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Jean Weir: An die Wilden und Unkontrollierbaren

Was folgt, ist eine Übersetzung eines Textes von Jean Weir: An die Wilden und Unkontrollierbaren.

An die Wilden und Unkontrollierbaren, Originaltitel: To the deranged [1], von Jean Weir, wurde 2016 als Leitartikel zu der bisher unveröffentlichten Zeitschrift „Deranged 00“ geschrieben und später als Postskriptum zu Tame Words from a Wild Heart (Jean Weir, Elephant Editions, 2016) veröffentlicht. Wir haben die auf Writerror erschienene Version übersetzt.

Diese Seiten sind für die Wilden und Unkontrollierbaren, nicht in Gewohnheiten versunkene, protokollarisch reglementierte oder durch ihre Identität banalisierte Personen, die sich weigern, sich kontrollieren, „moderieren“ oder sich in zahlenmäßig orientierte Fristen einordnen zu lassen. Sie wollen denen begegnen, die ihre Stimme noch erheben und vor Freude heulen können in einer unterworfenen Welt, in der das ironische Grinsen des Allwissenden das Augenzwinkern der Komplizenschaft ersetzt hat und das Lachen sich in eine Art Schluckauf aufgelöst hat, ein Satzzeichen, um die oberflächlichen Bemerkungen der ewig Abgehobenen abzurunden. Sie möchten diejenigen treffen, die destruktive Spannung mit Weisheit verbinden und sich, bewaffnet mit kreativer Teufelei, in den vergifteten Dschungel des Kapitals wagen, um ihn abzuholzen und mit Leben aufblühen zu lassen.

Die Wilden und Unkontrollierbaren sind weder aus Gewohnheit verblödet, noch durch die „größte Show auf Erden“ geblendet. Anstatt für eine Sache rumzurennen, um sie zu unterstützen, kämpfen sie lieber für ihre eigene Sache, erobern egoistisch Momente der Freiheit, untergraben und attackieren das Bestehende mit allen Mitteln, in dem Wissen, dass Chaos Leben ist und dass die Vernunft weiterhin Ungeheuer hervorbringt.

Die autoritären Kampfhandlungen der jüngeren Vergangenheit waren Produkte der Vernunft, aber sie hatten nicht die Möglichkeit, ihr Endziel, die Macht zu verwalten, in die Tat umzusetzen. Diese Strukturen haben ihr tägliches und altes Schema durch flexible Projekte der sozialen Kontrolle ersetzt. Genau auf diesem Terrain finden wiederaufbereitete Marxist:innen und bestimmte Anarchist:innen/Libertär:innen eine gemeinsame Basis, bis zu dem Punkt, dass man an einem Tag Anarchist:in, am nächsten ein Post-Marxist:in sein kann und, wenn der Magen Widerstand leistet, zu einem unverdaulichen Hybrid mutiert. Die anarchistische Ästhetik ist ansprechender, aber die radikale Linke hat so viele faszinierende Theorien… Die labyrinthischen Werke dieser Anwärter:innen auf die Macht, die sich in Partner des existierenden verwandelt haben, sind heutzutage verführerischer, ihr Arbeiter:innengeschwätz stirbt jetzt zusammen mit dem Proletariat aus.

