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Falsche Vorstellungen vom Imperialismus und kollektive anarchistische Traumata [Ukraine] – Von Antti Rautiainen

Einen interessanten Beitrag von Antti Rautiainen. Wir teilen nicht alles in diesem Beitrag, aber wir halten diesen Artikel für einen wichtigen Beitrag zur Diskussion über den Krieg in der Ukraine (und darüber hinaus) und die Haltung von Teilen der Linken und einiger Anarchist*innen zu diesem Krieg, insbesondere in westlichen Ländern. Enough 14.

Bild oben: Mariupol nach Beschuss und Bombardierung durch russische Truppen. Mitropolitskaya Straße, 108 am 16. März 2022. Lizenziert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International Lizenz. Bild von Wanderer 777.

Ursprünglich veröffentlicht von Avtonom. Geschrieben von Antti Rautiainen. Übersetzt von Riot Turtle.

Podcast-Versionen (Englisch): SoundcloudSpotify

Seit Beginn der russischen Invasion gegen die Ukraine haben wir Erklärungen von Anarchist*innen, Kommunist*innen und Linken gesehen, die nicht aus der Ukraine stammen, in denen es darum ging, dass ukrainische Anarchist*innen, Kommunist*innen und Linke sich nicht gegen den Angriff Putins verteidigen, sondern ihre Waffen niederlegen und stattdessen fliehen sollten.

Jede Art von Dialog mit diesen Leuten wäre wahrscheinlich sinnlos. Aber wir könnten darüber diskutieren, wie die anarchistische und linke Theorie in einen so erbärmlichen Zustand geraten ist. Ich habe keine Antwort parat, aber ich vermute, dass es zwei Hauptgründe gibt. Erstens eine schwache linke Imperialismustheorie, die sich auch unter Anarchist*innen ausgebreitet hat, sowie anarchistische kollektive Traumata aufgrund historischen Scheiterns. Zweitens analysieren viele Anarchist*innen und Linke jede Situation aus der Perspektive ihres eigenen lokalen Kontextes und ihrer eigenen Geschichte und verstehen die Realität in anderen Ländern nicht.

Vor dem anarchistischen Scheitern in den 1920er, 1930er und 1940er Jahren haben Anarchist*innen nie solche sinnlosen Erklärungen abgegeben. In Finnland und Korea zum Beispiel schlossen sich Anarchist*innen den Kämpfen für nationale Unabhängigkeit an, und Anarchist*innen aus den Empires, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten, Großbritannien, den Niederlanden und Japan, kämpften gegen den Kolonialismus und Imperialismus ihrer eigenen Regierungen. Damals forderte kein Anarchist*in die nationalen Befreiungsbewegungen auf, ihre Waffen niederzulegen und zu fliehen.

Was ist falsch an theoretischen Ansätzen zum Imperialismus?

Die Schwäche der linken Imperialismustheorie ist zumindest teilweise auf Lenin zurückzuführen. Lenin zufolge war der Imperialismus das Endstadium des Kapitalismus, in dem der Kapitalismus zwangsläufig expandiert, die Peripherie erobert und schließlich auf globaler Ebene den freien Wettbewerb zerstört, der den Kapitalismus einst geschaffen hat. Die leninistische Definition des Imperialismus war für Lenin selbst praktisch, denn im Kontext dieser Definition waren die von der russischen Sowjetmacht unter Lenin geführten Angriffe auf Polen, die Ukraine, Aserbaidschan, Armenien und Georgien keine imperialistischen Invasionen.

Die leninistische Definition hindert uns auch daran, viele historische Beispiele des Imperialismus zu verstehen. Oft ist die Eroberung nicht durch Profite motiviert, sondern durch das Sicherheitsinteresse, Pufferzonen zu schaffen. Dies gilt insbesondere für den Imperialismus des Russischen Reiches und der Sowjetunion. Als Zar Alexander I. im Jahr 1809 Finnland eroberte, war Finnland das ärmste Land in Europa und verursachte somit nur Kosten für Russland. Der einzige Grund für die Eroberung Finnlands war die Schaffung einer Sicherheits-Pufferzone um Sankt Petersburg.

