
Ein Beitrag von Peter Gelderloos zum Thema Hierarchie.
Ursprünglich veröffentlicht in Dope Issue 12. Übersetzt von Bratislav Metulski.
Anarchist*innen sind gegen Hierarchie – aber was heißt das überhaupt?
„Anarchist*innen führen kein Leben in der realen Welt. Schließlich würden sie es nicht zulassen, dass ihre Nachbar*in eine Gehirnoperation an ihnen durchführt, daher erkennen sie Expertise an, aber Expertise bedeutet Hierarchie.“ Pop-Philosophen und liberale Kommentatoren sind der Meinung, dass sie mit solch einem Satz ein schnelles Tor geschossen haben. In Wirklichkeit studieren und analysieren Anarchist*innen die Hierarchie seit über einem Jahrhundert, also sollte es keine Überraschung sein, dass wir genau diese Frage schon viele, viele Male beantwortet haben.
Dahinter steckt kaum mehr als ein Wortspiel, bei welchem die drei sehr unterschiedlichen Begriffe „Rang“, „Kompetenz“ und „Hierarchie“ durcheinander geschmissen werden. Abgesehen von Populisten, die vorgeben, dass alle Formen der Macht gleich sind, um auch weiterhin die schlimmsten und unterdrückensten Formen der Machtausübung zu rechtfertigen, wurden die Gewässer auch von Psychologen mit einer individualistischen Ausrichtung oder auch von Tierverhaltensforschern, welche durch das Studium von Tieren in Gefangenschaft allzu vereinfachte Schemata für soziale Gruppen erstellten, getrübt. Diese fühlten sich zu dem Begriff der Hierarchie hingezogen, obwohl (oder vielleicht auch gerade deshalb?) dieser Begriff ursprünglich auf die menschliche Gesellschaft angewendet wurde und von Anarchisten entwickelt wurde, um zwischen gerechten und ungerechten Formen der sozialen Organisation zu unterscheiden.
Dass sich Bedeutungen im Laufe der Zeit und über Kontexte hinweg verändern, ist eine grundlegende Tatsache der Sprache, aber die Auswirkungen dieser Veränderungen sind alles andere als neutral. Es gibt Veränderungen, welche die Bedeutung zerstören, wodurch es einfacher wird, Menschen zu manipulieren und auch schwieriger, sich klar und deutlich auszudrücken. Und das Englische ist, aus welchen Gründen auch immer, besonders anfällig für solche Veränderungen – vielleicht aufgrund der Tatsache, dass es die Sprache ist, in welcher die Werbeindustrie erfunden wurde, oder aufgrund der Fülle von Homonymen und Synonymen oder auch aufgrund des vorherrschenden Puritanismus in unserer Kultur.
Was auch immer der Grund sein mag, wir können behaupten, dass die oben genannten Verwendungen von Hierarchie falsch sind, nicht nur aufgrund der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs, sondern weil diese Verwendungen es unmöglich machen, Unterdrückung und Zwang in menschlichen Gesellschaften zu analysieren, was in vielen Fällen genau der Grund ist, warum Zentrist*innen versucht haben, den Begriff aus antiautoritären Theorien zu stehlen.
Rang
Eine Rangliste ist einfach eine vergleichende, lineare Anordnung von Elementen. Das kann bedeuten, dass man seine Favoriten hat, einen sportlichen Wettbewerb veranstaltet oder die Fähigkeiten von Personen in einer bestimmten Aktivität bewertet. Diese Fußballmannschaft ist besser als jene, sie hat das schönste Ziel, ich mag Maisgrütze lieber als Cap’n Crunch. Diese Kriterien sind unbegrenzt: Es gibt Millionen von Fähigkeiten oder Vorlieben, die verglichen werden können, und Millionen von Möglichkeiten, diese zu vergleichen. In Abwesenheit einer sozialen Hierarchie verleiht der Rang dir keine Macht über irgendjemand anderen. Ein hoher Rang kann dir Status verleihen, was in tatsächlichen Hierarchien zweifellos eine Rolle spielen kann, aber er stellt an und für sich keine Hierarchie dar. Die Nummer 1 in etwas zu sein, verhilft dir nicht zwangsläufig zu einem Vorteil in anderen Bereichen.
Expertise
Expertise ist die soziale Anerkennung von Wissen und Fähigkeiten. Diese Anerkennung kann informeller Natur sein – Du bittest Deine Nachbarin, Dir bei der Reparatur Deines Autos zu helfen, einfach weil jeder weiß, dass sie eine gute Mechanikerin ist – oder sie ist formeller Natur, wie beispielsweise bei der Zulassung von Ärzt*innen. Wenn sie formell ist, so bedeutet dies, dass sich eine Gruppe von Expert*innen organisiert hat, um eine Anerkennung zu verleihen und vielleicht auch darüber zu entscheiden, wer diesen Beruf ausüben darf. Dadurch wird anerkannt, dass Wissen kollektiv ist und Fachwissen eine Menge Aufwand erfordert. Menschen sind in der Tat nicht alle gleich, und in manchen Fällen verleiht einem die Tatsache, dass man besser oder erfahrener in einer bestimmten Sache ist, eine größere Legitimation, diese Sache durchzuführen, z. B. ein Flugzeug zu fliegen oder einen schwerwiegenden Konflikt zu schlichten. Fragen der Unterdrückung kommen ins Spiel, wenn Menschen der Zugang zur Bildung, welche sie benötigen, um Expert*innen auf ihrem gewählten Gebiet zu werden, vorenthalten wird, oder wenn jemandes Erfahrungen oder Fähigkeiten nicht anerkannt werden, nur weil diese Person einer marginalisierten Gruppe angehört. Auch hier erfordern beide Formen des Ausschlusses die Existenz einer sozialen Hierarchie und sind keine naturgegebenen Eigenschaften der Expertise selbst.
