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Sasha K – Einige Anmerkungen zum aufständischen Anarchismus

Im Moment übersetzt Riot Turtle die Killing King Abacus Anthology. Was folgt ist ein Beitrag von Sasha K. aus Killing King Abacus #2 (Frühjahr 2001).

Ursprünglich veröffentlicht in Killing King Abacus #2 (Frühjahr 2001). Übersetzt von Riot Turtle.

Sasha K – Einige Anmerkungen zum aufständischen Anarchismus im PDF-Format:

Der aufständische Anarchismus ist keine ideologische Lösung für alle sozialen Probleme, eine Ware auf dem kapitalistischen Markt der Ideologien und Meinungen, sondern eine fortlaufende Praxis, die darauf abzielt, die Herrschaft des Staates und das Fortbestehen des Kapitalismus zu beenden, was Analyse und Diskussion erfordert, um voranzukommen. Wir blicken nicht auf irgendeine ideale Gesellschaft oder bieten ein Bild der Utopie für den allgemeinen Konsum an. Im Laufe der Geschichte waren die meisten Anarchist:innen, mit Ausnahme die/derjenigen, die glaubten, dass sich die Gesellschaft so weit entwickeln würde, dass sie den Staat hinter sich lassen würde, aufständische Anarchist:innen. Einfach ausgedrückt bedeutet dies, dass der Staat nicht einfach verschwinden wird, also müssen Anarchist:innen angreifen, denn Abwarten ist gleichzusetzen mit einer Niederlage; was nötig ist, ist offene Meuterei und die Ausbreitung der Subversion unter den Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen. Hier führen wir einige der Schlüsse aus, die wir und einige andere aufständische Anarchist:innen aus diesem allgemeinen Problem ziehen: Wenn der Staat nicht von selbst verschwinden wird, wie beenden wir dann seine Existenz? Es handelt sich also in erster Linie um eine Praxis, die sich auf die Organisation des Angriffs konzentriert. Diese Notizen sind in keiner Weise ein abgeschlossenes oder fertiges Produkt; wir hoffen, dass sie Teil einer fortlaufenden Diskussion sind, und Rückmeldungen sind natürlich willkommen. Vieles stammt direkt aus früheren Ausgaben von Insurrection und aus Pamphleten von Elephant Editions, erhältlich über die Adressen am Ende des Beitrags.

1. Der Staat wird nicht einfach verschwinden; Angriff

  • Der Staat des Kapitals wird nicht „dahinwelken“, wie viele Anarchist:innen zu glauben scheinen – nicht nur verschanzt in abstrakten Positionen des „Abwartens“, sondern einige verurteilen sogar offen die Taten derer, für die die Schaffung der neuen Welt von der Zerstörung der alten abhängt. Angriff ist die Verweigerung von Vermittlung, Befriedung, Aufopferung, Anpassung und Kompromiss.
  • Durch Handeln und Lernen zu handeln, nicht durch Propaganda, werden wir den Weg zum Aufstand öffnen, obwohl Propaganda eine Rolle dabei spielt, zu klären, wie man handeln soll. Das Warten lehrt nur das Warten; im Handeln lernt man zu handeln.
  • Die Kraft einer Revolte ist sozial, nicht militärisch. Das Maß für die Bewertung der Bedeutung einer verallgemeinerten Revolte ist nicht die bewaffnete Auseinandersetzung, sondern im Gegenteil die Tragweite der Lähmung der Wirtschaft, der Normalität.