Auch wenn sich das heutige Russland ansonsten völlig vom russischen Kaiserreich unterscheidet, ist einer der Hauptgründe für Putins Angriff auf die Ukraine derselbe wie Alexanders Gründe für die Eroberung Finnlands – die Schaffung einer Sicherheits-Pufferzone. Selbst wenn Putin den Krieg gewinnen sollte, vernichtet der Angriff in einem Zeitraum von weniger als hundert Jahren mehr Kapital als er schafft. Es waren nicht die russischen Oligarchen und das Kapital, die den Krieg begonnen haben. Teile der Spitze des russischen Kapitals, wie die Führung des Ölkonzerns Lukoil, haben sogar offen gegen den Krieg protestiert.

Ganz allgemein steckt der Kapitalismus hinter allen modernen Kriegen, denn der Kapitalismus schafft Anreize für Wettbewerb statt für Zusammenarbeit. Aber der Mechanismus, durch den der Kapitalismus Kriege verursacht, ist komplizierter als die Linke denkt. Die Versuche der Linken, alle Kriege auf die Handlungen des Kapitals zu reduzieren, sind oft schwach, vor allem wenn es in den Gebieten, auf die die Eroberung abzielt, kein Öl gibt.

Im Jahr 1999 behauptete die Linke, die Nato und die USA hätten sich verschworen, um eine Ölpipeline durch das Kosovo zu bauen, und dies sei der Grund für die Bombardierung Jugoslawiens. Nach 23 Jahren gibt es die Pipeline immer noch nicht. Im Jahr 2001 behauptete die Linke, dass der Plan darin bestand, eine Ölpipeline durch Afghanistan zu bauen, und dass dies der Grund für die Invasion war. Die Pipeline gibt es immer noch nicht. Die Gründe für diese Invasionen waren nicht das Öl, aber sie waren auch nicht edel oder humanitär. Die Gründe waren eindeutig ideologischer Natur: Es ging darum, eine bestimmte internationale Rechtsordnung zu schaffen und frühere Demütigungen zu rächen.

Putins Einmarsch in die Ukraine hat ähnliche Gründe. Neben der Errichtung einer Sicherheitszone will Putin die Demütigungen rächen, die während des Zusammenbruchs der Sowjetunion aus der Sicht eines KGB-Agenten stattgefunden haben. Er will auch eine lokale ultranationalistische Vision verwirklichen, nämlich alle russischsprachigen Gebiete in einen einzigen Staat zu verwandeln. Die Brutalität der Artillerie- und Raketenteppiche ist kein Ziel an sich, sondern darauf zurückzuführen, dass Russland nicht über die modernste Militärtechnologie verfügt, um Luftüberlegenheit und Präzisionsschläge durchführen zu können.

Erfolgreiche Eroberungen kommen natürlich dem Kapital zugute. Einige Kapitalist*innen profitieren unabhängig vom Ergebnis, solange es sich nicht um einen Atomkrieg handelt. Das heißt aber nicht, dass der Kapitalismus irgendwie nur an eine einzige Supermacht gekoppelt ist. Die USA sind immer noch der führende kapitalistische Staat, aber der Kapitalismus wird nicht besser oder schlechter, selbst wenn er durch einen anderen Staat ersetzt wird. Eine multipolare Welt ist nicht unbedingt weniger oder mehr kapitalistisch als die derzeitige Ordnung. Es ist also ziemlich unsinnig zu behaupten, der amerikanische Imperialismus sei gefährlicher als andere Imperialismen, nur weil die USA das führende kapitalistische Land der Welt sind.

Die Linke in Griechenland, in den Balkanländern und in Lateinamerika haben sehr bittere Erfahrungen mit den Vereinigten Staaten und der Nato gemacht. In diesen Gebieten gibt es wenig Verständnis dafür, sich gegen andere Feinde auf das westliche Lager zu verlassen. Aber es gibt keine universellen Situationen oder universelle Hierarchien der Unterdrückung, in denen der Kern aller Unterdrückung der Kapitalismus ist und der Feind in jedem Kampf die Vereinigten Staaten sind.

Wenn man in Tschetschenien schwul ist und entdeckt wird, wird man ermordet, ohne dass der Kapitalismus eine Rolle spielt. In dieser Situation wäre die patriarchalische Homophobie ein größeres Problem als der Kapitalismus. Der Krieg in der Ukraine ist keine unvermeidliche Folge des Kapitalismus, der Hauptgrund ist das verdrehte Verständnis der Realität durch eine bestimmte Person. Der Kapitalismus wäre ohne den Krieg in der Ukraine genauso erfolgreich gewesen, wahrscheinlich sogar noch erfolgreicher. Die gefährlichste Unterdrückung, die schlimmsten Feinde und die besten potenziellen Verbündeten gegen sie variieren je nach Zeit und Raum.