Anarchist*innen werden keine Probleme damit haben, sich eine Gesellschaft vorzustellen, in welcher Berufsgruppen ihre eigene Ausbildung organisieren und freien Zugang und Zusicherung von Qualität sowie Sicherheit garantieren. Wenn man sich einer Operation unterzieht, will man natürlich sicher sein, dass die Person, welche den Eingriff durchführt, gut genug ist, bzw. dass sie, wenn sie in der Vergangenheit fahrlässig gehandelt hat, nicht mehr in der Lage sein wird, dies erneut zu tun. Eine formale Institution, die darüber entscheidet, wer für die Ausbildung ausgewählt wird, besonders wenn sie ein Monopol in ihrem Bereich hat, hat sicherlich ein autoritäres Potential, vor dem sich Anarchist*innen in Acht nehmen sollten, aber es gibt viele Möglichkeiten, derartige Institutionen so zu organisieren, dass sich dieser Autoritarismus nicht manifestieren kann.
Hierarchie
Hierarchie bedeutet im ursprünglichen Sinn „Herrschaft durch Obrigkeit“. Es ist eine soziale Ordnung, in welcher eine geschlossene Organisation mit einer internen Rangordnung entscheidet, wer beitreten kann und wie er die institutionelle Leiter zu erklimmen hat. Je höher man aufsteigt, desto mehr Macht hat man, sowohl über Eingeweihte als auch über die Masse der Menschen außerhalb dieser Organisation. Mit anderen Worten: Eine Hierarchie ermöglicht es einer kleinen Elite, sowohl eine Organisation als auch die Werte der breiteren Gesellschaft zu kontrollieren und jeden (innerhalb und außerhalb der Organisation) dazu zu bringen, an dieser Herrschaft teilzunehmen. Selbst die Elite ist dabei nicht völlig frei. Obwohl sie die meisten Handlungsmöglichkeiten hat, muss sie immer noch die Logik der Institution aufrechterhalten, welche die Macht, die sie ausübt, produziert, und diese Macht neigt dazu, sich im Laufe der Zeit zu akkumulieren, was bedeutet, dass die Traditionen der Organisation stärker sein können als ihre einzelnen Mitglieder. Letztendlich sind die Mitglieder einer Hierarchie nur darin frei, die Macht der Hierarchie zu vergrößern, wobei Streitigkeiten darüber, wie dies am besten zu bewerkstelligen sei, durch die Beziehung zwischen der Menge an Macht, welche die Hierarchie mobilisieren kann, und der Menge an Macht, die bestimmte Mitglieder der Hierarchie für ihre eigenen Zwecke gegen ihre Gegner einsetzen können, gelöst werden.
Mit anderen Worten: Der Präsident oder oberste Herrscher einer sehr mächtigen Hierarchie ist unter Umständen nicht in der Lage, einen Machtkampf gegen niedrigere Mitglieder der Hierarchie zu gewinnen, wenn dies bedeutet, gegen die Tradition (einschließlich institutioneller Strukturen) oder die wahrgenommenen Interessen der Hierarchie selbst vorzugehen.
Umgekehrt kann ein Diktator oder Alleinherrscher, welcher in der Lage ist, über den größten Teil der von der Hierarchie produzierten Macht zu verfügen, diese am Ende zerstören, weil er diese für irrationale Lieblings-Projekte einsetzt, welche die Hierarchie an ihrer Basis schwächen.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Rolle jener Menschen am unteren Ende der Hierarchie, welche außerhalb der Institution stehen, jedoch für die Hierarchie selbst lebenswichtig sind. Bei den schwächsten Hierarchien, wie den religiösen Orden, aus denen einige frühe Staaten hervorgingen, sind diese Leute keine Gefangenen, sondern lediglich Zuschauer, und technisch gesehen könnten sie einfach weggehen. In derartigen Fällen hat die hierarchische Organisation einen zentralen symbolischen Platz eingenommen, und wegzugehen bedeutet, dass die Menschen ihre Kultur, ihre sozialen Beziehungen und den Zugang zu spirituellen Ritualen, welche für sie wichtig geworden sind, verlieren werden.
Im Falle von stärkeren Hierarchien, wie in jedem modernen Staat, sind die Menschen am unteren Ende Gefangene. Wir haben keine Zustimmung gegeben, wir können nicht weglaufen, und die Hierarchie des Staates kann uns, unterstützt durch die Gewalt ihrer Polizei und ihres Militärs, jede Entscheidung aufzwingen, die sie will.
Genau das ist es, was Anarchist*innen ablehnen, und dies alles mit gutem Grund. Und nicht ohne Grund versuchen die Apologet*innen des Staates, das Wasser zu trüben, denn wenn die unfreiwillige Natur des Staates offengelegt wird, kann seine einzige Rechtfertigung nur noch die der rohen Gewalt sein.
Peter Gelderloos ist ein Anarchist und Autor mehrerer Bücher, darunter Anarchy Works, The Failure of Nonviolence und Worshiping Power: An Anarchist View of Early State Formation.
Fotografie von The Sweet Flight ( Warnung Instagram-Link).