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Erklärung von ABC Belarus zum Krieg in der Ukraine

Seit über drei Monaten herrscht in der Ukraine ein groß angelegter Krieg. Die anarchistische Bewegung hat in diesen drei Monaten auf unterschiedliche Weise auf die russische Invasion reagiert – einige haben begonnen, ihre Genoss*innen in der Ukraine bedingungslos zu unterstützen, während andere weiterhin die Geschichte der NATO-Aggression in der Region wiederholen. Auch wir hielten es für notwendig, eine Erklärung zu unserer Sicht der Dinge abzugeben.

Urprünglich veröffentlicht von ABC Belarus. Übersetzt von Riot Turtle.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR hofften viele Menschen, dass die starke Verarmung eines großen Teils der Bevölkerung bis zu einem gewissen Grad durch bürgerliche Freiheiten ausgeglichen werden würde. In Belarus endete diese Zeit recht schnell mit dem Amtsantritt Lukaschenkos und der stufenweisen Errichtung einer Diktatur. In Russland schwebte die Hoffnung auf Liberalismus noch lange in der Luft, trotz der ständigen Aufrufe zur Wiederherstellung des imperialistischen Projekts – der Krieg in Tschetschenien war eines der ersten Beispiele für die Brutalität der Moskauer „Eliten“ gegen die „Völker in der Peripherie“.

Der Aufbau der belarussischen Diktatur war ohne die Unterstützung des Kremls unmöglich. Und das geschah schon, bevor Putin an die Macht kam. Die skrupellose Diktatur in der belarussischen Republik störte Jelzin nicht im Geringsten. Russland versuchte, nicht nur Belarus, sondern auch andere Länder der ehemaligen Sowjetunion durch seine Politik und wirtschaftlichen Druck zu beeinflussen. Und wenn beispielsweise in Kasachstan das Projekt der Unterstützung für Nasarbajew zu einer Loyalität gegenüber Moskau führte, so schränkten die Wahlen im Jahr 2004 in der Ukraine und die anschließenden Proteste mit der „Orangenen Revolution“ den politischen Einfluss der bereits von Putin geführten Regierung auf das Land stark ein. Zehn Jahre später zeigte der Maidan-Aufstand, dass die Ukrainer*innen keinen Autoritarismus in ihrem Land dulden würden. Ihre Bereitschaft, sich staatlicher Gewalt zu widersetzen, war einer der Gründe für ihren anhaltenden Kampf gegen die russische Besatzung.

Im Gegenzug erhielt das Lukaschenko-Regime weiterhin Unterstützung aus Moskau und entwickelte eine Diktatur. Die Niederschlagung des Aufstandes von 2020 ist die logische Fortsetzung des Staatsterrors gegen die belarussische Gesellschaft. Proteste gegen Lukaschenko fanden fast bei jeder Präsidentschaftswahl statt und wurden jedes Mal mit brutaler Gewalt beantwortet. Schläge, Folter und Gefängnisstrafen für Regimegegner*innen gab es schon vor 2020 und sogar vor den Wahlen im Jahr 2010. Es war die Unterstützung Russlands, die es dem belarussischen Regime ermöglichte, weiter zu existieren, und die Unterdrückung der 2020-Bewegung öffnete die Tür für den Einmarsch in die Ukraine. Tausende von Gefangenen und Zehntausende von Geflüchteten – diese Niederschlagung sorgte für die Schwäche der Anti-Invasionsbewegung in Belarus. Wäre Putin vor 2020 in die Ukraine einmarschiert, hätte der Widerstand in Belarus einen Krieg vom belarussischen Territorium aus zu einem äußerst riskanten Projekt gemacht.

Die von Putin angegebenen Gründe für die Invasion sind zweitrangig. Es spielt keine Rolle, wie oft er die Geschichte über die NATO oder chemische Waffen in der Ukraine wiederholt (eine Art postmoderne Ironie: Bush und Blair durften so schamlos lügen, warum dürfen wir das nicht?) Die heutige de facto vollständige Invasion in der Ukraine ist die Fortsetzung des Moskauer Versuchs, den Volksaufstand von 2014 niederzuschlagen und das Land in die sogenannte „russische Welt“ zu ziehen: ein rechtsextremes Projekt, das die ständige Vergrößerung des russischen Reiches beinhaltet.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Wie können Anarchist*innen auf diese Art von Aggression reagieren? Beginnen wir mit einem ganz einfachen Punkt. Als Anarchist*innen glauben wir, dass jeder das Recht hat, seine persönliche Freiheit zu verteidigen, genau die Freiheit, die sich in der Freiheit eines anderen Menschen fortsetzt. Wir sehen die Notwendigkeit einer kollektiven Verteidigung gegen die ständigen Angriffe auf die kleinen Freiheiten, die wir uns durch ständigen Kampf erkämpfen. Wenn der Staat mit einem Gewehr kommt, um uns unsere Freiheiten zu nehmen, glauben wir, dass jeder das Recht hat, ein Gewehr zu nehmen und gegen den Staat zu rebellieren, der versucht, uns diese Freiheiten zu nehmen. Das Recht, sich gegen Despoten aufzulehnen, ist die Grundlage für die Bildung einer freien Gesellschaft. Wir sind keine radikalen Pazifist*innen, die für die Erhaltung des Friedens mit allen Mitteln eintreten. Wir betrachten Aufrufe, den Widerstand gegen die russische Invasion einzustellen, als ein einfaches Missverständnis des Offensichtlichen: Selbst wenn wir kapitulieren, wird die Gewalt des Kremls nicht aufhören. Wir sind Antimilitarist*innen und glauben, dass alle Staaten abrüsten müssen (einschließlich der Abschaffung von Atomwaffen), um den Frieden langfristig zu erhalten. Aber sich der Gnade des Aggressors auszuliefern, ist nicht unsere Sache.

