
Im März erzählte mir Anton, ein Freund von mir, von seiner Absicht, nach Kyiv zu reisen. Wir vereinbarten, in Kontakt zu bleiben, und vor seiner Abreise entstand die Idee, seine Erfahrungen, Gedanken und Begegnungen in einer Serie von Artikeln zusammenzufassen, mit denen wir anarchistische und antiautoritäre Genoss*innen über die Situation der Anarchist*innen in der Ukraine inmitten des Konflikts auf dem Laufenden halten könnten. Wir kamen zu dem Schluss, dass es praktischer wäre, die Artikel auf der Grundlage von Interviews die ich mit Anton geführt habe, zu verfassen, damit er sich auf seine anderen Aktivitäten dort konzentrieren kann. Der endgültige Text, den ihr hier lesen könnt, wurde von Anton geprüft und genehmigt. Dies ist der erste Artikel der Serie.
Eingereichter Beitrag. Übersetzt von Riot Turtle.
Die Idee hinter diesen Beiträgen ist es, Instrumente zur Analyse des Krieges und seines weiteren geopolitischen Kontextes anzubieten, aber auch die Menschen zu ermutigen und zu mobilisieren, langfristige Solidarität mit den Menschen im Kampf aufzubauen, was wir sowohl jetzt als auch in Zukunft für wichtig halten. Wir sind beide der Ansicht, dass der Krieg in der Ukraine nicht nur ein Konflikt zwischen zwei Nationalstaaten ist, sondern auch Teil einer Reihe breiterer und sehr problematischer politischer Entwicklungen, einschließlich des Aufstiegs der rechtsextremen und rechtspopulistischen Bewegungen, groß angelegter Propagandaaktivitäten zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung, des Aufbaus festungsartiger Grenzen, der Einschränkung der Bewegungsfreiheit und so weiter.
Anton, wo bist du gerade?
Ich bin in Polen, sagen wir in der Nähe der ukrainischen Grenze. Ich möchte nicht genau sagen, wo, da unsere Gruppe hier beschlossen hat, den genauen Ort nicht zu veröffentlichen.
Wer ist sonst noch da?
Die aktiven Gruppen hier sind Operation Solidarity, das No Border Team, Anarchist Black Cross Galicja und Anarchist Black Cross Dresden. Sie organisieren hauptsächlich Solidaritätskampagnen und verwalten den Fluss von Spenden und anderen Formen der Unterstützung aus verschiedenen Teilen Europas an die polnisch-ukrainische Grenze und weiter in die Ukraine – Waren, Geld und Menschen. In den letzten Wochen haben wir herausgefunden, was die spezifischen Bedürfnisse unserer Genoss*innen in der Ukraine sind, und wir versuchen, ein System zu organisieren, um diese zu decken, Dinge zusammenzutragen und sie weiterzuschicken.
Wen beliefert ihr in der Ukraine?
Es gibt eine lokale anarchistische/antiautoritäre Verteidigungseinheit in Kyiv, und einzelne Anarchist*innen kämpfen in der ukrainischen Armee oder sind anderweitig in verschiedenen Teilen des Landes aktiv. Natürlich unterstützen wir diese Genoss*innen. Außerdem schicken wir medizinische Hilfsgüter, Medikamente, Windeln und andere notwendige Dinge an Krankenhäuser und andere Orte in Not.
An welchen praktischen Tätigkeiten bist du dort beteiligt?
Ich organisiere die Güter, die hier angekommen sind, für ihren Weitertransport. Ich war auch in der Medienarbeit aktiv und habe versucht, die Kommunikation zwischen den verschiedenen beteiligten Gruppen zu verbessern. Ich habe Texte und Erklärungen über die Aktivitäten dieser Gruppen gesammelt, um die gemeinsame Organisation und Analyse unserer Aktivitäten voranzutreiben. Mein Ziel ist es, eine sich regelmäßig aktualisierende Kommunikationsstruktur zu schaffen, die Informationen effizienter herausgibt, um zur Bewusstseinsbildung und zur Organisation von Solidarität in anderen Teilen Europas beizutragen, aber auch um einen Beitrag zur Analyse der Beteiligung der anarchistischen und antiautoritären Bewegungen am Krieg zu leisten.