2. Eigenaktivität versus verwaltete Revolte: vom Aufstand zur Revolution

  • Als Anarchist:innen ist die Revolution unser ständiger Bezugspunkt, egal was wir tun oder mit welchem Problem wir uns beschäftigen. Aber die Revolution ist kein Mythos, der einfach als Bezugspunkt benutzt werden kann. Gerade weil sie ein konkretes Ereignis ist, muss sie täglich durch bescheidenere Versuche aufgebaut werden, die nicht alle befreienden Eigenschaften der sozialen Revolution im eigentlichen Sinne haben. Diese bescheideneren Versuche sind die Insurrektionen. In ihnen öffnet der Aufstand der am meisten Ausgebeuteten und Ausgegrenzten der Gesellschaft und der politisch sensibilisiertesten Minderheit den Weg für die mögliche Beteiligung immer breiterer Schichten der Ausgebeuteten an einem Fluss der Rebellion, der zur Revolution führen könnte.
  • Kämpfe müssen entwickelt werden, sowohl auf mittlere als auch auf lange Sicht. Klare Strategien sind notwendig, damit verschiedene Methoden koordiniert und fruchtbar eingesetzt werden können.
  • Autonomes Handeln: Die Selbstverwaltung des Kampfes bedeutet, dass diejenigen, die kämpfen, in ihren Entscheidungen und Handlungen autonom sind; dies ist das Gegenteil einer Organisation der Synthese, die immer versucht, die Kontrolle über den Kampf zu übernehmen. Kämpfe, die innerhalb einer einzigen kontrollierenden Organisation synthetisiert werden, werden leicht in die Machtstruktur der gegenwärtigen Gesellschaft integriert. Wenn sie über das soziale Terrain verteilt sind, sind selbstorganisierte Kämpfe von Natur aus unkontrollierbar.

3. Unkontrollierbarkeit versus verwaltete Revolte: die Ausbreitung des Angriffs

  • Es ist unmöglich, das Ergebnis eines bestimmten Kampfes im Voraus zu sehen. Selbst ein begrenzter Kampf kann die unerwartetsten Folgen haben. Der Übergang von den verschiedenen Aufständen – begrenzt und umschrieben – zur Revolution kann nie im Voraus durch irgendeine Methode garantiert werden.
  • Wovor das System Angst hat, sind nicht diese Sabotageakte an sich, sondern ihre gesellschaftliche Verbreitung. Jedes proletarisierte Individuum, das auch nur über die bescheidensten Mittel verfügt, kann allein oder zusammen mit anderen ihre/seine Ziele aufstellen. Es ist für den Staat und das Kapital materiell unmöglich, den Kontrollapparat, der über das gesamte gesellschaftliche Territorium wirkt, zu beherrschen. Jeder, der das Netzwerk der Kontrolle wirklich herausfordern will, kann seinen eigenen theoretischen und praktischen Beitrag leisten. Das Auftauchen der ersten gebrochenen Verknüpfungen fällt mit der Ausbreitung von Sabotageakten zusammen. Die anonyme Praxis der sozialen Selbstbefreiung könnte sich auf alle Bereiche ausbreiten und die von der Herrschaft aufgestellten Verhaltensregeln durchbrechen.
  • Kleine Aktionen, die leicht reproduzierbar sind und einfache Mittel die allen zur Verfügung stehen erfordern, sind durch ihre Einfachheit und Spontaneität unkontrollierbar. Sie machen selbst die fortschrittlichsten technologischen Entwicklungen in der Aufstandsbekämpfung zum Gespött.

4. Permanente Konfliktualität versus Vermittlung mit institutionellen Kräften

  • Die Konfliktualität sollte als ständiges Element im Kampf gegen die Herrschenden gesehen werden. Ein Kampf, dem dieses Element fehlt, führt dazu, dass wir uns mit den Institutionen arrangieren, uns an die Gewohnheiten des Delegierens gewöhnen und an eine illusorische Emanzipation glauben, die durch parlamentarische Beschlüsse durchgeführt wird, bis hin zu dem Punkt, dass wir selbst aktiv an unserer eigenen Ausbeutung teilnehmen.
  • Es mag vielleicht individuelle Gründe geben, an dem Versuch zu zweifeln, die eigenen Ziele mit gewaltsamen Mitteln zu erreichen. Aber wenn die Gewaltlosigkeit zum unumstößlichen Prinzip erhoben wird und die Wirklichkeit in „gut“ und „böse“ eingeteilt wird, dann haben Argumente keinen Wert mehr, und alles wird in Begriffen von Unterwerfung und Gehorsam betrachtet. Die Funktionär:innen der Antiglobalisierungsbewegung haben durch ihre Distanzierung und Anprangerung vor allem eines deutlich gemacht: dass sie ihre Prinzipien – denen sie sich verpflichtet fühlen – als Machtanspruch über die Bewegung als Ganzes verstehen.

