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Interview mit A. Teil 3, 23. März 2022 [Ukraine]

Ukraine. Das folgende Interview wurde von Tous Dehors geführt. Das Interview vom 23. März 2022 ist Teil 3 einer Serie von Interviews. Teil 1 findet ihr hier. Teil 2 findet ihr hier.

Ursprünglich veröffentlicht von Tous Dehors. Übersetzt von Riot Turtle.

Der Krieg dauert nun schon einen Monat an, hat sich das tägliche Leben wesentlich verändert?

Ich glaube, die Menschen fangen an zu verstehen, dass es nicht so schnell vorbei sein wird, obwohl diese Erkenntnis leider nicht viel daran ändert. Die Schüler*innen haben ihre standardisierten Prüfungen vergessen (die im Mai-Juni anstehen und für den Abschluss der High School erforderlich sind), wissen aber immer noch nicht, was die Zukunft für sie bereithält. Die Zahlungen des Staates an die Binnenvertriebenen sind so gering (2000 UAH = 68 $ [62 €] zu den Vorkriegskursen + 3000 UAH [93 €] für jedes Kind), dass die Menschen sich nach Arbeit umsehen müssen, um weiterhin Lebensmittel und Miete bezahlen zu können. Die Zentralbank hat die Wechselkurse eingefroren, und der Schwarzmarkt ist die einzige Möglichkeit, sich Devisen zu beschaffen, wobei die Kurse stark schwanken (manchmal das 1,5- bis 2-fache des Vorkriegskurses). Daher können die Flüchtlinge in Europa nicht sicher sein, dass ihre Ersparnisse in ukrainischen Banken noch vorhanden sind, wenn der Wechselkurs wieder freigegeben wird. Der plötzliche Schock der Invasion hat sich in ständige Versorgungsprobleme und einen langfristigen Zermürbungskrieg verwandelt.

Was bedeutet der Zustrom von Menschen aus anderen Regionen in Lviv (also ziemlich weit weg von der Frontlinie) in Bezug auf Arbeit, Preise usw.? Haben die jüngsten Bombardierungen in der Region Lviv etwas am Verhalten der Menschen und den Behörden geändert?

Die Aussicht auf den Zustrom von Geflüchteten hat schon vor der Invasion zu einem Anstieg der Mietpreise geführt, und nach der Invasion erklärte der Bürgermeister von Lviv, dass es Verrat sei, die Mietpreise zu erhöhen. Soweit ich weiß, besteht der einzige Mechanismus zur Preiskontrolle darin, Vermieter*innen, die die Preise zu sehr anheben, öffentlich an den Pranger zu stellen. Es sind viele Menschen in der Stadt angekommen, aber die Verfügbarkeit von Waren ist ziemlich stabil, auch wenn es manchmal zu Verzögerungen bei Just-in-time-Lieferungen kommt, die zu leeren Regalen führen und an die Zerbrechlichkeit des gesamten Systems erinnern. Die Geflüchtete werden größtenteils von Freiwilligenorganisationen untergebracht, eingekleidet und verpflegt, und die Milizen zur „territorialen Verteidigung“ wurden in den ersten Tagen nach der Invasion gebildet und personell besetzt. Sie sind es, die die Ausgangssperre durchsetzen, in der Stadt patrouillieren und Kontrollpunkte einrichten. Die Einberufung ist sehr unberechenbar: In einigen Regionen werden anscheinend überhaupt keine Leute eingezogen, während andere neu angekommene Geflüchtete aufsammeln, aber im Allgemeinen ist die Einberufungsquote noch nicht sehr hoch. Die Bombardierungen haben die Einstellung der Menschen definitiv verändert, aber da in der Westukraine nach wie vor wenig bis gar keine Gefahr besteht, dass zivile Gebiete bombardiert werden, sind die Luftalarm-Sirenen nicht so störend. Kinos, deren Säle zuvor für militärische Übungen genutzt wurden, haben wieder geöffnet, obwohl sie den Film unterbrechen, sobald eine Luftalarm-Sirene ertönt.

Sind die Preise stark gestiegen?

