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Die Letzte Generation, Scholz, und der kategorische Klima-Imperativ [Tadzio Müller]

Am Donnerstag haben wir einen Beitrag von Riot Turtle über die verlogene Empörungswelle von Politiker*innen und Teilen der deutschen Mainstream-Medien veröffentlicht. Anlass war eine Welle der Empörung und Hetze, nachdem eine Frau schwer bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt wurde (am Donnerstag wurde sie für hirntot erklärt, am Freitag ist sie verstorben). Hier ist ein weiterer Beitrag zu diesem Thema. Wir haben diesen Beitrag aus dem „Friedliche Sabotage“ Newsletter von Tadzio Müller übernommen. Auch Tadzio’s Beitrag wurde vor die Frau verstorben ist geschrieben. Unser Beileid an alle Angehörigen und Freund*innen des Opfers dieses tödlichen Verkehrsunfalls.

Vorwort

Riot Turtle

Eine der ersten gemeinsame „Held*innentaten“ der rechtsradikale Trollarmee, teile der Medien und Politiker*innen (da kommt zusammen, was zusammen gehört) nach dem Verkehrsunfall, war ein massiver Shitstorm, inklusive Morddrohungen und Forderungen nach harter Bestrafung. Darauf folgte, abgesehen von der Wirkung die Psychoterror auf viele Menschen hat, eine unbefrisstete Sperre von Tadzio Müller’s Twitter Account,. Ihr könnt Tadzio aber immer noch folgen, er ist auch auf Mastodon aktiv (@muellertadzio@climatejustice.social). Die Süddeutsche Zeitung berichtete am Freitag, unter dem Titel „Letzte Generation – Klimaprotest hatte keinen Einfluss auf Versorgung des Unfallopfers„, über einen dreiseitigen, internen Vermerk der Feuerwehr über das Vorgehen der Notärztin am Unfallort Bundesallee. Demnach hatte sie bereits entschieden, aus medizinischen Gründen auf das Anheben des Betonmischers zu verzichten, als der Rüstwagen RW 3 noch unterwegs war. Die SZ zitiert: „Zur Frage der technischen Rettung hat die Notärztin klar geäußert, dass sie sich auch bei der Verfügbarkeit von anderen technischen Möglichkeiten durch Rüstwagen oder Kran sofort für diese Methode entschieden hätte.“ Das hat die weitere Instrumentalisierung, der inzwischen verstorbenen Frau, durch rechtsradikale Trolle, Politiker*innen und einige andere deutsche Medien aber nicht verhindert. Sie benutzen weiterhin alternative Fakten, und unterstellen den Aktivist*innen der Letzten Generation, für die tragischen Folgen des Verkehrsunfalls verantwortlich zu sein. Eins sollte klar sein: Es geht hier nicht um die Folgen eines Verkehrsunfalls, sondern diese hinterhältige Allianz hat den Unfall instrumentalisiert, um einen Angriff auf die Klimabewegung zu starten. Die Rolle vieler deutscher Politiker*innen und Teile der Medien in dieser tragischen Geschichte zeigt, dass sie keine Skrupel haben, mit rechtsextremen Trollen zu kollaborieren, um die Interessen der fossile Industrie zu verteidigen. Das sollten wir im Hinterkopf behalten, denn wir befinden uns erst in der Präambel vom #ClimateEndgame. Es zeigt übrigens auch dass die Allianz aus Rechtsradikalen, Politiker*innen und Teilen der deutschen Medien bereit ist, alles zu tun, um die Interessen der fossilen Industrie zu verteidigen. Der Klimakollaps wird kommen und die Lage wird komplett eskalieren. Die Faschos bereiten sich schon darauf vor…

Riot Turtle, 4. November, 2022

Die Letzte Generation, Scholz, und der kategorische Klima-Imperativ

Tadzio Müller

Liebe Leute,

Ihr wisst, ich rede viel und gerne, und manchmal rede ich halt auch wirkliche Scheiße. So geschehen am vergangenen Montag, als ich in einem Tweet eine dämliche & respektlose Formulierung in Bezug auf eine Frau verwendete, die nach einem Unfall in Lebensgefahr schwebte, und heute hirntot erklärt wurde. Das Ganze wurde mit der Letzten Generation in Verbindung gebracht, woraufhin sich ein enormer Shitstorm entwickelte, in dem es natürlich nicht um meinen dämlichen Tweet ging, sondern darum, eine Linie zu ziehen: bis hierher darf Klimaaktivismus, aber nicht weiter – also die selbe Frage, um die es schon in den viel banaleren Tomatensuppe-und-Kartoffelbrei-Debatten ging.

