
Ein Beitrag von Krytyka Polityczna. Riot Turtle hat die leicht editierte englische Version von den Genoss*innen von Freedom News übersetzt.
Ursprünglich veröffentlicht von Krytyka Polityczna. Geschrieben von Katarzyna Czarnota und Marta Górczyńska. Englischsprachige Version von Freedom News. Übersetzt von Riot Turtle.
Vorwort Freedom News
Im vergangenen Monat berichtete Freedom über die Notlage von 32 Menschen aus Afghanistan, die in der EU Asyl beantragen wollten und an der polnisch-weißrussischen Grenze inhaftiert und dort wochenlang ohne Nahrung, Unterkunft oder medizinische Versorgung zurückgelassen wurden. Diese Menschen sind die Opfer eines diplomatischen Streits zwischen dem diktatorischen Regime des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko und der EU.
Die belarussische Regierung fliegt die Menschen zunächst in die Hauptstadt Minsk und zwingt sie dann, die Grenze zu Polen oder anderen benachbarten EU-Ländern zu überqueren. Der polnische Staat seinerseits drängt die Menschen, die versuchen, die Grenze zu überqueren, zurück nach Belarus, oft unter Anwendung von Gewalt und ohne Rücksicht auf die Sicherheit und das Wohlergehen der Menschen.
Die Opfer der illegalen Pushbacks, die durch die ungewohnte Umgebung bereits erschöpft und verwirrt sind, werden in behelfsmäßigen Lagern entlang der Grenze zurückgelassen, ohne angemessene Versorgung, Nahrung oder Unterkunft, oder sie verschwinden einfach. Diese brutale Praxis verstößt gegen die internationalen Gesetze über die Rechte von Geflüchteten. Alle Organisationen, die versuchen, diesen verzweifelten Menschen zu helfen, werden aus dem Gebiet verdrängt, nachdem Polen den Ausnahmezustand verhängt hat, um diese, wie sie es nennen, „Invasion“ zu bekämpfen. In der Zwischenzeit nutzt der polnische Staat diese Angelegenheit, um mit nationalistischer Kriegspropaganda hausieren zu gehen.
Bislang wissen wir von fünf Todesfällen, die eine direkte Folge dieser unmenschlichen Behandlung sind, aber diese Zahl könnte noch viel höher sein: Das Gebiet entlang der Grenze ist ein gefährlicher Wald, und es wird dort kalt. Die Geflüchtete werden daran gehindert, nach Belarus zurückzukehren oder ihre Reise durch Polen fortzusetzen, und werden stattdessen an der Grenze zurückgelassen, um im Grunde genommen zu sterben.
Nachfolgend veröffentlicht Freedom einen Bericht von Katarzyna Czarnota und Marta Górczyńska: zwei Aktivistinnen der „Grupa Granica“, die vor Ort sind und alles in ihrer Macht stehende tun, um zu helfen.
Video: Eine Gruppe von Geflüchteten, die ohne Essen, Wasser und Unterkunft an der Grenze festsitzen. Das Video wurde am fünften Tag ihrer Tortur aufgenommen.
Es ist nicht bekannt, an wie vielen Orten entlang der polnisch-belarussischen Grenze extrem erschöpfte Geflüchtete dem Tod überlassen werden. Niemand kümmert sich um diese Menschen, und niemand sucht nach ihnen – alles geschieht in Stille. Wenn sich diese Situation nicht ändert, werden wir irgendwann neue Massengräber in den Wäldern rund um dieses Gebiet in Europa finden.
Die Verhängung des Ausnahmezustands im Nordosten Polens am 2. September war vor allem ein Versuch, die Aktivitäten von Anwält*innen, Medien, Nichtregierungsorganisationen und Aktivist*innen zu unterbinden, die Menschenrechtsbeobachtung und -dokumentation betreiben oder das Vorgehen der Behörden auf andere Weise hinterfragen. Als Aktivist*innen, die sich in der Nähe des Ausnahmezustandsgebiets aufhalten, rufen wir zum Eingreifen auf!
