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Russische antimilitaristische Brandstifter*innen: „Wir werden jeden Tag mehr“ – Ein Interview mit der Revolutionären Zelle der Wolga-Region [Russland]

Russland Ein Interview mit der Revolutionären Zelle der Wolga-Region (RZ Wolga), die in der Nacht des 10. Juni in Nischni Nowgorod den Toyota von Natalia Abijewa – Ehefrau eines Offiziers und Organisatorin der Stiftung zur Unterstützung der Invasionstruppen – in Brand gesetzt haben.

Ursprünglich veröffentlicht von Basta! Telegram Kanal aus Belarus. Übersetzt von Riot Turtle aus der englischsprachige Version auf Libcom.

Basta!: Ihr habt recht harsch erklärt, dass es in Russland keine Möglichkeiten mehr für friedliche Proteste gäbe. Warum denkt ihr das?

RZ Wolga: Wir sind äußerst skeptisch gegenüber friedlichen Protestmethoden, da wir glauben, dass die Zeit, etwas auf friedliche Weise zu verändern, bereits vorbei ist. Jetzt wirken solche Aufrufe entweder erbärmlich oder wie eine Provokation. Der Aufruf, zu Kundgebungen zu gehen, ist fast gleichbedeutend mit der Aufforderung, sich den Bullen auszuliefern. Während der Bolotka-Bewegung [2011-2013 Protestbewegung in Russland, benannt nach dem Bolotnaja-Platz in Moskau] war es möglich, auf relativ friedliche Weise etwas zu verändern, aber dann hat die Opposition geschrien: „Wir werden wiederkommen“. Jetzt gibt es nur noch wenige Möglichkeiten: entweder weglaufen oder kämpfen. Wir ziehen es nicht in Betracht, so zu tun, als ob alles so wäre, wie es sein sollte. Russland ist eine totalitäre Hölle, ein Gefängnis der Völker und ein Land der Ungerechtigkeit.

Basta!: In eurem Bekennerschreiben nennt ihr euch eine revolutionäre Zelle der Wolga-Region. Gibt es ähnliche Gruppen in anderen russischen Städten?

RZ Wolga: Wir haben Gleichgesinnte in verschiedenen Teilen des Landes. Aus Sicherheitsgründen können wir ihre Zahl und ihren Standort nicht bekannt geben. Aber ihr werdet zu einem späteren Zeitpunkt von einigen von ihnen hören.

Basta!: Ihr habt gesagt, dass „die Diktatur durch eine Gesellschaft ersetzt werden sollte, die auf den Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Solidarität basiert“ – seid ihr Anhänger*innen anarchistischer Ansichten?

RZ Wolga: Uns eint der Gedanke der Freiheit und der Molotovcocktail. Jetzt ist nicht die Zeit, um politische Ansichten auszusortieren. Wir haben sowohl Anarchist*innen als auch konservativen in unseren Reihen (auch wenn es aus offensichtlichen Gründen weniger von denen gibt). Eine Aktion heute ist eine Reflexion über die politische Ordnung von morgen.

Basta!: Habt ihr keine Angst, weiterhin radikale Aktionen durchzuführen?

RZ Wolga: It would be too pathetic and arrogant to say that we are not afraid. Everyone is afraid, which is why they adhere to strict security measures and secrecy. Who knows what’s worse: being beaten in the ward or living your miserable life with guilt that you didn’t even try to change something?

Basta!:Was können russische Zivilist*innen heute tun, die die Politik des Kremls nicht unterstützen?

RZ Wolga: Nicht jeder ist bereit, mit einem Molotov zum Rekrutierungsbüro zu gehen oder ein Fahrzeug den Bestien, die das Regime bewachen, anzuzünden. Aber jeder kann ein Foto machen und es zusammen mit den Koordinaten anonym an die richtigen Leute schicken. Oder Informationen über die Bestien sammeln, Flugblätter ausdrucken, Aufkleber kleben, Graffiti malen, die den Widerstand unterstützen. Nicht weniger wichtig ist die Sabotage am Arbeitsplatz in den entsprechenden Strukturen. Es ist nicht notwendig, den Militärdienst zu verweigern, wenn man dadurch eine Menge wertvoller Informationen erfahren kann. Es ist nicht notwendig, bei den Strafverfolgungsbehörden zu kündigen, wenn man neue Fälle sabotieren kann, um Aktivist*innen zu verhaften. Oder die Eisenbahn zu verlassen, wenn man sieht, wie Züge mit Ausrüstung in ein Nachbarland fahren, um Menschen zu töten. Jeder muss seinen Platz im Russland der Zukunft finden, heute zu dieser Zukunft werden und den Kindern keine russische Hoffnungslosigkeit als Erbe hinterlassen.

Basta!: Überall in Russland werden militärische Rekrutierungszentren angegriffen, auf den Bahngleisen finden Partisan*innenaktionen statt. Wird sich die Geografie des Partisan*innenwiderstands in Russland ausweiten, oder werden die Repressionen des Kremls sie unterdrücken können?