Neben Lenins Analyse des Imperialismus waren die Ansätze der Linken auch von der Angst vor einem Atomkrieg geprägt. Laut Chomsky wäre zum Beispiel der beste Weg, mit Putins Hass auf den Westen umzugehen, ihm einige Länder als Pufferzone anzubieten [1], da alles andere zu einem Atomkrieg führen könnte. Aber diese Art von Lösungen hat Probleme, zum Beispiel das offensichtlichste, dass Chomsky die Menschen, die in den von ihm geplanten Pufferzonen leben, nicht fragen wird, ob sie damit einverstanden wären. Außerdem führen leichte Siege und Unterwerfung in der Regel nicht dazu, dass der Appetit derjenigen, die von ihrer Macht geblendet sind, abnimmt, sondern dass er zunimmt. Ich möchte nicht in der Situation sein, zwischen der Unterwerfung unter Hitler und einem Atomkrieg wählen zu müssen. Dies ist ein weiterer Grund, warum wir Putin stürzen sollten, anstatt ihn zu beschwichtigen.

Was könnte eine geeignete Definition von Imperialismus sein?

Imperialismus bedeutet, dass ein Staat danach strebt, andere Gebiete zu erobern und den Status einer führenden Supermacht zu erreichen.

Diese Definition ähnelt einer Reihe von Wörterbuchdefinitionen, aber ich habe beschlossen, die Ausweitung der Definition auf wirtschaftliche und kulturelle Hegemonie zu verwerfen. So ist beispielsweise die Popularität amerikanischer Filme im Vergleich zu einheimischen Filmen nicht damit vergleichbar, urbane Zentren mit Artillerie zu beschießen, um sie zu erobern.

Während imperialistische Herrschaft immer wieder gescheitert ist (wie im Fall der US-Invasionen im Irak und in Afghanistan) oder gänzlich unmöglich geworden ist (wie im Fall von Belgien, den Niederlanden und Portugal), hat sich die Linke auf die Diskussion über die Missstände des wirtschaftlichen und kulturellen Imperialismus konzentriert. Kulturelle Hegemonie jedoch als Imperialismus zu bezeichnen, ist eine Inflation des Begriffs, die zu einer schlechten Analyse der Linken geführt hat, die die Erweiterung der NATO mit dem russischen Angriff auf die Ukraine gleichsetzt.

In der Tat besteht im postkolonialen Diskurs, der in den Vereinigten Staaten entwickelt wurde, die Tendenz, davon auszugehen, dass Eroberungskriege kein Thema mehr sind und folglich die Erfahrungen und Bedrohungen in Osteuropa entweder irrelevant sind oder ein ebenso ernstes Problem darstellen wie die kulturelle Hegemonie der Vereinigten Staaten. In gewisser Weise hat die postkoloniale Theorie selbst eine koloniale Tendenz. Osteuropäer, die versuchen, die Konzepte der postkolonialen Theorie in ihrer eigenen Analyse zu verwenden, sind eigentlich Teil desselben Problems, denn interethnische Gewalt in Osteuropa findet selten innerhalb des kolonialen Rahmens der postkolonialen Theorie statt. In Osteuropa ist das Ziel der Gewalt der Feind, aber nicht der exotische „Andere“ ohne menschlichen Wert, ein ähnliches menschliches Wesen mit einer anderen Identität. Nicht jeder Imperialismus ist kolonial.

Ein kleineres Land, das ein Bündnis mit einem größeren Land eingeht, ist etwas völlig anderes als ein Angriff auf ein kleineres Land, um es anschließend zu zwingen, sich der eigenen Einflusssphäre zu unterwerfen. Man könnte moralische Argumente gegen die Pläne osteuropäischer Länder anführen, der NATO beizutreten, und zwar wegen der ungeheuerlichen und einseitigen Interventionen der USA in Ländern wie Lateinamerika oder dem Nahen Osten und auch auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien. Aber der Grund, warum die Est*innen die NATO-Mitgliedschaft unterstützen, ist nicht die Unterdrückung der Palästinenser*innen, Kurd*innen, Iraker*innen oder Kosovo-Serb*innen, sondern der Wunsch, nicht von Russland erobert zu werden. Ich bin nicht dafür, dass Finnland oder ein anderes Land der NATO beitritt, aber ich bin auch nicht gegen einen „estnischen Imperialismus“, denn so etwas gibt es nicht.

