiheit haben.

Über die Praxis von Präventivgewahrsam und präventiver Polizeiarbeit

In Europa konsolidiert sich über die letzten Jahre ein klassischer Polizeistaat, wo Menschen danach beurteilt werden, wie hoch ihr Gefahrenpotential für den Staat und seine Ordnung ist. Giannis Michailidis Inhaftierung trotz der abgesessenen Haftstrafe, die ihm ein Gericht gegeben hat, zeigt genau diese Logik. Durch seine Präventivhaft und durch die Zustimmung von bereits zwei Gerichten zu der These, dass er eine gefährliche Person sei, ist er offiziell und legal des „Rechtes auf Gleichheit vor dem Gesetz“ enthoben. Zwar wird die so genannte Präventivhaft schon länger unter der griechischen Staatsherrschaft angewendet. Doch ist es das erste Mal, dass ein Anarchist jetzt unbefristeter Haft für seine politische Identität und für sein Gewissen entgegensieht.

Die gleiche Art Gesetz existiert in Deutschland unter dem Schlagwort Sicherheitsverwahrung. Sie ist eine Bedrohung für Revolutionär*innen und Individuen, die auf ihren Ideen beharren. Mit Thomas Meyer Falk als Beispiel für jemanden, der mit politischen Gründen als Geisel gehalten wird, droht der deutsche Staat jede*m mit dieser Art der Strafe. Es erstaunt kaum, dass das entsprechende deutsche Gesetz aus der Feder der NSDAP entspringt. Nach einigen Schönheitskuren in Folge des zweiten Weltkriegs wurde es in den letzten zwei Jahrzehnten wieder gestärkt, so dass es heute wieder kein Limit für Sicherungsverwahrung unter deutscher Staatsherrschaft gibt.

Parallel zu solchen staatlichen Vorstößen in bisher uneroberte Bereiche der Gesellschaft gibt es Anläufe, wohlbekannten und etablierten Praktiken von Polizei und Geheimdiensten ein breiteres legales Fundament zu verschaffen. Mit dem gleichen Konzept der Einteilung von Menschen in verschiedene Grade der Gefährlichkeit, die dazu gebraucht wird unsere Körper in Gefängnisse zu stecken, werden die europäischen Polizeikräfte mit ultimativen Mitteln ausgestattet, unsere Kämpfe draußen zu unterdrücken. Unabhängig von strafrechtlichen Ermittlungen sehen sich Individuen nicht nur politischer Milieus mehr und mehr präventiver Polizeiarbeit ausgesetzt. Mit relativ neuen Sicherheitsgesetzen (ASOG/SOG in Deutschland) ist die Polizei dabei, Menschen als „gefährliche Personen“ oder „Kontaktpersonen zu gefährlichen Personen“ einzustufen. Das „erlaubt“ es dem Staat, weit vor jeglicher strafrechtlichen Ermittlung Personen und soziale sowie politische Strukturen auszuspionieren und sogar physische Interventionen wie Hausdurchsuchungen oder sogar beinahe unbegrenzte präventive Ingewahrsamnahmen zu tätigen. Das selbe Gesetz und die ihm zugrunde liegende Idee der Gefahrenabwehr wird zudem dazu verwendet, über ganze Gebiete oder Nachbarschaften den Ausnahmezustand zu verhängen. Der Begriff der Knastgesellschaft wird immer greifbarer. 

Der Grund all das zu erwähnen ist die Tatsache, dass unter dem unspezifischen Begriff der „Gefahr“ Europa kontinuiertlich an der Unterdrückung jeglichen Lebenszeichens und jeder Form des Widerstands in diesem kapitalistischen System arbeitet.

Giannis Michailidis hat sich dazu entschlossen, durch den Hungerstreik dieser stetigen Offensive einen Riegel vorzuschieben. Durch seine Forderung nach Freilassung aller Häftlinge, die ihre Strafe abgesessen haben, kämpft er für eine Sache, die uns alle Betrifft – unabhängig davon, ob wir Teil der anarchistischen Bewegung sind oder nicht. Beispiele für Gefangene, die die Entlassungsbedingungen erfüllen und dennoch in Haft gehalten werden:

In Deutschland, Thomas Meyer Falk

Ιn den U.S.A., Mumia Abu-Jamal und Mitglieder der Black Liberation Army

Ιn Paraguay, Carmen Villalba

Ιn Frankreich, Claudio Lavazza und Georges Ibrahim Abdallah

Ιn Chile, Marcelo Vellarroel

Ιn Griechenland, Dimitris Koufontinas und Savvas Xiros

Ιn der Türkei, Ali Osman Köse.

Jene werden vom Repressionsapparat dafür angegriffen, dass sie innerhalb der Mauern gegen das Gefängnissystem, Ausbeutung, Kolonialismus und andere Formen der Unterdrückung kämpfen. Der Umstand, dass diese Gefangenen weiterkämpfen stellt eine Gefahr für die herrschende Ordnung dar. Deswegen greift der Staat zu dieser Extrastrafe. Ihre Namen werden in einem internationalen Aktionsaufruf aus Athen für den Hungerstreik von Giannis Michailids genannt und sie müssen wieder und wieder erwähnt werden.