Unsere täglichen Einsätze bestätigen, dass die Menschen, die wir im Wald antreffen, in den meisten Fällen ohne unser Eingreifen wahrscheinlich schon tot wären. Die Menschen, die wir treffen, befinden sich oft in einem Zustand extremer Erschöpfung. Wir machen die Arbeit, die sonst niemand in diesem Land macht.

Diese Arbeit sollte von praktisch allen in dem Gebiet verfügbaren staatlichen Stellen durchgeführt werden. Ihre gesetzliche Pflicht ist es, die Opfer*innen einer Situation zu retten, die die polnische Regierung als politisch-militärischen Konflikt mit Belarus („Hybrid-Krieg“) bezeichnet. Krankenwagen, Sanitäter*innen und das Polnische Rote Kreuz sowie alle Einrichtungen und Organisationen, die in der Lage sind, die Migrant*innenen zu finden und ihnen sofortige Hilfe zu leisten, sollten in das Gebiet geschickt werden, in dem der Ausnahmezustand herrscht.
Angesichts der Situation ist die Frage, wie es mit diesen Menschen weitergeht, zweitrangig. Wir sprechen nicht mehr von einer politischen Krise, die damit zusammenhängt, dass Diktator*innen und Schmuggler*innen das Fehlen einer sicheren Durchreise und das Fehlen funktionierender Mechanismen ausnutzen, um internationalen Schutz für Menschen zu suchen, die aus ihren Herkunftsländern fliehen. In diesem Stadium haben wir es mit einer humanitären Krise zu tun, wenn man bedenkt, wie viele Menschen dieses politische Spiel mit ihrem Leben bezahlen können. Unsere oberste Pflicht ist es, alles dafür zu tun, dass niemand mehr an der polnischen Grenze sterben muss.
Die gesetzliche Regelung zur Verhängung des Ausnahmezustands hat die Öffentlichkeit praktisch von der Information über die tatsächliche Zahl der Pushbacks nach Belarus abgeschnitten. Das Gesetz hindert jeden daran, die Situation im Grenzgebiet zu beobachten, zu dokumentieren oder darüber zu berichten. Kein Anwalt*in, keine Nichtregierungsorganisation und keine Privatperson kann zuverlässig über diese Situation berichten. Wir wissen nicht, wie viele Menschen in den Wäldern gestorben sind.

Wir sind nur etwa 10 Leute, und allein in den letzten zwei Tagen haben wir 11 Menschen vor dem Tod gerettet und 40 Berichte von Menschen aufgezeichnet, die unterwegs waren und (manchmal wiederholt) illegal abgeschoben wurden. Unter dem Deckmantel der „Verhinderung illegaler Migration“ wird den Lebens- und Gesundheitsrettungsdiensten die Arbeit untersagt, und der Staat erlaubt Ärzt*innen und Sanitäter*innen nicht, einzugreifen. Zunehmend stoßen wir auf die Weigerung der Betreiber*innen der Dienste, Hilfe zu leisten. Es ist uns egal, ob jemand stirbt oder nicht“, hören wir, „das sind illegale Einwanderer“.
Wir können nur indirekte Informationen aus den von der polnischen Regierung bereitgestellten Daten und Statistiken gewinnen. Wir haben jedoch viel mehr Informationen, die uns von den Geflüchteten selbst mitgeteilt werden, wenn sie es schaffen, uns über soziale Medien zu kontaktieren. Nur einige hatten das Glück, uns ihren Aufenthaltsort zusammen mit einem Hilferuf zu übermitteln.
Wir dürfen die Ausnahmezustandszone nicht betreten und sind daher gezwungen, außerhalb der Zone zu operieren. Das schränkt unsere Möglichkeiten ein, und wenn wir versuchen, die Ausnahmezustandszone zu betreten, können wir festgenommen werden. Helfer*innen werden zunehmend als Bedrohung für den Nationalstaat angesehen, weil sie dessen extreme Gewalt und Unfähigkeit bei politischen Spielen aufdecken.
