
Cherson. Ukraine. In dieser Region im Süden der Ukraine sterben mehr Menschen durch den Mangel an Medikamenten als durch Bomben. Dies berichtete Stefan, der Koordinator der Basisbewegung der Freiwilligen von Nova Kakhovka, dem es gelang, nach Georgien zu fliehen. Das Titelbild stammt aus seiner Stadt.
Ursprünglich veröffentlicht von Libcom. Geschrieben von assembly.org.ua. Übersetzt von Riot Turtle.
Bitte unterstützt das Online-Medienzentrum, das über diesen Krieg aus den Positionen des sozialen Kampfes berichtet, für die Kampagne zum Wiederaufbau der Gemeinschaft in der zerstörten Frontstadt Charkiw. Ihr könnt euch gerne an dieser Spendenaktion beteiligen.
Vor zwei Wochen, am 16. Mai, wurde Anton Kushnir, der die Bewohner*innen der von der russische Armee besetzten Stadt Cherson notwendige Hilfsgüter lieferte, von einem Scharfschützen erschossen. Dies ist nicht das erste Mal, dass Freiwillige und Lieferant*innen von Hilfsgütern ums Leben gekommen sind. Solche Fälle gibt es sogar häufig. Es gab Geschichten über Menschen, die durch Felder und Wege fuhren, die gestern noch nicht vermint waren, und heute explodierte dort jemand. Und aus irgendeinem Grund spricht niemand darüber. Die Region Cherson ist heute wahrscheinlich einer der am meisten verminten Orte der Welt. Die Besatzer*innen verminen alles und bereiten sich so auf eine mögliche Offensive der Ukraine vor.
Die humanitäre Katastrophe in diesen Orten begann fast unmittelbar mit der Besetzung in den ersten Tagen der Invasion. Die russischen Truppen blockierten die Straßen nach Nowa Kachowka und ließen keine humanitären Transporte durch. Ein aus Italien kommender Lastwagen wurde am Ortseingang von Cherson umgedreht. Produkte von kleinen Unternehmen, ATB-Supermärkten – nichts kam, jeder lebte von einigen Vorräten in der Stadt. Es ist schwer vorstellbar, was in den umliegenden Dörfern geschehen ist.
Es ist möglich, dass diese humanitäre Krise nicht einfach so entstanden ist. Die Invasor*innen könnten gehofft haben, dass die Menschen glücklich sein würden, wenn sie humanitären Lebensmittel von der Krim bekommen, weil sie einfach nichts zu essen haben werden. Deshalb haben sie ukrainische Produkte nicht zugelassen und tun es immer noch nicht. Was die russischen humanitären Hilfsgüter anbelangt, so handelt es sich um eine Dose mit irgendeinem Scheiß, dazu vielleicht ein paar Nudeln oder Zucker. Wenn die russischen Freiwilligen ihre humanitäre Hilfe verteilen, erwarten sie, dass eine Person ein oder zwei Wochen davon leben kann. Und entgegen den Hoffnungen der Besatzer*innen wurde ihre humanitäre Hilfe anfangs mit Steinen begrüßt.
Die Aktivist*innen können nicht allen mit Lebensmitteln helfen, also wählen sie diejenigen aus, die die schwierigsten Bedingungen haben. Es gibt ein großes Problem mit der Lieferung von Produkten. Die Besatzer*innen suchen an den Kontrollpunkten nach Lebensmitteln und beschlagnahmen sie. Im Allgemeinen kann an den Kontrollpunkten alles passieren. Es gab Fälle, in denen die Besatzer*innen Tätowierungen in Form eines ukrainischen Dreizacks fanden und den Menschen einen Stein gaben, damit sie diese Tätowierungen zusammen mit der Haut herausreißen konnten. Und solange man sie nicht entfernt hat, kommt man auch nicht weiter.
Jetzt ist es unmöglich, in die Region Cherson einzureisen oder sie zu verlassen. Das heißt, alle Transporte, die Stefans Gruppe seit einer Woche gesammelt hat, stehen jetzt noch aus. Und wie lange sie noch warten müssen – ist unklar.