Hungerstreik als Mittel des Kampfes unter Knastbedingungen

Eine herausstechende Art, den Kampf unter Knastbedingungen fortzuführen, ist der Hungerstreik. Dies kann für viele derjenigen befremdlich wirken, die keine Nähe zu revolutionären Bewegungen haben. Politische Gefangene werden in den meisten Fällen in Isolationshaft gehalten, total abgegrenzt von anderen Inhaftierten und mit sehr beschränktem Zugang zur Außenwelt. Die Gründe für Isolationshaft sind vielschichtig. Einer davon ist die Loslösung der*s Gefangenen von der sozialen Produktion. Ein Mensch ist nicht nur ein biologisches Geschöpf: wir als Menschen sind soziale Entitäten und wir können nur innerhalb eines sozialen Gefüges gedeihen. Isolationshaft ist eine der am stärksten entmenschlichenden Arten der Folter. Unter den Bedingungen der Isolation sind Hungerstreiks und Todesfasten (unbegrenzter Hungerstreik) die stärksten Waffen die ein Gefangener haben kann – der Körper wird zur Waffe. Dieser Tage gibt es auf der ganzen Welt anhaltende Hungerstreiks neben dem von Giannis Michailidis: die Revolutionäre Sibel Balaç und Gökhan Yıldırım in türkischen Gefängnissen, die palästinensischen Kämpfer Khalil Awawdah und Read Rayan in israelischen Gefängnissen, die politischen Gefangenen Cesar Millanao Millanao, Orlando Sáez Ancalao, Óscar Pilquiman Pilquiman und Emilio Berkhoff von den Mapuche in chilenischen Gefängnissen sind hungrig nach Gerechtigkeit.

Özgül Emre, die in deutschen Gefängnissen gehalten wird, war vom 16. Mai bis zum 28. Juni 2022 im Todesfasten um gegen den Versuch zu protestieren, sie zum Tragen der Gefängnisuniform zu zwingen. Sie beendete ihren Streik als sie ihre eigenen Kleidungsstücke bekam. Während ihrem Streik haben rassistische und faschistische Gefängnisbehörden ihr nur ungenügende Mengen Zucker und Salz gegeben und ihr so einen möglicherweiße dauerhaften körperlichen Schaden zugefügt. Sie wurde in Behandlung gegeben und mit Zwangsernährung bedroht. Wenn hungerstreikenden Gefangenen ohne Zustimmung Nahrung zugeführt wird kann das zu irreparablen Schäden von Gedächtnis und motorischer Fähigkeiten oder sogar zum Tod führen. Der deutsche Staat hat durch Zwangsernährung bereits Blut an seinen Händen: sowohl Holger Meins und Sigurd Debus wurden 1974 und 1981 durch Zwangsernährung in deuschen Gefängnissen ermordet.

Dieses mal hat es der deutsche Staat nicht geschafft, eine weitere Revolutionärin zu ermorden; Özgül Emre hat mit ihrem Kampf die auf der Nazizeit fußende Prozedur des Tragens der Häftlingsuniform zerstört und gezeigt, dass diese Art des Kampfes materielle Erfolge zeitigen kann. Neben den materiellen Ergebnissen liegt die zugrunde liegende Idee jedoch woanders: den Tod zu wählen, um die eigene Identität, Integrität und Würde zu wahren, ist ein Sieg für jeden Menschen und ein Schlag gegen die Knastgesellschaft.

Kampf jetzt – Aufruf zu Solidaritätsaktionen

Giannis Michailidis Kampf war wie erhofft ein Auslöser für Action – nicht nur in Griechenland, sondern international. Der Kampf für Giannis Michailidis und für unsere Freiheit sollte noch intensiver und offenisver weitergehen, um all den Gefangenen, die der Rache von Staat und Kapital ausgesetzt sind eine Perspektive zu geben. Diese Perspektive jedoch muss über die immensen Anstrengunen dieses einen Kämpfers hinaus geschaffen und erhalten werden.

„[…] Schließlich, im Bewusstsein darüber, dass dieser Streik der letzte Teil meiner Reise werden könnte, will ich ihm genau die Dimension geben, die mich als ganzes verkörpert:

Der Kampf für die Freiheit des einen ist der Kampf für die Freiheit aller…

                                                                                                                    … bis zur Zerstörung des letzten Käfigs“

Hungerstreiks und Nahrungsverweigerungen in Solidarität mit G. Michailidis von andern Gefangenen in Griechenland:

Solidaritäs-Hungerstreiks:

  • [6/7] D. Chatzivasiliadis
  • [4/7] F. Daskalas
  • [30/6] I. Rodopoulos (1 Tag)
  • [13/6] elf Inhaftierte aus der Türkei (1 Tag)
  • [11/6] G. Voulgari und Th. Chatziaggelou (zirkulär)

Solidarische Nahrungsverweigerung:

  • [29/6] D. Koufontinas, F. Tziotzis und B. Stathopoulos (eine Woche)
  • [27/6] I. Rodopoulos (eine Woche)

Mit diesem Aufruf übersetzen wir Giannis Michailids‘ Forderungen in einen Aufruf an Jede*n, der Ausdehnung staatlicher Gewalt über unsere Leben und unsere Freiheit zu widerstehen und in einen Aufruf, eine echte Gefahr für diejenigen zu werden, die uns Unterdrücken und Ausbeuten.

Versammlung in Solidarität mit Giannis Michailids, Berlin

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