RZ Wolga: Natürlich setzt die Propagandamaschine heute alles daran, die Partisan*innen als verrückte Einzelgänger darzustellen. Die Zahl der gesperrten Websites hat zugenommen, aber parallel dazu sind auch freie Kanäle für die Verbreitung von Informationen aufgeblüht, Telegram ist zum beliebtesten Messenger in Russland geworden. Aber jede Woche brennen militärische Rekrutierungszentren, entgleisen Züge vom Kuban bis zum Fernen Osten, werden Kabel von Zombieboxen an den Eingängen gekappt. Die Geografie des Widerstands wird sich weiter ausdehnen, denn jede(r) hat gerade erst begonnen, die Freuden des Lebens in einer neuen Realität zu schmecken: totale Unfreiheit, eine einbrechende Wirtschaft, ein Eiserner Vorhang. Das Feuer der Revolution wird sich in den Städten Russlands ausbreiten. Wir wollen eine normale Zukunft – und es gibt viele von uns! Und wir werden jeden Tag mehr.

Basta!: In den russischen Medien ist oft von den sogenannten „Knallen“ in den Regionen Belgorod, Kursk und Woronesch die Rede. Glaubt ihr, dass die ukrainische Armee russische Städte angreift?

RZ Wolga: Wir antworten mit Sarkasmus. Wenn es keinen „Krieg“ gibt, was für ein Beschuss aus der Ukraine ist dann möglich?

Basta!:Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine tauchten belarussische Kräfte auf, die gegen Putins Besatzer*innen kämpfen. Auf russischer Seite gibt es auch die Legion „Freiheit Russlands“, die auf die Seite der Ukraine übergelaufen ist. Gibt es in euren Reihen Gleichgesinnte, die sich entschlossen haben, an die Front zu gehen?

RZ Wolga: Unter unseren Genoss*innen gibt es keine Soldat*innen von Putins Armee. Persönlich kennen wir niemanden, der Zeit gehabt hätte, Russland zu verlassen und sich den russischen Freiwilligen in der Ukraine anzuschließen. Und seit Ende Februar ist dies aufgrund der geschlossenen Grenzen fast unmöglich. Wir fordern daher alle, die darüber nachdenken, auf, ihre Angelegenheiten in ihrem eigenen Land zu regeln. Die Zukunft Russlands wird in Russland entschieden. Dies ist unser Land, wir können nirgendwo hinlaufen, lasst den Abschaum Angst haben und sich in ihren Palästen verstecken. Die Zukunft gehört uns!

Wie es gebrannt hat…

Basta!: Wenn Abijewa, die kein Auto mehr hat, beschließt, ein neues Auto zu kaufen, wird dieses Auto dann auch brennen?

RZ Wolga: Patriot*in Abiyeva wird wahrscheinlich ein Exemplar der heimischen Autoindustrie erwerben. Und die Sicherheit dieser Maschinen ist höchst fraglich. Wer weiß.

Basta!: Wie wirkt sich die Tatsache, dass Russland in diesem Krieg keine offensichtlichen Erfolge vorzuweisen hat, auf die Russ*innen aus?

RZ Wolga: Es schien, dass sie sich um die Tatsache hätten kümmern sollen, dass Landsleute zu Tausenden in Zinksärgen und Paketen nach Hause zurückkehren. Die Tatsache, dass jeder Tag der Kampfhandlungen eine kolossale Menge an Geld verschlingt, das für den Bau von Schulen und Krankenhäusern verwendet werden könnte. Aber die Stärke von Putins Macht liegt in der Propaganda.

Basta!: Glauben viele Russ*innen bereitwillig der Propaganda?

RZ Wolga: Zu unserem Bedauern ist der Einfluss der Propaganda viel weitreichender, als man sich vorstellen kann. Der Propaganda zu glauben, bedeutet nicht nur, Kadyrow zu lesen und Z-Symbole zu tragen. Es geht auch darum, das Wesen der Sanktionen, des Eisernen Vorhangs und des sinkenden Lebensstandards nicht zu verstehen. Putin hat die ganze Welt gegen Russland aufgebracht, und sie sind zufrieden. Aber vor allem ist die Propaganda ein banaler Glaube, dass man ein kleiner Mensch ist und nichts ändern kann. Das ist der Punkt, an dem es am schlimmsten wird. 140 Millionen Menschen sind überzeugt, dass sie nichts beeinflussen können.

Basta!: Unsere letzte, traditionelle Frage. Wird die Ukraine gewinnen?

RZ Wolga: Sozusagen. Die Ukraine ist gezwungen zu gewinnen, denn jedes Zugeständnis wird von Putin als Schwäche gewertet. Das bedeutet, dass eine Wiederholung unvermeidlich ist und erneut Blut vergossen werden wird.

Basta!: Was würdet ihr unseren Leser*innen wünschen?

RZ Wolga: Überlebe bis zum Sieg über die Tyrann*innen. Und bringt eure eigenen Fähigkeiten ein! Werdet aktiv!

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