Die Lage in der Ukraine ist recht kompliziert, aber das Recht auf Schutz vor staatlicher Gewalt bleibt für alle bestehen. Im Falle des Krieges sehen wir, dass die Gewalt in erster Linie vom russischen Staat ausgeht. Das Beispiel Mariupol zeigt, dass Putins Militär bereit ist, ganze Städte zu zerstören, um seine eigenen Ziele durch Vergewaltigung, Tötung und Entführung von Menschen zu erreichen. Der ukrainische Staat bleibt ein Staat und ein Hindernis für die Befreiung der Menschen von der Macht, aber kein ukrainischer Politiker*in würde sich das Ausmaß an staatlicher Gewalt erlauben, das das Putin-Regime zulässt. Wir möchten darauf hinweisen, dass die Gräueltaten des Kremls in der Ukraine nur eine Fortsetzung seiner Politik der Unterdrückung der Freiheiten in Russland selbst sind. Folter, Mord und Entführung sind für die von Putin kontrollierten Völker an der Tagesordnung. Wir können von politischer und sozialer Verfolgung in ganz Russland sowie von diktatorischen Regimen auf der ganzen Welt sprechen, die vom Kreml unterstützt werden.

Und im Widerstand gegen die Gewalt des russischen Autoritarismus hat die ukrainische Bevölkerung einen vorübergehenden Verbündeten im ukrainischen Staat gefunden, der in diesem Krieg seine eigenen Ziele verfolgt. Wir können bereits sehen, dass ukrainische Politiker*innen versuchen, ihre eigenen politischen Projekte durchzusetzen, um die Arbeiter*innen unter dem Deckmantel dieses Krieges zu kontrollieren, und der Kampf in diesem Bereich wird schwierig sein. Aber dieser Kampf wird unmöglich sein, wenn Putin gewinnt und sich das Ausmaß der Gewalt des russischen Imperiums auf die gesamte Ukraine ausweitet.

Wir betrachten einen vorübergehenden Waffenstillstand zwischen den Anarchist*innen und Linken auf der einen Seite und dem ukrainischen Staat auf der anderen Seite als erzwungen und unvermeidlich unter den Bedingungen des modernen europäischen Krieges. Das bedeutet aber nicht, dass wir unsere revolutionären Ziele vergessen und für die Stärkung des Staates eintreten. Die Beteiligung von Anarchist*innen an militärischen Strukturen sollte keinesfalls zur Bildung eines neuen Staats-Patriotismus werden. Das Bündnis mit den ukrainischen Autoritäten war und bleibt vorübergehend, solange der russische Staat weiterhin auf alle schießt. In dieser Zeit des kollektiven Widerstands gegen Moskau wird die Stärkung der anarchistischen Bewegung in der Ukraine zum Schlüssel für ihr Überleben, falls sie Putin besiegt. Und diese Stärkung ist nur durch internationale Unterstützung möglich. Der Aufstieg der extremen Rechten kann nur durch den Aufstieg der anarchistischen revolutionären Bewegung bekämpft werden. Nicht die, die mit allen Mitteln zum Frieden aufruft, sondern die, die bereit ist, zur Selbstverteidigung zu den Waffen zu greifen.

Ein russischer Sieg in diesem Krieg wäre nicht nur für die Ukraine, sondern für ganz Osteuropa eine absolute Katastrophe. Die russische Welt wird sich wie die Pest weiter über den Kontinent ausbreiten und versuchen, ein neues Imperium aufzubauen. In einem solchen Umfeld ist es schwer vorstellbar, dass ein neuer Aufstand in Belarus, Kasachstan oder anderen von Moskau kontrollierten Ländern erfolgreich sein könnte. Wir belarussischen Anarchist*innen, die sich im Exil befinden, werden alles verlieren, was wir in den letzten 30 Jahren aufzubauen versucht haben. Deshalb ist der bewaffnete Widerstand der Anarchist*innen gegen Putin eine revolutionäre Notwendigkeit, zu der wir alle Genoss*innen aufrufen. Im Moment sehen wir die wirksamste Antikriegsaktivität darin, sich bewaffneten anarchistischen Einheiten in der Ukraine anzuschließen, Antikriegs- und anarchistische Aktivitäten in Russland und Belarus so weit wie möglich zu unterstützen und die nationalistischen und imperialistischen Stimmungen zu kritisieren, die die Menschen in der Region spalten. Der Sturz Putins und die Niederlage der russischen Armee werden zur Befreiung nicht nur von Belarus, sondern auch von Dutzenden anderen Völkern führen, die dort gefangen gehalten werden.


In der Zwischenzeit geht unser Widerstand gegen die „russische Welt“ in Form von Unterstützung für unsere inhaftierten Genoss*innen weiter. Leider haben wir in den letzten Monaten so gut wie keine Geldspenden erhalten, während die Kosten für Prozesse und Reisen in die Gefangenenlager weiter steigen. Deshalb führen wir jetzt eine Spendenkampagne auf der Plattform firefund durch. Wir brauchen 25.000 Euro, um unsere Schulden und Gerichtskosten zu decken. Ihr könnt eure Spenden auf der Fundraising-Seite abgeben https://firefund.net/abcbelarus.

ABC Belarus


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