Das größere Problem besteht in den Dörfern. Einige Produkte werden in die Städte importiert, einige werden von der Krim hergebracht. Aber auch die Waren von der Krim sind nicht ausreichend, und die Dörfer haben nichts. Vor allem auf dem besetzten rechten Ufer des Dnipro. Sie haben keinen Zugang zu Großhandelszentren und dürfen nicht über den Staudamm auf das linke Ufer. Die Leute schreiben, dass jemand in den Dörfern gestorben ist, Häuser wurden zerstört. Freiwillige haben versucht, sie mit dem Boot dorthin zu bringen, aber das ist sehr teuer, eigentlich eine ganz eigene Spezialoperation. Das ist, warum wir uns jetzt mehr auf die eigene Nova Kakhovka konzentrieren. Aber es gibt ein weiteres Problem – die Menschen haben kein Geld. Im Grunde genommen gibt es nichts das man kaufen könnte…
Die Einfuhr von Medikamenten ist einfacher. Stefans Gruppe führt einige spezielle Medikamente ein, die die Besatzer*innen an den Kontrollpunkten nicht benötigen. Wenn sie ein Drehkreuz haben, nehmen die Soldat*innen sie natürlich weg. Sie sammeln Medikamente aus der ganzen Welt, Twitter und andere Freiwillige sind dabei eine große Hilfe. Mal kommt etwas aus Berlin, mal aus Lviv oder Polen. Einiges davon kaufen sie selbst mit Spendengeldern, anderes kaufen sie bei Bedarf für einen bestimmten Fall.

Der russische Migrant und Leiter eines Volvo-Vertragshändlers, Anton Kushnir, wurde durch einen Kopfschuss gezielt getötet. Er war der erste, der gegen 13 Uhr los gefahren ist, mit zwei Frauen und Kindern im Auto, und ein Kleinbus voller Menschen fuhr hinter ihm her. In den 80 Tagen des Krieges nahm Anton Dutzende von Menschen mit und lieferte auf dem Rückweg tonnenweise humanitäre Hilfsgüter aus dem Lager der freien Hilfskräfte in Nikolajew nach Cherson. Auch dieses Mal wollte er nach Cherson zurückkehren. Vier seiner Kinder sind derzeit in Sicherheit im Ausland.
Stefans Team hat keinen regulären Fahrer – sie werden herausfinden, wer gegangen oder gekommen ist, um die Medikamente zu liefern. Und sie können nie mit Sicherheit sagen, ob sie ankommen werden oder nicht. Die Straßen sind jetzt sehr problematisch und gefährlich. Es ist gelungen, einige Medikamente über den Dnipro zu transportieren, und zwar mit Booten. Und selbst in den besetzten Gebieten sind einige Medikamente verschwunden. So gab es in einem Krankenhaus einen Umschlagplatz. Und von dort haben sie nie Medikamente bekommen. Vielleicht brauchte das Krankenhaus selbst Medikamente und sie beschlossen, welche zu benutzen. So ist der Krieg. sagt Stefan:
„Wenn wir Listen mit Anfragen von medizinischen Einrichtungen in Nova Kakhovka erhalten – dort ist alles sehr traurig. In den Krankenhäusern gibt es nicht einmal Spritzen und Verbandsmaterial. Natürlich gibt es auch kein Insulin. Außerdem kamen, wie mir gesagt wurde, auch Russ*innen in die Krankenhäuser und holten Medikamente für ihre Verletzten, weil sie nichts hatten. Insgesamt wurden in der Stadt drei Apotheken mit russischen Medikamenten eröffnet, deren Preis drei- bis dreimal so hoch ist wie vor der Besetzung, und nicht alles ist vorhanden. In den Dörfern ist die Situation mit Medikamenten katastrophal. Und das, obwohl es in den besetzten Gebieten noch viele ältere Menschen gibt, die verschiedene Medikamente benötigen, unter anderem für Herz und Blutdruck. Wir haben mehr als 500 Menschen medizinisch versorgt, aber es gibt viel mehr Anfragen, als wir erfüllen können. Wir werden nicht bombardiert, es fliegen keine Granaten, aber viele Menschen sterben allein aus einem Mangel an Medikamenten.
Viele Menschen versuchen jetzt zu fliehen, aber es gibt auch diejenigen, die nicht weg gehen können. Das sind die Rentner*innen, die besonders vulnerablen Teile der Bevölkerung. Es ist schade, dass uns in dieser ganzen Zeit keine offizielle ukrainische staatliche Organisation oder Struktur zur Seite gestanden hat, die sich um die humanitäre Politik kümmern würde. Auf Twitter werde ich oft gefragt, woher diese Milliarden von Dollar an Hilfe aus der Ukraine kommen, wenn zum Beispiel für die Hilfe für Nova Kakhovka Spenden über Twitter gesammelt werden. Und ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich sagen soll. Ich habe folgende Antworten erhalten: Ihr lebt unter Besatzung, ihr werdet nichts bekommen, wir werden es nicht einmal versuchen. Deshalb basiert jetzt alles nur noch auf freiwillige Helfer*innen.