5. Illegalität; der Aufstand ist nicht nur das Ausrauben von Banken

  • Der aufständische Anarchismus ist keine Moral des Überlebens: Wir alle überleben auf verschiedene Weise, oft im Kompromiss mit dem Kapital, je nach unserer sozialen Position, unseren Talenten und Vorlieben. Wir sind sicherlich moralisch nicht gegen den Einsatz illegaler Mittel, um uns von den Fesseln der Lohnsklaverei zu befreien, um zu leben und unsere Projekte weiterzuführen, doch wir verherrlichen auch nicht den Illegalismus oder machen ihn zu einer Art Religion mit Märtyrern; es ist einfach ein Mittel, und oft ein gutes.

6. Informelle Organisation; keine professionellen Revolutionär:innen oder Aktivist:innen, keine permanenten Organisationen

Von der Partei/Gewerkschaft zur Selbstorganisation:

  • Innerhalb der revolutionären Bewegung gibt es tiefe Unterschiede: die anarchistische Tendenz zur Qualität des Kampfes und seiner Selbstorganisation und die autoritäre Tendenz zur Quantität und Zentralisierung.
  • Organisierung dient konkreten Aufgaben: So sind wir gegen die Partei, das Gewerkschaftswesen und die ständige Organisation, die alle dazu dienen, den Kampf zu synthetisieren und zu Elementen der Integration für Kapital und Staat werden. Ihr Ziel wird die eigene Existenz, im schlimmsten Fall bauen sie erst die Organisation auf und finden oder kreieren dann den Kampf. Unsere Aufgabe ist es, zu handeln; die Organisation ist ein Mittel. Deshalb sind wir gegen die Delegation von Aktion oder Praxis an eine Organisation: Wir brauchen eine generalisierte Aktion, die zum Aufstand führt, und keine verwalteten Kämpfe. Die Organisation sollte nicht für die Verteidigung bestimmter Interessen sein, sondern für den Angriff auf bestimmte Interessen.
  • Die informelle Organisation basiert auf einigen Genoss:innen, die durch eine gemeinsame Affinität verbunden sind; ihr treibendes Element ist immer die Aktion. Je breiter das Spektrum der Probleme ist, mit denen diese Genoss:innen als Ganzes konfrontiert sind, desto größer wird ihre Affinität sein. Daraus folgt, dass die wirkliche Organisation, die effektive Fähigkeit, gemeinsam zu handeln, d.h. zu wissen, wo man einander findet, das gemeinsame Erforschen und Analysieren von Problemen und der Übergang zur Aktion, alles in Bezug auf die erreichte Affinität stattfindet und nichts mit Programmen, Plattformen, Fahnen oder mehr oder weniger getarnten Parteien zu tun hat. Die informelle anarchistische Organisation ist also eine spezifische Organisation, die sich um eine gemeinsame Affinität versammelt.

Die anarchistische Minderheit und die Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen:

