
Lima. Peru. Die abrupte Ablösung von Präsident Martin Vizcarra durch den Kongresspräsidenten Manuel Merino hat eine Woche lang in mehreren Städten Perus, darunter auch in Lima, Proteste ausgelöst. Die Peruaner:innen sind empört über das, was man am besten als einen parlamentarischen Staatsstreich bezeichnen kann, der von Kongressmitglieder:innen inszeniert wurde, deren rascher Rücktritt erst erfolgte, nachdem zwei junge Demonstrant:innen durch die Polizei ihr Leben verloren hatten. Während Peru mit dem Rücktritt von Merino in einen Schwebezustand gerät, fordern die Jugendlichen auf der Straße unerbittlich eine vollständige Überarbeitung der peruanischen Verfassung.
Ursprünglich veröffentlicht von der Black Rose Anarchist Federation. Geschrieben von Mariella Mendoza, Übersetzt von @Punex161
Ich sprach mit dem politischen Straßenkünstler Buhho (Warnung Facebook-Link), der Teil der lokalen Druckgrafikbewegung in Lima ist und der zahlreiche Interventionen durch Kunst und Aktion organisiert hat.
Fragen zum Interview:
Der Staatsstreich in Peru löste eine Reihe von Protesten auf den Straßen mehrerer verschiedener Gebieten Perus aus, unter anderem auch in Lima. Kannst du den Beginn dieser Bewegung und ihre Wurzeln beschreiben?
Alles begann, als die peruanische Regierung mit der Amtsenthebung von Vizcarra (dem vorherigen Präsidenten) begann. Wir (die Jugend auf den Straßen) bemerkten, dass Merino und Alarcon, beide Kongressabgeordnete, den Präsidenten mit allen Mitteln stürzen wollten. Sie waren erfolgreich, und Merino, der Präsident des Kongresses war, sprang als Präsident von Peru ein. Diese Leute repräsentieren eine überholte, veraltete politische Klasse, die, vereint mit korrupten Menschen, die nur an ihrem eigenen Profit interessiert sind und weiterhin Reichtum (und Ressourcen) hortet.
Am 9. November gab es einen Aufruf zu einem nationalen Demonstration, und es war einer der größten Massenmobilisierungen in der Geschichte Perus. An diesem Punkt begannen die Proteste, und sie hörten nicht mehr auf. An diesem Tag, dem 9. November, gab es auf der Plaza San Martín, wo wir uns normalerweise zu Demonstrationen treffen, eine Mobilisierung, und die Protest eskalierten. Heute gab es einen Aufruf zu einer weiteren Massen-Demonstration, auf die ich und andere uns jetzt gerade vorbereiten.
Erzähl uns etwas über das Recht auf Aufstand. Was ist der Artikel 46?
Dies ist ein Artikel in der peruanischen Verfassung, der erstmals ’79 erschien und von einer verfassungsgebenden Versammlung angepasst wurde. Der Artikel lautet: Artikel 46 – Unrechtmässigen Regierung. Recht auf Aufstandsbewegung. Niemand schuldet einer Unrechtmässigen Regierung Gehorsam, auch nicht denen, die unter Verletzung der Verfassung und der Gesetze öffentliche Funktionen übernehmen. Die Einwohner:innen haben das Recht auf einen Aufstand zur Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung. Alle Handlungen von Usurpatoren sind null und nichtig. Und es ist dieser Artikel, den wir zur Legitimierung der Proteste benutzt haben, da die Art und Weise, wie Merino die Macht erlangen konnte, durch Verfassungslücken und Korruptionsspekulationen des Ex-Präsidenten (Vizcarra) erfolgte, die alle noch untersucht werden.
In diesem Jahr hat der Einfluss der Pandemie mehrere verschiedene Gemeinschaften auf der ganzen Welt getroffen. Wie hat sich covid-19 auf Peru ausgewirkt, und wie hat es sich auf die Proteste und die Perspektive der Menschen gegenüber der Regierung ausgewirkt?
Peru war eines der ersten Länder, das eine nationale Quarantäne verhängte und seine Grenzen schloss, als das Virus nach Amerika gelangte. Aber ironischerweise waren wir eines der am stärksten betroffenen Länder. Covid-19 hat uns unter anderem direkt betroffen, weil es uns die sozialen Unterschiede in unserem Land aufgezeigt hat. Die Reichen haben viel, und es gibt nur wenige, die Armen haben wenig, und es gibt viele. Das Wirtschaftsmodell und die improvisierten Behörden und Institutionen, die wir geschaffen haben, haben uns in nur kurzer Zeit zu einem der Länder mit der höchsten Infektionsrate gemacht. Und dies geschah, als es eine Veränderung in den Justizinstitutionen gab, und während eines großen Moments der Korruption hier, dem Fall Odebretch.
“The rich have a lot and they are few, the poor have little, and they are many.”
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Odebretch ein Baukonglomerat war, das mehrere Bestechungen orchestrierte, um Aufträge für öffentliches Eigentum zu erhalten. An diesem Fall waren seit 2000 bis heute mehrere Politiker:innen beteiligt. Als sie Alan Garcia, dessen Amtszeit als Präsident von Peru eine der schlimmsten des 20. Jahrhunderts war, verhaften wollten, brachte er sich um. Als die Pandemie ausbrach, wurde der Fall beiseite geschoben, da sich alle auf die Bekämpfung des Virus konzentrierten, aber dies gilt insbesondere jetzt, da Merino nur daran interessiert ist, Gesetze voranzutreiben, die ihm und diejenigen, mit denen er Geschäfte machte, zugute kommen. Darüber hinaus nutzen sie das Virus, um die Proteste zu kriminalisieren und die Jugend für die unvermeidliche Zunahme von Covid-Fällen verantwortlich zu machen.