Aber es gibt nicht nur keine zentralisierte Hilfe für die besetzten Gebiete. Es gibt kein normales Programm zur Unterstützung von Menschen, die die besetzten Gebiete verlassen haben. Selbst in Georgien, wo ich jetzt bin, gibt es zum Beispiel eine Website mit Angeboten zur Aufnahme ukrainischer Geflüchteter. Man fährt nach Georgien und hat bereits eine Vereinbarung mit der Person, bei der man hier lebt. So etwas gibt es in der Ukraine nicht. Die Leute gehen einfach ins Ungewisse. Nur einige Initiativen von Freiwilligen funktionieren.
Ich kam aus der besetzten Region Cherson über die Krim nach Georgien. Auf dem Weg dorthin wurde ich natürlich ständig kontrolliert. Auf der Krim wurde ich zwei Stunden lang verhört. Ich habe das Telefon gründlich gesäubert, aber nicht vollständig, denn irgendwo haben sie das Wort „Freiwilliger“ darin gesehen. Ich hatte Glück, dass sie kein Internet hatten, denn wenn sie mein Twitter gesehen hätten, wäre ich natürlich überfordert gewesen. Und so kamen die traditionellen Fragen: „Was denken Sie über den Krieg“, „Ihre Einstellung zu den Nazis“ und so weiter. Sie wollten, dass ich noch etwas Zusätzliches sage.
Ich glaube nicht, dass unsere Aktivitäten eine echte Bedrohung für die Besatzerinnen darstellen. Aber wir stehen ständig unter ihrer Beobachtung. Eines Tages kamen Russen mit bewaffneten Männern und angeblich einer Art Journalistin zu unserem humanitären Hauptquartier. Sie wollten uns filmen, damit wir nicht angerührt werden und es uns dank ihnen gut gehen würde. Wir weigerten uns, sie zogen ab, und nach ein paar Stunden zogen wir an einen neuen Ort – weg von der Sünde. Wenn sie sich in unsere Aktivitäten einmischen wollten, würden sie es tun. Die Russ*innen haben bereits eine humanitäre Katastrophe in der Region angerichtet, und die Tatsache, dass die Menschen versuchen, in der Stadt zu überleben, hält sie nicht davon ab. Außerdem sind sie im Moment nicht in der Lage, ihre Stellungen zu verteidigen, da sie täglich von den ukrainischen Streitkräften beschossen werden“.
Laut Stefan sind jetzt alle aktiven Einwohner*innen größtenteils gegangen. Einige wurden, wie er es nennt, in „Gruben“ untergebracht. Sie bringen Produkte in eine dieser „Gruben“. Er weiß nicht genau, wie viele Menschen sich in dieser speziellen „Grube“ befinden, da diejenigen, die Lebensmittel dorthin bringen, nicht entführt werden dürfen.
Aber die Menschen werden offensichtlich nicht nur zu den „Gruben“ gebracht. Mitte Mai verlor seine Gruppe den Kontakt zum Joy-Kinderzentrum, in dem Waisenkinder aufgezogen wurden. Die Freiwilligen erhielten die Information, dass mehr als 50 Kinder verschwunden sind, sie wurden eine ganze Woche lang nicht gesehen, sie sind nicht auf dem Spielplatz. Die Aktivist*innen wissen nicht, wo sie sind. Sie haben die Direktorin angerufen, aber sie hat sich nicht dazu geäußert. Es ist möglich, dass die Kinder nach Russland gebracht oder an einen anderen Ort verlegt wurden, denn das Zentrum befindet sich in der Nähe des Krankenhauses, in dem derzeit viele verletzte Besatzer*innen behandelt werden. Es gibt keine Informationen über das Schicksal dieser Kinder.
Mit Dank an Andrei Harasym für die Möglichkeit, dieses Material zu produzieren.
In der Zwischenzeit hat in Charkiw bereits eine horizontale partizipatorische Freiwilligenkampagne zur Umplanung der Stadt in Richtung Dezentralisierung begonnen, um sie ökologischer und weniger kommerziell zu gestalten.
Und siehe auch diese Fotoreportage, wie Menschen auf den Ruinen von Machnos Heimat direkt an der südlichen russisch-ukrainischen Frontlinie überleben.
Hoch lebe die Held*innen der gemeinschaftlichen gegenseitigen Hilfe! Baut die Kraft der Bevölkerung von unten auf!