
Um 04.09 Uhr am 9. Februar 2020 erhielt die Notrufzentrale Alarm Phone einen Anruf, der sich zunächst nicht von den Dutzenden anderer unterschied, die die Organisation jedes Jahr erhält. (Im Jahr 2019 haben 101 Boote mit über 6.200 Menschen an Bord das Alarm Phone um Hilfe gebeten, im Vergleich zu nur 27 Booten im Jahr 2018). Eine Gruppe von 91 Menschen saß vor Garabulli, Libyen, auf einem leck geschlagenen schwarzen Schlauchboot fest. Sie gaben ihre GPS-Koordinaten an Alarm Phone, das die Informationen ordnungsgemäß an die italienischen, maltesischen und libyschen Behörden weiterleitete. Um 05.35 Uhr riefen die Passagiere erneut an – und dann war es still. Man hat nie wieder etwas von den Menschen an Bord gehört.
Bild oben: Das leergelaufene Schlauchboot, das vermutlich zu den 91 Menschen gehört, die am 9. Februar 2020 im Mittelmeer verschwanden. (Quelle: Frontex)
Ursprünglich veröffentlicht von Are You Syrious.

Am 9. Februar dieses Jahres fanden in ganz Europa und in den Heimatstädten der Verstorbenen in Afrika Proteste und Gedenkveranstaltungen statt, um an ihr Leben zu erinnern.
In einem Aufruf zur Aktion schrieb Alarm Phone:
In Solidarität mit [den Toten] und in Solidarität mit den Freund:innen und Familien aller Menschen, die durch das gewalttätige europäische Grenzregime verschwunden sind oder getötet wurden, versammeln wir uns heute in mehreren Städten, um Antworten zu fordern.
Gemeinsam mit ihnen sagen wir ihre Namen laut, um Europa daran zu erinnern, dass jedes Schwarze Leben zählt, dass wir nicht vergessen werden und dass wir weiter gegen dieses rassistische Grenzregime kämpfen werden.
Gemeinsam mit ihnen fordern wir ein sofortiges Ende der rassistischen Gewalt, der Tötung von Menschen auf der Flucht und ihres gewaltsamen Verschwindens.
Heute und jeden Tag kämpfen wir dafür, Europa für seine rassistische Gewalt zur Rechenschaft zu ziehen, und wir kämpfen für Bewegungsfreiheit für alle.
Die 91 Menschen, die an diesem Tag ums Leben kamen, machen nur einen kleinen Teil der geschätzten 983 Menschenleben aus, die laut dem IOM-Projekt „Missing Migrants“ im Jahr 2020 in der riesigen Wasserwüste des zentralen Mittelmeers verloren gingen. Im Jahr 2021, nur fünf Wochen nach Beginn des Kalenderjahres, sind bisher 124 Menschen im gesamten Mittelmeer gestorben.
Das Schweigen der Behörden zu diesem Boot war bezeichnend. Zu der Zeit sagte die libysche Küstenwache Alarm Phone, dass sie keine Such- und Rettungsaktion in dem Gebiet durchführen würden, weil „die Haftanstalten voll waren“, so Alarm Phone.
Einen Monat später schrieb Alarm Phone einen offenen Brief an die Behörden und forderte Antworten und die Übernahme von Verantwortung. Sie erhielten keine Antwort.
Schließlich, im Dezember letzten Jahres, nachdem wir einen weiteren Brief an die Behörden geschickt hatten, erhielt Alarm Phone eine Antwort von Frontex: ein Bild des entleerten Schlauchbootes. Auf dem Foto sind keine menschlichen Überreste zu sehen.
Während es vielleicht eine positive Entwicklung ist, dass Frontex genug Druck verspürte, das Bild (Titelbild oben) zu veröffentlichen, ist ein bloßes Foto grob unzureichend. Es liefert keine Antworten, Erklärungen oder irgendeine Erleichterung. Alles, was es beweist, ist, dass Frontex von dieser Gräueltat wusste und so feige und herzlos war, dass es die Informationen nicht freigab, bis es durch eine Mischung aus internem und externem Druck dazu gezwungen wurde. Es ist mehr als ein Bild eines Bootes, es ist ein Porträt der Komplizenschaft von Frontex.
Im Laufe des vergangenen Jahres meldeten sich Familien und Freund:innen der 91 Vermissten bei Alarm Phone, um sich nach ihren Angehörigen zu erkundigen, und durch gemeinsame Anstrengungen und Selbstorganisation der Familien, von denen die meisten aus Darfur stammen, wurde eine Liste der Verstorbenen erstellt. Zweiundsechzig Namen und Dutzende von Gesichtern lächeln aus der Fotomontage hervor, eine grimmige Erinnerung an den tödlichen menschlichen Tribut der europäischen Grenzpolitik. Wir sind jedoch froh, dass einige Familienangehörige dank dieser Bemühungen auch nur ein kleines Stückchen Trost finden konnten.
In einer bewegenden Würdigung, die gestern (09. Februar, 2021, Enough 14)veröffentlicht wurde, schrieb Alarm Phone:
Wir lehnen die Logik ab, Schwarze/Migrant:innen, ihr Leben und ihren Tod auf Zahlen und Statistiken zu reduzieren. Diese rassistische Entmenschlichung erklärt nicht den Verlust von Abdul, von Aboubacar, von Adnan, von Afdel. Sie berücksichtigt den Schmerz nicht, der ihren Müttern, ihren Schwestern, ihren Freund:innen zugefügt wurde. Sie erklärt nicht die Gewalt der Weißen Vorherrschaft, durch Aktion und durch Untätigkeit, historisch und gegenwärtig, die weiterhin das Leben von Schwarzen/Migrant:innen auslöscht oder sie im Meer sterben lässt.
Weitere Gedenkvideos könnt ihr euch unten ansehen. Ihr könnt auch einen Blog-Beitrag von Civil Fleet über das einjährige Jubiläum lesen.
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