
Dieses Manifest wurde von Migrant*innen verfasst, die während mehr als 100 Tage vor dem „UNHCR Community Center“ in Tripolis protestierten.
Ursprünglich veröffentlich von Barrikade Info.
Anfangs Oktober 2022 haben das libysche Militär und die Polizei den Ort Gargaresh überfallen, welcher westlich von Tripolis liegt und das Zuhause von vielen Migrant*innen ist. Mit Schusswaffen ausgerüstet, haben sie Türen eingebrochen, Wohnungen durchsucht und die Bewohner*innen gewaltsam heraus gezerrt. Tausende wurden festgenommen und in Lagern untergebracht.
Viele flohen darauf vor das UNHCR Hauptquartier in Tripolis auf der Suche nach Schutz und Gerechtigkeit.
Anfangs Januar 2022 griffen libysche Sicherheitskräfte den Protest äußerst gewaltvoll an. Zelte wurden verbrannt, Migrant*innen verletzt und festgenommen und in ein Lager in Ain Zara gebracht. Die Bilder und Nachrichten, welche Migrant*innen aus Ain Zara veröffentlichen, zeigen grausame Lebensbedingungen. Eine grosse Mitverantwortung für diese Zustände tragen westliche Institutionen; wie das UNHCR oder die EU und ihre Grenzschutzbehörde Frontex.
Weitere Informationen gibt es auf: www.refugeesinlibya.org
Unser politisches Manifest
Wir sind Geflüchtete und wir leben in Libyen.
Wir kommen aus Südsudan, Sierra Leone, Tschad, Uganda, Kongo, Ruanda, Burundi, Somalia, Eritrea, Äthiopien und Sudan. Wir sind auf der Flucht vor Bürger*innenkriegen, Verfolgung, Klimawandel und Armut in unseren Herkunftsländern. Wir wurden alle von unaushaltbaren Zuständen zur Flucht gedrängt.
Wir versuchten Europa zu erreichen, auf der Suche nach einer zweiten Chance für unser Leben und gelangten deshalb nach Libyen. Hier wurden wir zu unsichtbaren Arbeitskräften der libyischen Wirtschaft: Wir errichten Backsteinmauern und bauen libysche Häuser; wir reparieren und waschen libysche Autos; Wir produzieren Früchte und Gemüse für libysche Bäuerinnen und Bauern und für libysche Teller; Wir montieren Satellitenschüsseln auf hohen Dächern für die libyschen Bildschirme usw.
Offensichtlich reicht das den libyschen Behörden nicht. Unsere Arbeitskraft ist nicht genug. Sie wollen die volle Kontrolle über unsere Körper und unsere Würde. Bei unserer Ankunft trafen wir auf einen Alptraum von Folter, Vergewaltigung, Erpressung und willkürlicher Einsperrung… Wir litten unter jeder möglichen und unvorstellbaren Verletzung der Menschenrechte.
Nicht nur einmal.
Wir wurden von der so genannten libyschen Küstenwache – finanziert von den italienischen und europäischen Behörden – gewaltvoll abgefangen und zurück in die Gefängnisse und unmenschlichen Konzentrationslager verbracht. Einige von uns mussten diesen Kreislauf der Demütigung zwei, drei, vier, fünf, bis zu zehn Mal wiederholen.
Wir versuchten unsere Stimmen zu erheben und unsere Geschichten zu verbreiten. Wir erzählten sie Institutionen, Politiker*innen und Journalist*innen, aber abgesehen von ganz wenigen Interessierten blieben unsere Geschichten ungehört. Wir wurden absichtlich zum Schweigen gebracht.
Aber nicht mehr länger.
Seit dem 1. Oktober 2021, dem Tag an dem die libysche Polizei und bewaffnete Kräfte in unsere Häuser im Gargaresh-Viertel eindrangen und skrupellos brutale und gnadenlose Razzien gegen uns durchführten, wurden Tausende willkürlich verhaftet und in unmenschliche Konzentrationslager gesperrt.
Am darauf folgenden Tag versammelten wir uns als Individuen vor dem UNHCR Hauptquartier. Hier haben wir verstanden, dass wir keine andere Wahl haben, als uns zu organisieren.
Wir haben begonnen, unsere Stimmen zu erheben. Wir erhoben die Stimmen der stimmlosen Geflüchteten, die fortwährend zum Schweigen gebracht wurden. Wir können nicht länger ruhig bleiben, während sich niemand für uns und unsere Rechte einsetzt.
Hier sind wir nun und beanspruchen unsere Rechte und verlangen Schutz in sicheren Ländern.
Deshalb fordern wir hier und jetzt mit unserer Stimme:
1. Die Evakuierung in sichere Länder, wo unsere Rechte geschützt und respektiert werden.
2. Gerechtigkeit und Gleichheit für Geflüchtete und Asylsuchende, die vom UNHCR in Libyen registriert werden.
3. Das Ende der Finanzierung der libyschen Küstenwache, die fortwährend und gewaltvoll Geflüchtete, die versuchen der libyschen Hölle zu entkommen, abfängt und sie zurück nach Libyen schafft, wo sie erneut Gräueltaten ausgesetzt sind.
4. Die Schliessung aller Konzentrationslager in Libyen, die vollständig von den italienischen und europäischen Behörden finanziert werden.
5. Die Behörden sollen jene vor Gericht ziehen, die unsere Brüder und Schwestern innerhalb und ausserhalb der Konzentrationslager erschossen haben.
6. Die libyschen Behörden sollen aufhören, Menschen, die eigentlich dem UNHCR unterstehen, in Konzentrationslager einzusperren.
7. Libyen soll die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 unterzeichnen und ratifizieren.