Nordirland. Mehr als eine Woche lang hat es auf den Straßen von Belfast Auseinandersetzungen gegeben. Schlagzeilen haben es als „loyalistische Gewalt“ beschrieben. Aber Anarchist:innen im Norden Irlands erzählten Phoenix Media Co-op, dass es bei der Gewalt nicht wirklich um das „loyalistische“ und „republikanische“ Narrativ geht, das von den britischen Medien verbreitet wird.
Ursprünglich veröffentlicht von Phoenix Media Co-op. Übersetzt von Riot Turtle.
Schüren von Spaltungen
Menschen innerhalb und außerhalb des Nordens von Irland haben drei Hauptgründe für die jüngste Zuspitzung des Konflikts angeführt. Ein beliebter Grund unter vielen Briten sind die Auswirkungen des Brexit und das Nordirland-Protokoll. Die Menschen haben jedoch auch mit dem Finger auf das Versäumnis gezeigt, hochrangige Mitglieder der Sinn Féin strafrechtlich zu verfolgen, weil sie während einer Abriegelung von Covid-19 an einer großen Beerdigung teilnahmen. Inzwischen haben einige innerhalb Irlands das harte Durchgreifen der Polizei gegen den angeblichen Drogenhandel der loyalistischen paramilitärischen Gruppe Ulster Defence Association (UDA) als einen wichtigen Faktor genannt.
Phoenix Media Co-Op sprach mit den Derry Anarchists, einer der aktivsten anarchistischen Gruppen im Norden Irlands, um eine unabhängige Perspektive zu erhalten. Auf die Frage, welche Faktoren zu der aktuellen Gewalt geführt haben, antworteten die Derry Anarchists, dass es „ohne Zweifel eine Ansammlung von Faktoren“ gibt, einschließlich der zuvor genannten.
Die Gruppe sagte jedoch, dies seien in Wirklichkeit „Ablenkungen“ von den anhaltenden wirtschaftlichen Realitäten für viele im Norden Irlands:
Es ist eine bequeme Ablenkung von der Realität dessen, was im Leben gewöhnlicher Arbeiter:innengemeinschaften, in ihren Häusern und an ihren Arbeitsplätzen passiert ist. In den letzten Jahrzehnten haben die politischen Parteien immer die „sektiererische Karte“ benutzt, um uns zu spalten, da es sie an der Macht hält, während unsere Klasse sich selbst auffrisst, wie man auf den Straßen sehen kann.
Die Anarchisten von Derry betonten auch die Rolle, die ihrer Meinung nach die loyalistischen Paramilitärs bei der Aufrechterhaltung dieser Spaltungen spielen:
Loyalistische Militärbanden, die aufgrund ihrer eigenen Finanzimperien und ihres Drogenhandels unter Druck geraten sind, haben die aktuelle Krise ebenfalls genutzt, um Spannungen zu schüren und die sektiererische Spaltung wieder zu entfachen. Besonders innerhalb der loyalistischen Arbeiter:innenklasse, wo sie die Kontrolle haben, da auch sie mit dem Finger auf die angeblich Schuldigen zeigen müssen, wieso die loyalistischen Gemeinden zu dieser Zeit ebenfalls leiden, um ihre eigene Existenz zu rechtfertigen.
Infolgedessen haben diese Paramilitärs „die Gewalt auf Brennpunkte wie die ‚Friedenslinien‘ oder Grenzgebiete gerichtet“. Videos zeigen, dass diese Symbole der Teilung, die für Sicherheit in ganz Belfast sorgen sollen, Brennpunkte für Aggressionen sind:
Die Macht des Staates
Die Anarchisten von Derry erklären, dass die loyalistischen Gangs „selbst vom Staat kontrolliert und gelenkt werden“. Dies deutet darauf hin, dass die Spaltung der Gemeinschaft vom Staat ausgenutzt wird, um die Ausbeutung der armen und arbeitenden Bevölkerung im Norden Irlands fortzusetzen. Und die aktuelle Eskalation der Gewalt ist dafür ein Beispiel.
Die Gruppe fuhr fort, die Mechanismen dieser räuberischen Beziehung zu erläutern. Als Phoenix Media Co-op nach der Macht von politischen Parteien wie Sinn Féin und der Democratic Unionist Party fragte, um Spannungen zu lösen, antworteten die Derry Anarchists:
Sie haben die Macht zu spalten, und das tun sie gut, da ihre Stimmen seit dem Karfreitagsabkommen, das selbst auf Spaltung aufgebaut war, erheblich zugenommen haben. Sie werden nur dann Erfolg haben, wenn die Gemeinschaften der Arbeiter:innenklasse gespalten bleiben und die einen gegen die anderen ausspielen.
Wir haben zum ersten Mal erlebt, dass Stormont als Teil einer Notfallreaktion auf die Gewalt auf den Straßen zurückgerufen wurde, ABER… Wir hatten noch nie einen „Notfall-Rückruf“ von Stormont, um die Auswirkungen von allgemeinen Krediten oder die Zunahme von Essensausgaben für die Arbeiter:innenklasse zu bewältigen, was uns deutlich zeigt, wo ihre Interessen tatsächlich liegen.
Sie brauchen die sektiererische Spaltung, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Sie können sie wie einen Wasserhahn auf- und zudrehen, und das kommt immer dann zum Vorschein, wenn Wahlen vor der Tür stehen.
Westminster hat am 9. April eine erschreckende Symmetrie dazu geschaffen. Obwohl die Konflikte in Belfast bereits am 2. April begonnen hatten, auch dank ihrer eigenen Aktionen, brauchte es den Tod des Herzogs von Edinburgh, damit die Regierung das Parlament wieder einberief.
Testfeld
Die Rolle Großbritanniens im Norden Irlands ist komplex, obwohl es letztlich eine kolonisierende Präsenz bleibt. Die Anarchist:innen aus Derry sagten gegenüber Phoenix Media Co-op, dass Westminsters Ausklammern der aktuellen Gewalt das „mangelnde Interesse des britischen Establishments an der Bevölkerung im Norden Irlands“ unterstreiche. Außerdem sagt die Gruppe, dass die jahrelange Rhetorik um eine „irische Seegrenze“ und das Nordirland-Protokoll bei vielen ein Gefühl der Entfremdung und des Verlassenwerdens verstärkt hat“. Obwohl sie auch sagen, „das ist nichts Neues“ für die Menschen im Land.
Die Derry Anarchists hoben hervor, dass Großbritannien den Norden Irlands als „Testgebiet für Taktiken, die anderswo im Imperium eingesetzt werden sollen“ benutzt. Der Diskurs der britischen Mainstream-Medien über die aktuelle Gewalt ist ein weiteres Beispiel dafür. Der Fokus auf „Randalierer“, die die Polizei angreifen, erinnert an die Schlagzeilen über die #KillTheBill-Demonstrant:innen. Die Funktion dieser Rhetorik ist es, die Arbeiter:innenklasse gegen sich selbst zu spalten. Und, wie die Anarchist:innnen von Derry erklärten, dient das nur den Interessen des Staates.