Da die Wechselkurse eingefroren wurden, befindet sich die ukrainische Währung derzeit in einer seltsamen Schwebe. Offiziell sind die Preise meist gleich geblieben, mit leichten Erhöhungen bei Grundnahrungsmitteln. Aber in den örtlichen Lebensmittelgeschäften und auf den Märkten sind die Grundnahrungsmittel um 10-30 % teurer geworden. Auch wenn es manchmal zu drastischen Preiserhöhungen kommt, wie z. B. beim Benzin, das manchmal 150 % des Vorkriegspreises kostet, wobei der Staat derzeit versucht, die Preise zu kontrollieren, ist das größte Problem die Verfügbarkeit der Waren. An einigen Tankstellen fehlen immer noch bestimmte Oktanwerte, und selbst in den Städten, die weit von der Frontlinie entfernt sind, kann es vorkommen, dass in den Regalen der Geschäfte Grundnahrungsmittel fehlen. Preiserhöhungen sind in den Städten, die näher an der Frontlinie liegen, häufiger zu beobachten, aber die größte Befürchtung ist, dass man sich in einem Laden wiederfindet, in dem es nur noch hochwertige Grundnahrungsmittel gibt, während die günstigen schon vor langer Zeit aufgekauft wurden. Dies ist nur meine begrenzte Sicht der Dinge zum jetzigen Zeitpunkt, und die Instabilität könnte in bestimmten Regionen zu noch größeren Versorgungsproblemen führen.

Wie stark ist die Wirtschaft geschädigt (Arbeitsmarkt, Warenverkehr, Abbruch der Handelsbeziehungen mit Russland usw.)?

Ich fürchte, die Folgen werden wir erst später sehen können. Der Einbruch des ukrainisch-russischen Handels hat seit 2014 zugenommen und ist vor allem in der Ostukraine zu spüren, insbesondere in den grenznahen Städten, die vom russischen Handel abhängig waren. Dieses Teil der Bevölkerung wird nun vorübergehend in der Westukraine und in der EU Arbeit suchen. Die ukrainische Regierung hat verschiedene Steuererleichterungen eingeführt, aber das reicht offensichtlich nicht aus, um die Wirtschaft im Westen anzukurbeln. Ich denke, dass die Freiwilligenorganisationen, die derzeit den Menschen beim Überleben helfen, hier entscheidende Punkte für die Organisation sein könnten. Auch wenn sie dazu beitragen, die Probleme der Regierung auszugleichen, könnte eine Konzentration von Geflüchteten an einem Ort nicht gerade glücklich darüber sein, dass sie keine Arbeit finden und die Versorgung langsam abnimmt, wenn die EU ihre Hilfe notwendigerweise einstellt.

Was die „Kriegswirtschaft“ betrifft, so bin ich sehr skeptisch, ob die ukrainische Regierung in der Lage ist, sie durchzusetzen, auch aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit der „Preisaufsicht“. „Es könnte zu einem gewissen Einsatz von Zwangsarbeiter*innen kommen, da sich jeder, der sich für die Auszahlung von Unterstützung für Geflüchteten anmeldet, bereit erklärt, „sozial nützliche“ Arbeit zu verrichten, aber ich bin nicht derjenige, der diesbezügliche Vorhersagen macht.

Wie steht es mit dem Fehlen der „Linken“ in der Ukraine?

Es ist in der Tat so, dass es in der Ukraine keine bedeutende „sozialdemokratische“ oder „Arbeiter*innenpartei“ gibt. Um ehrlich zu sein, weiß ich auch nicht genau, wie das passiert konnte! Das prägt die Antiautoritären in der Ukraine, weil die Tatsache, dass der Aufstand trotzdem stattfinden muss, ziemlich klar ist, und Leute, die nur eine Sozialdemokratie aufbauen wollen, werden nicht ernst genommen. Ich denke, dass ein Teil des Grundes, warum sich eine solche Partei nicht gebildet hat, darin liegt, dass jede einzelne Bewegung alles, was mit solchen Parteien zu tun hat, als Teil einer negativen sowjetischen Vergangenheit ansieht, und zum Teil liegt es daran, dass der Nationalismus aus der Schale der ukrainischen Sowjetrepublik auftaucht und die Bevölkerung weiter polarisiert. Während in Russland solche Parteien in den letzten Jahren an Popularität gewonnen haben, gibt es in der stagnierenden ukrainischen Wirtschaft kaum Platz für einen sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat, nicht einmal auf theoretischer Ebene, und jede Regierung müsste Kürzungen durchsetzen, um den Anforderungen des Marktes gerecht zu werden.