Die spanische Republik versuchte, Unterstützung von Großbritannien und Frankreich zu erhalten. Als die Niederlage des Kronstädter Aufstands unmittelbar bevorstand, versuchten die Aufständischen, sich an die Entente-Länder zu wenden, um Hilfe zu erhalten. Andererseits haben die meisten antikolonialen Bewegungen der 50er, 60er und 70er Jahre die Sowjetunion um Unterstützung gebeten und diese auch erhalten. Ich verdamme keine von ihnen. Der Freund*in meines Freund*ins muss nicht unbedingt mein Freund*in sein.

Hunderttausende von Menschen ziehen jedes Jahr aus armen Ländern in reiche Länder. Sind sie Agent*innen des Imperialismus? Vielleicht würde sich ein konsequenter Revolutionär*in lieber einem sozialen Kampf anschließen, wo auch immer er geboren wurde, egal wie arm der Ort ist. Aber der Drang, seinen Lebensstandard zu erhöhen, ist ein natürlicher Drang, und ihn zu moralisieren, würde Anarchist*innen keinen einzigen Schritt weiterbringen. In Osteuropa war die Entscheidung, der EU und der NATO beizutreten, eine populäre Entscheidung, und sie wurde getroffen, um den Lebensstandard und die Sicherheit zu erhöhen, und nicht, um gemeinsam mit den Franzos*innen Afrika zu plündern.

Es gibt auch keinen ukrainischen Imperialismus, obwohl ich diese Argumentation auch bei Linken vorgefunden habe. Die ukrainische Politik auf dem Weg zur Unabhängigkeit war von (ultra)nationalistischen Konflikten geprägt, von denen der Status der russischen Sprache nur einer war. So hatten beispielsweise ruthenische Aktivisten ernsthafte Probleme mit ukrainischen Nationalisten und Regierungsbeamten [2]. Im Donbass wird seit dem Waffenstillstand 2014-2015 wöchentlich, meist sogar täglich, geschossen, und beide Seiten beschießen ständig zivile Gebäude – ein Kriegsverbrechen. Aber all diese Konflikte fanden innerhalb der 1992 gezogenen Grenzen statt, so dass man sie keinesfalls als imperialistisch bezeichnen kann. Gelegentliche Kriegsverbrechen gelten noch nicht als Völkermord, was auch immer Putin behaupten mag.

Vielleicht hätte der Krieg vermieden werden können, wenn die ukrainische Politik in Bezug auf Sprache und Nationalität weniger nationalistisch gewesen wäre. Aber das ist keine einfache Frage. Sollte jede Minderheitengruppe ein Recht auf nationale Selbstbestimmung haben, auch die Putinist*innen? Hatten die böhmischen Sudetendeutschen das Recht, sich abzuspalten, wo doch 88 % von ihnen zur Wahl gingen und 40,6 % Mitglieder*innen einer pro-nazistischen Partei waren? Nach dem Beginn des Krieges wurden diese schwierigen Fragen in den Hintergrund gedrängt, da das Ausmaß der Zerstörung durch Putin ein ganz anderes Niveau hat als die Probleme des ukrainischen Nationalismus. Aber nach dem Krieg könnten diese Fragen wieder auf die Tagesordnung kommen, und sogar während des Krieges, wenn die Ukraine die Chance hat, irgendwann in die Offensive zu gehen.

Natürlich kann auch der „kleine“ und lokale Nationalismus brutal sein. Dafür gibt es unzählige Beispiele, wie die Massaker an Russ*innen in der Endphase des finnischen Bürgerkriegs. Tausende verhungerten in Konzentrationslagern, die für die russische Zivilbevölkerung in Ostkarelien während des Fortsetzungskrieges (Zweiter sowjetisch-finnischer Krieg) errichtet wurden. Aber auch in einem solchen Fall sollten Nationalismus und Imperialismus nicht verwechselt werden, denn nationalistische Bewegungen bauen nicht nur Imperien auf, sondern zerstören sie auch.