Die Berliner Zeitung ließ mich am Dienstag meine Position dazu aufschreiben, stellte den Text aber hinter eine Paywall. Daher poste ich ihn hier frei zugänglich in der Originalversion, muss mich aber an einer Stelle korrigieren: es gibt keinerlei Belege, dass die Klima-Blockaden zur Verzögerung des Rettungsfahrzeugs beigetragen haben. Trotzdem wir hier eine Linie in den Sand gezogen; bis hierher, ihr Klimakriminellen, und nicht weiter.

Danke fürs Lesen, sowie Euren politischen wie praktischen Support, der mir in den letzten Tagen und den vergangenen Wochen sehr gut getan hat.

Euer Tadzio


Jetzt ist alles plötzlich sehr ernst geworden. Wir reden nun endlich über das, worum es beim Klimaschutz eigentlich geht: um Menschenleben. Es geht darum, diese zu retten, und die langfristige Überlebensfähigkeit der Menschheit auf diesem Planeten sicherzustellen. Wir reden auch über das Leben einer Frau, die nach dem gestrigen Unfall in Lebensgefahr schwebt.

Gestern Morgen auf der Berliner Bundesallee überrollt ein Betonmischer eine Fahrradfahrerin, diese wird schwer verletzt. Das daraufhin angeforderte Spezialfahrzeug verspätet sich durch einen Stau auf der A100 – offenbar verursacht durch eine Blockadeaktion der Klimaaktivist*innen der Letzten Generation. Durch die verzögerte Rettung verschlechtert sich der Zustand der Verletzten derartig, dass sie nun in Lebensgefahr schwebt.

Zunächst einmal: Es überhaupt noch nicht klar ist, ob wirklich die Blockaden der Letzten Generation zur Verspätung führten, oder ob es einfach nur der „normale automobile Wahnsinn“ war, der wieder einen Stau produzierte, und dessen Teilnehmer*innen nun mal oft keine Rettungsgassen bilden. Doch selbst wenn es so war, sind es die Vorwürfe der Berliner Feuerwehr, die die nächste Runde einer Debatte auslösen.

Dabei haben wir diese in den vergangenen Wochen schon entlang der viel banaleren Frage geführt: Ist es angesichts der eskalierenden Klimakatastrophe legitim, Kartoffelbrei oder Tomatensuppe auf Gemälde zu schütten? Wie weit darf Klima-Aktivismus für ein gesamtgesellschaftlich anerkanntes Ziel gehen? Welche Risiken darf er einberechnen, wie sehr darf er die Normalität unseres klimazerstörenden Alltags selbst stören?

Leider habe ich gestern in diesem Zusammenhang einen wirklich extrem dämlichen, empathielosen Tweet geschrieben. Ich scheue mich, meine Worte zu wiederholen, aber der intellektuellen Redlichkeit wegen und zur Einordnung: Ich habe diesen tragischen Unfall mit den respektlosen Worten „Shit happens“ abgetan. Dann rief ich die Letzte Generation auf, sich nicht einschüchtern zu lassen. Diesen Tweet habe ich gelöscht, und bat und bitte um Entschuldigung: Das war, um in meiner Diktion zu bleiben, richtig „shit“. Ich wünsche der Verletzten schnelle Besserung.

Wie man in Twitter hineinruft, so schallt es heraus, und schon bald war meine Timeline und Posteingang voller Nachrichten, die mir – korrekter- und berechtigterweise – meine Empathie- und Respektlosigkeit vorwarfen. Sie betonten, es dürfe niemals ein Menschenleben infrage gestellt oder relativiert oder gefährdet werden.