Als der Krieg begann, war die Reaktion, Unterstützung und Solidarität in Bezug auf Umfang und Geschwindigkeit beträchtlich, aber jetzt scheint es, dass das Hilfsangebot zurückgegangen ist und es weniger Interaktion gibt. Das ist einer der Gründe, warum es dringend notwendig ist, unsere Anstrengungen zu kommunizieren, damit sich mehr Gruppen beteiligen und ein nachhaltiges und dauerhaftes Netzwerk der Solidarität geschaffen werden kann. Ich versuche, ein System zu entwickeln, das sicherstellt, dass diese Art der Kommunikation von selbst weiterläuft, ohne dass jemand Vollzeit daran arbeiten muss.
Möchtest du deine Gründe erklären, warum du dorthin gegangen bist?
Ja, ich habe zwei wichtige Gründe für diese Entscheidung. Der erste war, als die russische Armee begann, Truppen an der ukrainischen Grenze zu mobilisieren und schließlich das Land angegriffen hat. Das war ein klares Zeichen, dass ich meine anderen politischen Verpflichtungen zurückstellen und dieser Sache Vorrang einräumen musste. Putin und die politischen Kräfte, die er in Europa unterstützt, sind eine echte Bedrohung für die Menschen in Europa und insbesondere für antizipatorische Bewegungen. Europa bewegt sich nicht mehr in Richtung Freiheit. In den letzten 20 Jahren hat der russische Staat rechtsextreme Parteien, Gruppen und Politik unterstützt, der Nationalismus fasst immer mehr Fuß, und all das ist im Begriff, die wenigen Freiheiten, die wir in Europa genossen haben, zu zerstören. Die Situation, die jetzt in der Ukraine herrscht, ist auch in anderen Teilen Europas möglich. Es gibt hier Anarchist*innen, die in Belarus und Russland aktiv waren und persönlich erfahren haben, was diese Repression bedeutet. Putin ist die schlechteste aller Möglichkeiten, die wir haben.
Der andere Grund, der damit zusammenhängt, ist oder war die Wahl in Frankreich, die eindeutig eine Kriegswahl war. Frankreich ist ein Land mit Atomwaffen und ist strategisch ein sehr wichtiger Akteur*in. Hätte Le Pen die Wahl gewonnen, sähe die Situation mit Putin, dem Krieg in der Ukraine und den europäischen konservativen Kräften im Allgemeinen ganz anders aus. Nun, Macron hat gewonnen, also haben wir vielleicht noch ein paar Jahre Zeit, uns auf das Schlimmste vorzubereiten.
Ich hoffe, ich muss nicht klarstellen, dass ich kein Anhänger von Macron oder in irgendeiner Weise eurozentristisch bin, ich bin Anarchist. Es ist jedoch klar, dass Bewegungsfreiheit und der Abbau von Grenzen eine viel bessere Richtung sind als die Errichtung von Mauern und die Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Es fällt mir leicht, Bakunins Auffassung zu teilen, dass selbst eine schlechte Demokratie viel besser ist als jede Diktatur.
Ich könnte noch mehr über meine Beweggründe für meine Anwesenheit hier erzählen, aber in letzter Zeit sind einige gute Kurzdokumentationen von Alexis Daloumis entstanden. Sie befassen sich mit der Motivation von Anarchist*innen, die sich am Krieg in der Ukraine beteiligen, und enthalten viele gut begründete Positionen. Diese Filme beantworten auch sehr gut andere allgemeine Fragen über anarchistische Positionen in Bezug auf diesen Krieg. Ich kann sie nur empfehlen.
Was hast du dort sonst noch gemacht?
Ich habe gelernt, wie man Autos repariert. Bevor ich hierher kam, habe ich kaum einen Reifen gewechselt, aber jetzt hat mir ein Mechaniker*in etwas beigebracht. Die Leute kommen und gehen. Ich habe sogar mit dem Rauchen aufgehört. Ich habe versucht, joggen zu gehen, aber das Wetter ist schon seit einiger Zeit richtig schlecht. Aber einmal hatten wir die Gelegenheit, zusammen Fußball zu spielen.
Links
https://operation-solidarity.org/
https://nobordersteam.noblogs.org/
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