Ein „Gegner*in jeglicher Art von Nationalismus“ ist auch ein Gegner*in vieler antikolonialer Bewegungen und landet auf der falschen Seite der Geschichte. Eine solche Analyse mag im Zentrum des Imperiums Unterstützung finden, aber niemals in einem Land, in dem die Erfahrung von Kolonialismus und Imperialismus noch in lebendiger Erinnerung ist. Die Schwäche des Anarchismus nach dem Zweiten Weltkrieg ist nicht auf „Fehler“ zurückzuführen, die in Russland oder Spanien gemacht wurden, aber einer der Faktoren könnte das Versäumnis der Anarchist*innen sein, zur Unterstützung der antikolonialen Bewegungen zu intervenieren. Die Sowjetunion hat das getan, was Anarchist*innen nicht getan haben, und zwar auf ihre eigene brutale Art und Weise, die viel unnötige (aber auch notwendige) Zerstörung im globalen Süden verursacht hat. Jeder Beitrag von Anarchist*innen gegen Befreiungsbewegungen wirft die anarchistische Bewegung in Gebieten, die unter Imperialismus und Kolonialismus gelitten haben, zurück. Der Widerstand gegen Imperialismus und Kolonialismus ist wahrer Internationalismus.

Anarchistische Traumata

Die Geschichte der anarchistischen Bewegung ist voll von Geschichten über Verrat und verpasste Chancen: Leninist*innen verrieten die russische Revolution, schlugen das freie Gebiet von Maknowitschina und den Kronstädter Aufstand nieder. Die republikanische Regierung Spaniens stoppte erst die soziale Revolution und wurde dann von der Falange zerschlagen. Der Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg führte nicht zu einer Welle von Revolutionen, und die Unterstützung der antikolonialen Bewegungen führte nicht zur Entstehung antikapitalistischer Gesellschaften. Aus diesen Beispielen haben einige Anarchist*innen die Schlussfolgerung gezogen, dass sie gar nicht erst gegen Faschismus, Imperialismus oder Kolonialismus kämpfen sollen.

Mit Theorie und Analyse der Situation lassen sich vielleicht Revolutionen gewinnen, aber keine Kriege. Kriege werden in erster Linie durch materielle Überlegenheit gewonnen, gelegentlich auch durch Motivation und kluge Strategie. Die Karten für Sieg oder Niederlage werden in der Regel zu Beginn des Krieges verteilt, und während des Krieges kann man nur die Karten spielen, die man in der Hand hat. Die Anarchist*innen haben in Russland oder Spanien nicht wegen theoretischer Schwächen verloren, sondern weil die Anarchist*innen nicht genug Waffen und Kämpfer*innen hatten.

Diese Niederlagen waren so traumatisch, dass die Anarchist*innen einige Korrekturen an ihren Ideen vorgenommen haben, von denen sie annehmen, dass sie damit die Kriege hätten gewinnen können. Zum Beispiel glauben viele Anarchist*innen, dass Machno niemals ein Bündnis mit den Leninist*innen hätte eingehen dürfen, die ihn schließlich verrieten. Der Leninismus könnte sogar eine ansteckende Krankheit sein, die bei Kontakt den Anarchismus infiziert.

Viele Anarchist*innen glauben auch, dass das Bündnis mit der spanischen Volksfrontregierung gegen die Falange ein Fehler war. Vielleicht hätten die Anarchist*innen gewinnen können, wenn sie gleichzeitig den Krieg gegen die Volksfront und Franco erklärt hätten?

Diese Theorien sind offensichtlich schwachsinnig, Militärbündnisse haben nichts mit Ideen zu tun. Jeder Verbündete kann dich verraten. Leninismus und Anarchismus sind nicht vereinbar, früher oder später ist der Konflikt unvermeidlich. Aber das Bündnis mit den Leninist*innen hat die Niederlage der Anarchist*innen in Spanien und Russland nicht beschleunigt, sondern aufgeschoben. Die Niederlage war vorprogrammiert, denn die Anarchist*innen verfügten weder über die notwendigen Ressourcen, um zu gewinnen, noch über die Beziehungen, um an diese Ressourcen heranzukommen. Zu Beginn des Krieges sollte man über genügend Ressourcen oder Verbündete verfügen, die diese Ressourcen bereitstellen, um den Krieg zu gewinnen. Die Anarchist*innen haben nicht verloren, weil sie Verbündete hatten, die Anarchist*innen haben verloren, weil der Feind noch mehr Verbündete hatte.

Natürlich hat die Frage der Allianzen ethische Implikationen. Man sollte kein Bündnis mit einer Seite eingehen, deren Sieg ein noch schlimmeres Szenario hervorrufen könnte als ein Sieg des Feindes. Man sollte nicht auf Autonomie verzichten, auf die Möglichkeit, Verbündete zu kritisieren, und man sollte den Verbündeten nicht schönreden. Man sollte politische Verfolgungen, die von Verbündeten organisiert werden, nicht tolerieren und noch weniger an ihnen teilnehmen, wie es einige Anarchist*innen während der russischen Revolution getan haben. Aber heutzutage sind diese Bedingungen ziemlich offensichtlich, und es wäre eine Unterschätzung unserer Genoss*innen, sich vorzustellen, dass nicht alle Anarchist*innen dies verstehen würden.

