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Eine Botschaft von Geflüchtete: Nach dem Tod unseres Bruders [Calais, Frankreich]

Calais. Frankreich. Am vergangenen Dienstag, dem 28. September, starb Yasser, ein junger Sudanese , an der französisch-britischen Grenze. Trotz ihrer Trauer hat seine Familie beschlossen, Yassers Leiche in Calais zu bestatten. Yassers Verwandte und Angehörige der sudanesischen Gemeinschaft in Calais haben den folgenden Brief geschrieben.

Ursprünglich veröffentlicht von Calais Migrant Solidarity. Übersetzt von Riot Turtle.

Wir rufen Tag für Tag. Aber niemand hört uns. Das ist die Sprache unserer Herzen hier in Calais. Calais ist eine sehr schöne Stadt, aber wir leben lediglich hinter einem Vorhang der Schönheit. Wir können die Lichter der Wahrheit, der Freiheit und der Sicherheit in Calais nicht sehen.

Wir sind zu dieser Stadt gekommen, weil wir ein kleines Ziel haben. Wir leben in der Hoffnung, dass die Zukunft besser sein könnte. Aber wir müssen uns fragen, warum das Universum uns nicht erlaubt, unsere Zukunft, unsere Freiheit, unsere Sicherheit zu erreichen.

Jeden Morgen gibt es in Calais eine neue Notlage. Wir leben in dem Wissen, dass unsere Freund*innen, die heute bei uns sind, morgen vielleicht nicht mehr unter uns sind. Der Tod ist in unseren Augen, Angst und Sorge lassen uns nicht los.

Unser Leben ist voll von Geschichten, aber sie sind sehr traurig und schmerzhaft.

Heute haben wir das Lächeln unseres lieben Bruders Yasser verloren. Gestern noch hat er mit uns gespielt.

Wir gehen tagsüber durch die Straßen, aber die Angst lässt uns nicht los. Dann versuchen wir zu essen, aber wir schmecken nur Traurigkeit. Wir trinken Wasser, aber wir können unseren Schmerz nicht stillen. Als die Nacht in Calais anbricht, ist es ruhig. Unsere Augen versuchen zu ruhen, aber wir haben keinen Platz zum Schlafen. Und das alles, weil wir ein kleines Ziel haben.

Die Polizei in Calais. Wir fragen uns von Zeit zu Zeit: Warum all diese Grausamkeit von eurer Seite? Ihr wisst, dass wir nicht eure Feinde sind.

Wir leben in den Wäldern, weit weg von deinen Augen, weil wir dich fürchten. Und doch kommt ihr früh am Morgen und nehmt unsere einfachen Habseligkeiten mit, als wären sie nichts für euch, obwohl ihr genau wisst, dass sie alles für uns sind. Unsere Häuser. Ohne Menschlichkeit lasst ihr uns im Freien stehen, wo uns die Kälte beißt und der Regen auf unsere Köpfe prasselt, als ob wir keine Menschen wären.

Wenn wir dann versuchen zu gehen, während ihr unser Hab und Gut zerstört, werden wir von einigen eurer Mitglieder*innen geschlagen und mit Gas beschossen. Und morgen zwingt ihr uns in einen staatlichen Bus, der uns an weit entfernte Orte bringt, die wir noch nie gesehen haben, und behauptet, das sei alles zu unserem „Schutz“. Warum bittet ihr uns nicht um Erlaubnis?

Lkw-Fahrer*innen. Bei unseren Versuchen, die Grenze auf Lastwagen zu überqueren, werden wir immer wieder Verletzungen ausgesetzt, die zu Knochenbrüchen, schweren Wunden und sogar zum Tod führen. Wir glauben, dass jede Verletzung, die wir erlitten haben, von den Fahrer*innen vorsätzlich herbeigeführt wurde.

Es ist klar, dass du, der Fahrer*in, merkst, dass ein Migrant*in auf dem Lkw mitfährt. Du schüttelst den Lkw und trittst immer wieder auf die Bremse, bis wir die Kontrolle über den Griff verlieren. Du weißt, dass wir stürzen und uns eine Schulter, eine Hand, ein Bein oder eine Wirbelsäule brechen werden. Aber das ist dir nicht genug. Wenn wir auf den Boden fallen, werden wir von dir heftig verprügelt. Du gehst weg und setzt deinen Weg fort. Wenn wir unsere Augen öffnen, liegen wir wieder im Krankenhaus. Warum können wir unsere Reise nicht fortsetzen?

Humanitäre Organisationen und medizinische Unterstützung in Calais. Wir nutzen diese Gelegenheit, um denjenigen, die in Calais die humanitären Hilfswesten tragen, unseren herzlichen Dank auszusprechen. Wir danken euch für die Arbeit, die ihr immer und immer wieder leistet. Ihr rettet das Leben unserer verletzten Brüder und Schwestern. Wir verdanken euch so viel. Wir danken auch unseren Brüdern und Schwestern in den humanitären Organisationen, die uns mit Lebensmitteln, Wasser und Duschen unterstützen.

Für Yasser

Von Geflüchteten in Calais, 2021.

Ein englische, französische und arabische Übersetzung findet ihr hier: https://enoughisenough14.org/2021/10/10/message-from-the-refugees-after-the-death-of-our-brother-calais-france/


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