Buhho, deine Kunst ist phänomenal und zeigt viel politischen Einfluss, vor allem Punk. Kannst du uns ein bisschen über die Rolle der Kunst, die Künstlerkollektive, Graffiti und den Aufstand auf den Straßen von Lima erzählen?
Vielen Dank! Und ja, ich versuche, viele der Bedingungen, die mich direkt betreffen, in meine Kunst einzubeziehen: Politik, soziale Bewegungen und Graffiti. Als ich jünger war und mich als Teil der Punkbewegung in Lima wiederfand, traf ich viele Bands und Kollektive und las Zeitschriften, die eine andere Perspektive zeigten, als die Mainstream-Medien hier in Peru bieten. Ich hatte mich noch nicht für die Kunst als Karriere oder als Mittel zur Verbreitung von Autonomie entschieden. Als ich anfing, in San Marcos zu studieren, befand ich mich inmitten von Rebellion und Kunst, was meinen eigenen Sinn für Stil und meine Ideen nährte. Durch die Arbeit in den Museen erfuhr ich von Alfredo Marquez, der mein guter Freund ist und auf den ich mich oft beziehe, wenn ich über politische peruanische Kunst spreche.
Kunst in diesem Zusammenhang, und in all ihren Facetten, eine Art der Kommunikation, und des Protests. Es gibt nicht viele lokale Künstler:innen, denen das Geschehen auf unseren Straßen gleichgültig geblieben ist, und die meisten haben sich entschlossen, durch ihre Arbeit aktiv zu werden. Alle machen Plakate, gehen auf die Straße, verbreiten Wissen. Graffiti ist in dieser Hinsicht nichts anders, vor ein paar Tagen wurde ein riesiges Wandbild vor dem Nationalstadion gemacht, das zum Aufstand aufruft. Es gibt Bomben, Drops, Schablonen, Tags, die alle auf einmal auftauchten und das Merino anprangerten.
Warum jetzt? Was bringt Jugendliche mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen und Bedingungen in diesem Moment zusammen?
Ähnlich wie beim Pulpinazo, der bisher unsere größte Straßenmobilisierung war, ist unser Ziel unverändert: die Art und Weise abzulehnen, wie diese politischen Banden versuchen, sich die Taschen zu füllen, während sie unserem Heimatland das Blut aussaugen, die Art und Weise abzulehnen, wie sie „Demokratie“ nach Belieben und Bequemlichkeit einsetzen. Wir haben in dieser Pandemie einige schwierige Momente durchlebt, und wir sind aufgebracht über diese Politiker, die sich nicht weniger um uns kümmern könnten. Bei der Mobilisierung am 12. November kamen alle heraus, Erwachsene, Jugendliche, Kinder, Student:innen, Fußballfans, Künstler:innen, Musiker:innen, religiöse Menschen usw. Es spielt keine Rolle, welcher Bevölkerungsgruppe oder Ideologie ihr angehört, wir sind alle vereint gegen die Korruption und werden nicht aufhören, bis wir ein Land aufbauen können, in dem Gerechtigkeit und Gleichheit herrschen.
Was sind Ternas?
Ternas ist eine Abteilung innerhalb der peruanischen Polizei, sie sind Undercover-Polizist:innen, die als Demonstrant:innen verkleidet sind. Diese Fraktion wurde gegründet, um Raubüberfälle und Entführungen zu verhindern, begann dann aber, Massenbewegungen zu infiltrieren. Sie gehen auf die Märsche und verhalten sich wie Zivilist:innen, stellen sich aber oft als diejenigen heraus, die zur Gewalt anstiften, so dass die Polizei einen Vorwand hat, Tränengas und Flash-Bangs auf die Demonstrant:innen zu werfen und Menschen festzunehmen. Protest ist ein Menschenrecht, und es ist inakzeptabel, dass die Polizei Infiltration als Mittel einsetzt, um ihre Ziele zu erreichen.
Welche Worte könnt Ihr uns während dieses Aufstands aus der Ferne anbieten? Wie können wir unterstützen, welchen Seiten sollen wir folgen, usw.
Im Moment besteht die beste Art der Unterstützung darin, Informationen zu verbreiten, die direkt von den Menschen an der Front kommen. Zeigt der Welt, was mit uns geschieht, erzählt ihnen von unserem Kampf. Es gibt viele Genoss:innen, die sich über die Brutalität der staatlichen Repression und der Polizeibrutalität austauschen, aber auch über unsere Kunst und unsere Forderungen an diese Unrechtmäßige Regierung. Es gibt Gruppen, die verletzte Demonstrant:innen finanziell unterstützen, wie die Medizinische Brigade von Lima, lokale Gruppen, die die Frontlinien und unsere Verwundeten unterstützen. Ich persönlich möchte allen danken, die sich für unsere Situation und für die Verbreitung der Nachrichten über die Geschehnisse in Peru interessieren, auf welchem Weg auch immer und wo auch immer ihr euch befindet.
Sonst noch etwas?
Ich danke Euch für die Gelegenheit, über das zu sprechen, was hier in Peru geschieht, über die Kunst, die unseren Protesten Nahrung gibt, und über die Geschwisterlichkeit, die unsere Bewegungen vereint. Siempre adelante!
Wir haben zwei Solidaritäts-T-Shirts (Bilder unten) für das Enough Info-Café entworfen. Ihr könnt die Enough Info-Café-Solidaritäts-T-Shirts hier bestellen: https://enoughisenough14.org/product/t-shirt-wir-werden-nicht-zur-normalitat-zuruckkehren-schwarz/ und https://enoughisenough14.org/product/t-shirt-wir-sind-ein-bild-aus-der-zukunft-schwarz/