Die Analyse der anarchistischen Niederlage im spanischen Bürgerkrieg wurde von der Gruppe der Freund*innen Durrutis beeinflusst, die 1937-1938 und später in der Auswanderungsphase aktiv war, sowie vom antiautoritären Rätekommunismus, einer Strömung, die sich in den 1930er Jahren in den Niederlanden und Deutschland entwickelte. Sowohl die Gruppe als auch diese Tendenz teilen eine Kritik an der spanischen Volksfrontregierung, einschließlich der Führung der anarchosyndikalistischen CNT-FAI, die sich der Regierung anschloss. Und in der Tat ist es ziemlich offensichtlich, dass der Beitritt zu einer Regierung für Anarchist*innen kaum ein konsequenter Schritt ist.

Doch die Alternativen, die von den Freund*innen Durrutis und den Rätekommunist*innen vorgestellt wurden, waren diametral entgegengesetzt. In der Broschüre „Auf dem Weg zur neuen Revolution“ sprachen sich die Freund*innen Durrutis für eine Rebellion gegen die Volksfrontregierung aus [3]. Aber sie wollten den Kampf gegen die Falange nicht aufgeben, sondern verpflichteten sich, den Krieg fortzusetzen und die Armee der Volksfront „unter die Kontrolle der Arbeiter*innen“ zu stellen.

Aber die niederländische Marx-Lenin-Luxemburg-Front, die in den 1930er Jahren als trotzkistische Strömung begann und sich später in Richtung Rätekommunismus entwickelte, rief alle Soldat*innen der verbündeten Armeen zur Desertion von der Front auf [4], denn nach Ansicht der Rätekommunist*innen war der Kapitalismus in Großbritannien, der Sowjetunion und Nazideutschland genauso böse. Den modernen Anhänger*innen dieser Richtung zufolge war auch Franco genauso schlecht wie die Volksfront in Spanien, was Antifaschismus und Faschismus gleich schlecht macht; deshalb hätten Anarchist*innen den antifaschistischen Kampf in Spanien und überall ablehnen müssen.

Seitdem hat der Rätekommunismus die französische Gruppe Socialisme ou Barbarie (1948-1967) und über sie die Situationist*innen beeinflusst. Eines der Probleme der revolutionären Theorie ist, dass sie jedes Jahr an Quantität zunimmt, während das Gegenteil über ihre Qualität gesagt werden kann. Irgendwann sollten die meisten dummen Theorien weggeworfen werden, wenn nicht in den Müll, dann zumindest an das unterste Ende des Bücherstapels, unabhängig davon, ob sie von Anarchist*innen, Leninist*innen, Kommunist*innen oder Linken geschrieben worden sind. Von Zeit zu Zeit könnte man sie ausgraben und sich fragen, wie die Theorie so sehr verkommen konnte. Man könnte auch mit weniger Theorie auskommen, wie die Praxis früherer Generationen beweist. Vor dem Zweiten Weltkrieg hat kein Anarchist*in irgendwo dazu aufgerufen, vor einem imperialistischen Angriff die Waffen niederzulegen.

Antti Rautiainen

Ursprünglich veröffentlicht auf Finnisch in Kapinatyöläinen #56, 1/22.

Fußnoten

[1] Noam Chomsky: Eine Flugverbotszone über der Ukraine könnte ungeahnte Gewalt entfesseln https://truthout.org/articles/noam-chomsky-a-no-fly-zone-over-ukraine-could-unleash-untold-violence (Englisch)

[2] Jahr 2018 Nachrichten: https://crimea.ria.ru/20180806/1114977195.html (Für den Zugriff auf den Link aus dem EU-Raum benötigt ihr möglicherweise ein VPN Zugang) (Russisch)

[3] Freund*innen von Durruti: Auf dem Weg zu einer neuen Revolution https://theanarchistlibrary.org/library/friends-of-durruti-towards-a-fresh-revolution (Englisch)

[4] Internationale Kommunistische Strömung: Die niederländische und deutsche kommunistische Linke. London, 1990. (Englisch)

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