Wir sind der Meinung, dass Vertreter*innen aller internationalen, humanitären und die Menschenrechte beobachtenden Organisationen sofort in dieses Gebiet einreisen sollten. Das ist zum jetzigen Zeitpunkt das Wichtigste: in einer Krise zu helfen, um weitere Todesfälle zu verhindern. Wir erwarten, dass solche Entscheidungen getroffen werden, und rufen gleichzeitig alle dazu auf, die notwendigen Interventionen zu unterstützen.
Die lokale Bevölkerung in der Ausnahmezustandszone ist sich nicht ganz im Klaren darüber, was genau vor sich geht. Einerseits sind sie erschrocken über das Ausmaß der dramatischen Ereignisse, andererseits wissen sie nicht, was sie tun sollen, da die Regierungspropaganda mit der angeblichen „Bedrohung“ durch Geflüchtete eine Art Panikmache betreibt.

Das Ausmaß der Entmenschlichung, das wir heute beobachten, hat seinen Ursprung in den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs. Als Folge des Krieges wurde die Genfer Konvention mit dem Ziel gegründet, auf internationaler Ebene vor den Gräueltaten des Krieges zu schützen. Als eines der wenigen europäischen Länder hat Polen seit den 1990er Jahren keine Migrationspolitik mehr betrieben – es gibt im polnischen Rechtssystem kein Dokument mit dieser Bezeichnung. Die Aktivitäten auf staatlicher Ebene konzentrieren sich eher auf Abschiebungen als auf die Gewährung von Schutz, d. h. die Gewährleistung der Sicherheit der Menschen.
Heute ist jedoch keine Zeit, über die Unzulänglichkeit der Genfer Konvention selbst in Bezug auf die aktuellen Konflikte und Ursachen der Migration, wie die Klimakrise oder extreme Armut, zu diskutieren. Heute sollten wir verhindern, dass wir noch mehr Tote in den europäischen Wäldern finden werden.
Die derzeitige „Sicherheitspolitik“ des polnischen Staates ist eine Politik der Gewalt und der Ohnmacht. Davon zeugen sowohl konkrete Projekte und Entscheidungen als auch Bilder oder Beschreibungen der Situation an den Grenzen. Statt Lösungen zu finden, die auf der Schaffung sicherer Migrationsrouten beruhen, werden die Menschen in die Hände von Schmuggler*innen geworfen. Die physischen Barrieren, wie z. B. der Stacheldraht entlang der polnisch-belarussischen Grenze, führen nur dazu, dass die Menschen gezwungen sind, eine längere und gefährlichere Route zu wählen. Dies wiederum führt dazu, dass immer mehr von ihnen auf ihrer Reise ums Leben kommen. Wahrscheinlich wird niemand herausfinden, wie viele Menschen die Pushbacks über die belarussische Grenze mit ihrem Leben bezahlt haben.
Wer wird für den Tod dieser Menschen haftbar gemacht? Wer informiert ihre Familien und wer kümmert sich um ihre Beerdigung? Sicherlich sind die Befehlshaber*innen für diese Situation verantwortlich. Aber diejenigen, die die Befehle ausführen, sollten an die Verpflichtung erinnert werden, sich zu weigern – in diesem Fall, sich zu weigern zu töten und zu entmenschlichen.
Katarzyna Czarnota und Marta Górczyńska
Katarzyna Czarnota ist eine Aktivistin und Soziologin. Marta Górczyńska ist Anwältin und spezialisiert auf Menschenrechtsfragen. Beide Autorinnen engagieren sich derzeit für die „Grupa Granica“, eine Gruppe, die Migrant*innen unterstützt, die versuchen, die polnisch-belarussische Grenze zu überqueren.
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