Soziale Kontrolle wird zur Selbstkontrolle: Eine große Zahl von Menschen, die aus den Gefängnissen/Fabriken und Minen Westeuropas entlassen wurden – dank Neosklaverei und Digitaltechnik funktionieren diese nun (fast) perfekt auf der anderen Seite des Planeten -, brauchen Ordnung von innen und die Unterdrückung individueller Spannungen. Dies hat zur Entwicklung einer „antiautoritären“ Praxis und einer „non-hierarchischen“, politisch korrekten Sprache geführt, die unabhängig von der in den Hintergrund getretenen Ideologie allgemein akzeptiert wurde. Die verinnerlichte Angst vor einer erhobenen Stimme, davor, dass jemand aus der Reihe tanzt, dass eine Idee oder Kritik in die reibungslose Maschinerie des abweichenden Konsenses eindringt, macht Tausende von Menschen zu gelangweilten und langweiligen Teilnehmern an denselben alten Entwürfen derselben alten Minderheiten, die sich hinter der Mauer der resignierten Beteiligung verbergen, die sogar Aspekte gut choreographierter Straßen-„Gewalt“ oder Nachbarschaftsinitiativen mit einschließen kann. Es hat kaum je eine bewusste Entscheidung gegeben, mit einigen der aufständischen Methoden zu experimentieren, die im Kampf der letzten Jahrzehnte im Ansatz in Erscheinung getreten sind. Selten wurden diese in bewussten Versuchen, eine Rebellion zu provozieren, aufgegriffen und angegangen, wobei man es vorzog, die Anarchie in Allianzen mit den linken Kräften zu unterwerfen – die sie natürlich mit offenen Armen empfangen – und ihr gesamtes kreatives/destruktives Potenzial in die Sackgasse der Flickschusterei zu werfen.

Darüber hinaus gibt es ein Anderswo, das fast greifbar ist, sich uns aber weiterhin entzieht. Es löst sich in Luft auf und hinterlässt einen zügellosen Zustand der Langeweile, der die Visionen und Träume der Rebellen befleckt. Wir haben bereits alles getan, alles schon einmal gesehen. Wir haben den Himmel gestürmt. Wir sind durch die Gefängnistore gegangen und kommen relativ unversehrt wieder heraus. Die Bewegung ist an einem Tiefpunkt angelangt. Wir brauchen neue Ideen, neue Methoden, um uns wieder zurück in den Kampf zu bringen.

Trotzdem waren Angriffe auf das Kapital und den Staat durch einzelne und kleine Gruppen von Anarchist:innen praktisch die einzigen, die neben den großen spontanen Aufständen, die in der jüngsten Vergangenheit fast überall den Boden auf dem Planeten erschüttert haben, wahrgenommen wurden. Und diese anarchistischen Angriffe richteten sich nicht nur gegen die Machtstrukturen, sondern auch gegen den Feind im Inneren, sowohl in Form von Bürgerlichen/Spitzel, als auch in Form einer stagnierenden Bewegung, deren einzige Stärke darin besteht, die Rebell:innen, die Unkontrollierbaren, zu verunglimpfen oder zurückzuholen.

Die anarchistische Bewegung als Ganzes kann jedoch nicht als ein privilegierter Bezugspunkt für die notwendige Zerstörung des Bestehenden angesehen werden. Wenn die (scheinbar) zaudernden Kapitalist:innen Bojen zu denen auswerfen würden, die in den tödlichen Meeren des wirtschaftlichen Größenwahns am Leben bleiben wollen, wie viele Anarchist:innen wären dann unter den ersten, die die Hand ausstrecken, um sich eine zu schnappen? Was gibt es Besseres als einen Haufen organisatorisch besessener Antiautoritäre, um den ewigen Schwindel des neuen wilden Kapitalismus, die Dinge zu „reparieren“, (selbst) zu verwalten, jetzt, wo die formelle Autorität aus der Mode gekommen ist und der Politiker:in vom eingefleischten Clown zum obsoleten Klon geworden ist?

Aus diesem Grund ist jetzt die Zeit zum Angriff gekommen. Es gibt nichts und niemanden, auf den wir warten können. Jetzt zu handeln, mit entschlossener Projektualität, wobei unsere zerstörerische Spannung der bestimmende Faktor in unserem Leben ist und nicht etwas, das hin und wieder aus heiterem Himmel auftaucht. Im Zeitalter von „Nutzen und Verwerfen“, Flexibilität, Schnellschüssen und Kehrtwendungen gibt es kaum den Wunsch, die Dinge zu durchdenken, Strategien und Methoden zu diskutieren, ein Zwischenziel zu bestimmen und auf den destruktiven Höhepunkt des Angriffs hinzuarbeiten.

Die Produktion von Trivialitäten hat zu einer trivialisierten Welt geführt. Einiges von dem, was sich locker als anarchistische Bewegung definiert, ist mit der städtischen Subkultur verschmolzen und hat Spannungen in einen sozialen Strudel von Benefizkonzerten und verschiedenen Formen der Betäubung, von Musik bis hin zu „weichen“ Substanzen, die den Schmerz dämpfen, umgewandelt.