Wie sieht es auf militärischer Ebene mit ukrainischen Gegenangriffen aus?

Die ukrainische Armee scheint einen Gegenangriff auf die russischen Truppen ausgeführt zu haben, die versuchten, Izyum einzunehmen, aber der Gegenangriff, der die russische Armee angeblich bis zur Grenze nordwestlich der Stadt zurückgedrängt haben soll, ist reine Fantasie. Die einzigen erfolgreichen Gegenangriffe (und nicht nur örtlich begrenzte Versuche, Flüsse und Städte zu halten) scheinen in der Gegend von Mykolaiv stattgefunden zu haben, wo sich die russischen Truppen zu sehr verstreut haben und sich nun fast bis nach Cherson zurückgezogen haben, während der Angriff auf Kryvyi Rih immer noch in Richtung Norden verläuft. Generell sollte man den ukrainischen Berichten nicht zu viel Vertrauen schenken, wenn sie nicht durch Fotos, Videos oder Bestätigungen Dritter ergänzt werden, einfach weil auch die Informationsfront Teil dieses Krieges ist und die Ukraine es ernst meint, ihn zu gewinnen.

Gibt es Nachrichten aus Donbass?

Leider weiß ich das nicht, die Menschen, die ich auf der anderen Seite der Frontlinie jenseits des Donbass kenne, haben große Angst, zu telefonieren und versuchen, sich zu verstecken. Die Milizen terrorisieren zunehmend die lokale Bevölkerung: Es gibt viele Berichte über Menschen, die aus ihren Wohnungen und von der Straße geholt werden, um die Reihen der russischen Armee zu verstärken.

Es scheint, dass die Proteste in den besetzten Gebieten weitergehen: sind sie in eine Art Routine übergegangen?

Ich denke, „Routine“ ist der beste Weg, es zu beschreiben, obwohl wir verstehen müssen, dass diese Routine immer noch mitten im Kriegsgebiet stattfindet und ständig der Repression der Bereitschaftspolizei ausgesetzt ist. Ich habe Berichte über ukrainische Partisaninnen gesehen, die Kollaborateurinnen „bestrafen“, aber nicht viel über andere Arten von Störungen.

Ändert die Ankunft der tschetschenischen und syrischen Truppen den nationalistischen Diskurs?

Die syrischen Truppen sind noch nicht in der Ukraine angekommen, aber die tschetschenischen Truppen sind seit dem ersten Tag hier; es gibt zahlreiche Bestätigungen, dass sie in Mariupol und in der Umgebung von Kyiv kämpfen. Die antimuslimischen Äußerungen des stellvertretenden Bürgermeisters [Borys Filatov, der erklärte, dass „jeder getötete Kadyrow-Soldat*in in zugenähten Schweinsfellen begraben wird. Wir werden sehen, wie der „Himmel“ sie aufnehmen wird“] sind nur ein Beispiel für die nationalistische Rhetorik, die vorgibt, dass alle Tschetschen*innen als rechte Supersoldat*innen geboren werden. Es gibt viele Berichte über „Schweinefett-Kugeln“, die gegen die Kadyrowzis eingesetzt werden, verschiedene sexistische Anspielungen auf tschetschenische Mütter und vieles mehr.

Was ist mit den Protesten in Russland und Belarus?

Die Proteste in Russland sind anscheinend abgeklungen, und eine riesige Welle von Repressionen rollt durch das ganze Land. Die einzige erfolgreiche Störung, von der ich gehört habe, sind belarussische Eisenbahner, die die Verbindungen mit der Ukraine sabotieren und damit die ohnehin schon gravierenden Versorgungsprobleme der russischen Streitkräfte rund um Kyiv weiter verzögern.

Die ukrainische Regierung und vor allem der Geheimdienst (SBU) kommunizieren viel über Desertion in der russischen Armee: Was sollen wir davon halten?

Ich hoffe, dass dies wahr ist, aber ich fürchte, ich habe keine Bestätigung dafür gesehen, die über ukrainische Geheimdienstquellen hinausgeht.

Hast du etwas über Plünderungen, Desertion oder die Verweigerung der Wehrpflicht in der Ukraine zu berichten?

Die patriotische Einstellung scheint vorerst zu überwiegen, so dass Wehrdienstverweigerung nur vereinzelt stattfindet und lokal begrenzt ist. Ich fürchte, mehr kann ich dazu im Moment nicht sagen.


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