Dass die meisten dieser Tweets und Messages selbst extrem respekt- und empathielos waren, hat mich nicht überrascht, aber trotzdem verletzt. „Wir haben Dich!“, „Du degenerierte Schwuchtel“ waren noch harmlos. Wieder wurde mir Mord angedroht. Das legt leider nahe, dass es vielen Kommentatoren selbst nicht um das Leben der Verletzten ging, genauso wenig, wie sie sich um einen Van Gogh oder einen Monet sorgen. Vielmehr wollen sie den Klima-Aktivismus delegitimieren. Darum ging es wohl auch dem BILD TV-Kamerateam, das mir vor meiner Haustür auflauerte, um mich zu einer weiteren dummen Aussage zu verleiten. Irgendwie war das erschreckender, als jede Morddrohung per Twitter: woher haben die meine Adresse – und wer hat die noch?

Die Debatte, was Klimaaktivismus darf, dauert schon länger und ausgerechnet Olaf Scholz hat hier ausnahmsweise etwas wirklich Kluges gesagt. Nämlich, man müsse bei politischen Entscheidungen immer bedenken, dass sie nicht zur Gefährdung anderer beitrage. Dieses Prinzip könnte man als eine Art kategorischen Klima-Imperativ etablieren: Handle immer so, dass Deine Entscheidungen keine Anderen gefährden.

Leider ist es so, dass die, mit dem Soziologen Stefan Lessenich gesprochen, unsere Gesellschaft ständig Entscheidungen trifft, die das Leben von Menschen gefährden: Meistens sind dann aber Menschen im „globalen Süden“ betroffen. Manchmal betrifft es uns auch hier, ob im Ahrtal oder im deutschen Straßenerkehr. Wir „akzeptieren“ als Gesellschaft dieses Risiko, versuchen es zwar zu minimieren. Aber wir erkennen an, dass mehrere Tausend Menschen pro Jahr geopfert werden, damit wir von A nach B gelangen können. Auch das ist eine ziemlich kalte Rechnung, an deren Ende Menschen sterben. Im vergangenen Jahr starben 2562 Menschen auf deutschen Straßen.

Im Falle der Klimabewegung aber soll jetzt das Prinzip gelten: nur solche Aktionen sind legitim, die ein null-prozentiges Risiko beinhalten. Menschen dürfen nicht zu Schaden kommen. Dieses Prinzip gilt bei keinem anderen gesellschaftlichen Großprojekt. Es gilt weder beim Fußball noch beim Feiern – die Love Parade fand vergangenes Jahr wieder statt.

Die Antwort auf die Frage, was legitim ist, verschiebt sich derzeit immer wieder, weil die Klimakatastrophe immer klarer einen gesellschaftlichen Notstand darstellt. Im Notstand sind auch Handlungen legitim, die anderweitig inakzeptabel wären.

Es geht um materielle Interessen, um Wohlstand, um Macht und Privilegien. Es geht schon lange nicht mehr nur um das Klima, das haben die Demonstranten längst verstanden. Sie wollen ein bestehendes System, den fossilen Wachstumskapitalismus, herausfordern. Dabei wird es zu tragischen Unfällen kommen. Das darf aber nicht bedeuten, dass Klima-Aktivismus jetzt nur noch bedeutet, statt zu demonstrieren nur noch freundlich zu bitten, doch endlich das Klima zu schützen.

Das hat 2019 auf dem Höhepunkt der Popularität von Fridays For Future nicht funktioniert, und es würde jetzt noch weniger funktionieren. Die deutsche Gesellschaft hat verstanden, dass Klimaschutz hierzulande breiten Wohlstandsverlust bedeuten würde. Schon Martin Luther King und die Frauenrechtlerin Sylvie Pankhurst wussten: Um tiefgreifende gesellschaftliche Veränderung zu erreichen, muss die Normalität einer Gesellschaft unterbrochen werden. Das hat in diesem Fall leider zu einem Unfall geführt. Aber im Unterschied zur Normalität dieser Gesellschaft gefährdet Klima-Aktivismus nur in absoluten Ausnahmefällen Menschen. Unsere Normalität tut dies jeden Tag.

Tadzio Müller

Unterstützt Tadzio Müller: hier.

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