
Das „Super“ Wahljahr hat angefangen. Aber reicht es wenn Anarchisten sich „Enthalten“? Ein weiterer Beitrag von Alfredo M. Bonanno: Enthalten. Wir gendern unsere Texte fast immer. Da es aber Alfredos Wunsch ist, nicht zu gendern, werden wir seine Texte von nun an nicht mehr gendern.
Ursprünglich veröffentlicht in „Edizioni Anarchismo“ n. 46, April 1985, Seite 2 unter dem Titel: „Elezioni: cambiare per restare identici“. Geschrieben von Alfredo M. Bonanno. Übersetzt von Riot Turtle.
Wir waren schon immer gegen Wahlen. In jeder Form und Art. Politische, lokale, zonenbezogene Wahlen; Gewerkschaftswahlen, Schulwahlen, etc.
An Wahlen teilzunehmen bedeutet, dass man „delegiert“, sich also in die Hände anderer Menschen ergibt. Die meisten Menschen werden durch ideologische Programme und einfache Worte manipuliert. Anarchisten haben nie unter diesem Missverständnis gearbeitet.
Wer an der Macht teilnimmt, wird selbst zur Macht. Denn ein optimales Management von Macht gibt es nicht. Es gibt ein besseres und ein schlechteres Management, aber von der Tiefe einer Diktatur bis zur (scheinbar) goldenen Oberfläche einer toleranten Demokratie enden die Ausgebeuteten immer damit, zu gehorchen, Opfer zu bringen und das Klassensystem zu akzeptieren, in der Hoffnung, dass ihre Herrschenden ihnen irgendein Zugeständnis machen werden.
Aus jeder politischen Perspektive, unter jeder Farbe und jedem Programm, werden die Ausgebeuteten gezwungen, auf die Knien zu fallen, um Ja zu sagen. Um diesen Zustand zu untergraben, müssen wir die Perspektive wechseln. Ich spreche nicht von einer anderen Wahl, sondern von einer anderen Perspektive. Wir brauchen keine neuen Programme, andere Menschen oder Parteien; was wir brauchen, ist, dass die Menschen, die Ausgebeuteten, die Arbeiter, die Erwerbslosen, die Frauen, die Studenten – kurz gesagt, die große Mehrheit der Bevölkerung – beschließen, die Angelegenheiten, die ihre Zukunft betreffen, in ihre eigenen Hände zu nehmen. Im Grunde genommen müssen wir die Delegation ablehnen und die direkte Aktion anwenden. Natürlich sind das nur schöne Worte, die Anarchisten übrigens jedes Mal wiederholen, wenn es eine Wahl gibt. Nicht zu wählen ist nicht genug. Das ist richtig. Die traditionelle Enthaltung, selbst die anarchistische, selbst die absolute und ständige Enthaltung, reicht nicht aus. Sie ist ein platonisches Instrument, das nur in besonderen historischen Momenten, wenn wir mit extremen Widersprüchen seitens des Kapitals und des Staates konfrontiert sind, eine Bündelung der antagonistischen Kräfte bewirken kann. Ansonsten, wenn die Situation mehr oder weniger stabil ist und die Macht mit regelmäßigen politischen und administrativen Anpassungen fortschreitet, schafft die Stimmenthaltung nur einen idiologischen Dissens.
Wir müssen einen Schritt nach vorne machen. Wir haben schon oft darüber gesprochen, aber mir ist klar, dass dies ein sehr schwieriges Gespräch ist. Viele Genossinnen und Genossen glauben, dass das Problem der Enthaltung losgelöst ist von dem ständigen Prozess der Rückgewinnung von Zustimmung, der in einer demokratischen Ordnung üblich ist. Man nehme zum Beispiel die Meinungskampagnen, die üblichen Plakate, die üblichen Flugblätter, die jedes Mal auftauchen und dann wieder verschwinden, wenn die Macht das Ende ihrer Amtszeit erreicht.
Ich denke, wir können einige Punkte zusammenfassen, die wir untersuchen sollten, um einen zusammenhängenden und vor allem effizienteren Ansatz zur Enthaltung zu entwickeln:
- Verschiedene Beratungsebenen: politisch, administrativ, industriell, pädagogisch, regional, medizinisch, usw..
- Beharrliche Wahlenthaltung, unabhängig von den Wahlterminen.
- Ein Konzept der alternativen Intervention. Das heißt, eine Massenaktion, um alternative Lösungen auf lokaler Basis vorzuschlagen, indem Druck von außen ausgeübt wird, in jeder beratenden Realität.
- Aufbau von Strukturen der regionalen Enthaltung auf der Grundlage der Autonomie des Kampfes, der Selbstverwaltung und des Prinzips des permanenten Kampfes.
- Merkmale dieser (Massen-)Strukturen.
- Beziehung zwischen diesen zonenbezogenen Strukturen der Enthaltung und der spezifischen anarchistischen Bewegung.
- Ausarbeitung von Informationen zu peripheren Themen (von Städten, Regionen oder Stadtteilen).
- Globalisierung der Intervention in jeden Aspekt der Realität (Militarisierung des Territoriums, des Gefängnissystems, der Atomenergie, der Ökologie, der Grundversorgung, der Gesundheitsversorgung, der Beschäftigung, der produktiven Entscheidungen, der Kultur usw.).
An die Person, die diese Worte liest, bitte schreibt uns nicht mehr Möglichkeiten und weniger Intelligenz zu, als wir haben. Unserer ist nur ein Vorschlag zur Recherche. Wir sind uns völlig bewusst, dass wir vorerst nicht weiter gehen können, aber wir denken, dass es sinnvoll ist, zumindest einen Schritt vorwärts in Bezug auf den Stillstand der traditionellen Enthaltung vorzuschlagen.