  • Wir gehören zu den Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen, und deshalb ist es unsere Aufgabe, zu handeln. Dennoch kritisieren einige alle Aktionen, die nicht Teil einer großen und sichtbaren sozialen Bewegung sind, als „Handeln anstelle des Proletariats“. Sie raten zu Analyse und Abwarten, statt zu handeln. Angeblich sind wir nicht an der Seite der Ausgebeuteten; unsere Wünsche, unsere Wut und unsere Schwächen sind nicht Teil des Klassenkampfes. Das ist nichts anderes als eine weitere ideologische Trennung zwischen den Ausgebeuteten und den Subversiven.
  • Die aktive anarchistische Minderheit ist nicht Sklave der zahlenmäßigen Größe, sondern agiert auch dann gegen die Macht, wenn sich der Klassenkampf innerhalb der Ausgebeuteten der Gesellschaft auf einem niedrigen Niveau befindet. Anarchistische Aktion sollte daher nicht darauf abzielen, die gesamte Klasse der Ausgebeuteten in einer riesigen Organisation zu organisieren und zu verteidigen, um den Kampf vom Anfang bis zum Ende zu sehen, sondern sie sollte einzelne Aspekte des Kampfes identifizieren und sie bis zum Abschluss eines Angriffs durchführen. Wir müssen uns auch von den stereotypen Bildern der großen Massenkämpfe und der Vorstellung des unendlichen Wachstums einer Bewegung, die alles beherrschen und kontrollieren soll, wegbewegen.
  • Die Beziehung zur Vielzahl der Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen kann nicht als etwas strukturiert werden, das den Lauf der Zeit überdauern muss, d.h. auf Wachstum bis ins Unendliche und Widerstand gegen den Angriff der Ausbeuter:innen beruhen muss. Sie muss eine reduziertere spezifische Dimension haben, eine, die dezidiert die des Angriffs und nicht die eines Nachhutverhältnisses ist.
  • Wir können damit beginnen, unseren Kampf so aufzubauen, dass Bedingungen der Revolte entstehen und latente Konflikte sich entwickeln und in den Vordergrund gerückt werden können. Auf diese Weise wird ein Kontakt zwischen der anarchistischen Minderheit und der konkreten Situation hergestellt, in der sich der Kampf entwickeln kann.

7. Das Individuum und das Soziale: Individualismus und Kommunismus, ein Scheinproblem.

  • Wir begrüßen das Beste im Individualismus und das Beste im Kommunismus.
  • Ein Aufstand beginnt mit dem Wunsch der Individuen, aus den eingeschränkten und kontrollierten Verhältnissen auszubrechen, dem Wunsch, sich die Fähigkeit wieder anzueignen, das eigene Leben so zu gestalten, wie man es für richtig hält. Das setzt voraus, dass sie die Trennung zwischen ihnen und ihren Existenzbedingungen überwinden. Wo die Wenigen, die Privilegierten, die Existenzbedingungen kontrollieren, ist es für die meisten Individuen nicht möglich, ihre Existenz wirklich zu ihren Bedingungen zu bestimmen. Individualität kann nur dort gedeihen, wo die Gleichheit des Zugangs zu den Existenzbedingungen die gesellschaftliche Realität ist. Diese Gleichheit des Zugangs ist Kommunismus; was die Individuen mit diesem Zugang tun, liegt an ihnen und den Menschen um sie herum. Es gibt also keine Gleichheit oder Identität der Individuen, die im wahren Kommunismus inbegriffen ist. Was uns in eine Identität oder eine Gleichheit des Seins zwingt, sind die sozialen Rollen, die uns durch unser gegenwärtiges System auferlegt werden. Es gibt keinen Widerspruch zwischen Individualität und Kommunismus.

8. Wir sind die Ausgebeuteten, wir sind der Widerspruch: Dies ist keine Zeit abzuwarten.

Gewiss, der Kapitalismus enthält tiefe Widersprüche, die ihn zu Anpassungs- und Evolutionsverfahren drängen, die darauf abzielen, die periodischen Krisen zu vermeiden, von denen er heimgesucht wird; aber wir können uns nicht darin einrichten, auf diese Krisen zu warten. Wenn sie eintreten, werden wir sie begrüßen, wenn sie den Erfordernissen zur Beschleunigung der Elemente des aufständischen Prozesses entsprechen. Als Ausgebeutete sind wir jedoch der grundlegende Widerspruch für den Kapitalismus. Daher ist die Zeit immer reif für den Aufstand, genauso wie wir feststellen können, dass die Menschheit die Existenz des Staates zu jedem Zeitpunkt ihrer Geschichte hätte beenden können. Ein Bruch in der ständigen Reproduktion dieses Systems der Ausbeutung und Unterdrückung war immer möglich.

Sasha K.


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