Für diejenigen, die in der Logik eines horizontalen Angriffs auf die Funktionsweise der Macht (die komplex ist und sich immer in einem verzweifelten Kampf um Balance und Konsens befindet) handeln, sind die Ziele hingegen spezifisch, sie haben keine „revolutionären“, sondern aufständische Konnotationen. Einige wenige Genoss:innen, eine Analyse des betreffenden Ziels, einfache Kommunikationsmittel, ein minimaler organisatorischer Vorschlag und vor allem die Entscheidung, das Experiment bis zu seinem destruktiven Höhepunkt durchzuziehen. Eine informelle Aufstandsbewegung ist vor allem eine Methode des selbstorganisierten Angriffs, keine feste Organisation. Sie braucht keine zahlenmäßigen Voraussetzungen, um zu existieren. Einige wenige Genoss:innen könnten als Bezugsgruppe in einem aufständischen Zwischenkampf ziehen und sich entscheiden, gegen ein bestimmtes Ziel vorzugehen. Aber sie agieren nicht im luftleeren Raum, sie wollen eine bewusste Rebellion der Ausgebeuteten anstacheln und nicht nur darauf warten, dass der nächste Aufstand ausbricht. Sie wollen sich als Gruppe nicht zahlenmäßig vergrößern, sondern schlagen die Bildung minimaler selbstorganisierter Gruppen vor, die sich vervielfachen und jederzeit zu einem allgemeinen Angriff auf das Bestehende ausweiten könnten, aber nicht darauf warten müssen, bevor sie selbst angreifen.

Eine informell organisierte Projektualität destruktiver Aktionen, die sich gegen Klassenfeinde oder deren Strukturen richtet, verweigert Vermittlung, Delegation oder Verhandlungen. Sie kann KEINEN GEMEINSAMEN BASIS mit politischen Parteien, Gewerkschaften oder anderen festen politischen oder bewaffneten Strukturen haben, da diese entgegengesetzt und Feinde der Freiheit sind. Das Konzept von Bündnissen oder eines gemeinsamen Kampfes ist absurd. Parallele Linien treffen sich nie. Wenn sie es doch tun, hat die eine oder die andere ihre Essenz verloren. Anarchist:innen, die am Ende in der Illusion von zahlenmäßiger Stärke politische Bündnisse eingehen, sind Verräter:innen ihrer selbst und dessen, wofür sie angeblich stehen, und der Rebell:innen, die sie mit ihren Freiheitsschreien verzaubert hatten, um nichts weiter als geistlose Verbündete der Bossklasse zu werden.

Die Zeit wird knapp. Wir müssen unseren Zorn, unsere schlechten Leidenschaften aus dem Sumpf der Toleranz und der politischen Korrektheit retten, unsere Herzen und Gedanken auf die große Herausforderung richten, die uns bevorsteht, ausbrechen und unseren zukünftigen Genoss:innen und Komplizen begegnen, den Ausgebeuteten, den Zornigen, den Rebellen. Sie sind überall um uns herum, aber sie werden wie wir unsichtbar bleiben, bis wir mit eindeutigen Worten und vor allem mit Taten an die Öffentlichkeit treten.

Die Wirkungen des Kapitals sind da, wenn wir sie suchen, fernab von den propagandistisch verlogenen Pisten und inszenierten Ego-Trips von erfundenen Marionett:innen und Schauspieler:innen. Die meisten der für einen Angriff notwendigen Materialien sind in den Regalen der Supermärkte erhältlich und sind einfache Haushaltsgegenstände, die darauf warten, angeeignet zu werden. Der Rest, die „Hardware“, die Komplizen, die Solidarität, wird aus der Realität des Kampfes selbst und den neuen Wegen, die er aufzeigt, hervorgehen.

Jean Weir, 2016.

Fußnoten

[1] Der Originaltitel dieses Textes lautet „To the deranged“. Jemand, der „deranged“ ist, verhält sich auf eine wilde und unkontrollierte Art und Weise.



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