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Eine anarchistische Analyse über die Anarchist*innen im ukrainischen Widerstand gegen die russische Invasion

Eine Gruppe ukrainischer Anarchist*innen, die in Kiew lebt, erklärte, dass sie sich dem breiten Widerstand gegen die russische Invasion angeschlossen hat und ihre eigene Gruppe organisiert – was zu vielen Debatten in anarchistischen Kreisen führte. Solange wir ihre Lebensumstände nicht genau kennen, könnte mensch denken, dass es sich um reine NATO-Befürworter, verwirrte nationalistische Anarchist*innen oder sogar Neonazi-Anhänger*innen handelt. Das sind sie aber nicht! Ihren Erklärungen vor und während des Krieges zufolge wissen sie genau, was die NATO, Kapitalismus, Nationalismus und Imperialismus sind; und sie sind gegen all das. Für mich sind sie einfach eine Gruppe von Genoss*innen, die sich inmitten eines Krieges befinden und versuchen, einen Weg zu finden, ihr eigenes Leben und ihre eigenen Ideen zu verteidigen.

Bild oben: Antiautoritärer Kämpfer*innen von Resistance Committee in der Ukraine.

Ursprünglich veröffentlicht von Avtonom. Geschrieben von Batur Ozdinc. Übersetzt von Riot Turtle.

Ich persönlich bin (vielleicht wie viele Anarchist*innen) der Meinung, dass der „russische Staat“ (abgesehen vom Donbass oder was auch immer) kein „Recht“ hat, unter dem Vorwand, sich gegen die NATO zu verteidigen, in die Ukraine als Ganzes einzufallen. In diesem Sinne könnte mensch den Widerstand der lokalen (zivilen) Bevölkerung in der Ukraine (allerdings nicht der ukrainischen Armee) als ein „Recht“ ansehen. Der Krieg hat jedoch zwei Kontrahenten; beide sind pro-kapitalistisch, auch wenn einer von ihnen scheinbar unterdrückerischer und imperialistischer ist. Hinzu kommt, dass der Staat und der kapitalistische Mechanismus die Bevölkerungen gegeneinander aufhetzen und nationalistische Ideen durchsetzen – was in einigen Fällen zu Massakern oder Völkermord führt, wie in der späten osmanischen Zeit an den Armeniern und in Nazideutschland an den Juden und Roma. Daher kann der „zivile Widerstand“, auch wenn er auf den ersten Blick „unschuldig“ erscheinen mag, zu Lynchjustiz, Massakern an anderen Nationen und Gegner*innen oder zur Gründung eines neuen „nationalistischen“ Staates führen.

Die Unterstützung der ukrainischen „Seite“ ist nicht dasselbe, was Anarchist*innen in der Vergangenheit während der Revolution von 1936 in Katalonien (dem so genannten Bürgerkrieg in Spanien) taten, bei der sowohl kapitalistische, religiöse als auch staatliche Institutionen in Frage gestellt wurden, und sie hat auch nichts mit den Vorgängen in Rojava (Nordsyrien) zu tun, die stark von den Ideen Bookchins beeinflusst sind. Die Ukraine mag „demokratischer“ sein und eine offene Gesellschaft im liberalen Sinne (als Russland), aber sie ist immer noch ein kapitalistischer Staat.

Auf der anderen Seite verwandelt sich die antirussische Stimmung, die von den westlichen Medien angeführt wird, in eine Art Rassismus, eine Feindseligkeit gegen die russische Bevölkerung und Kultur als Ganzes – nicht nur gegen Putin, den russischen Staat oder den Imperialismus überhaupt. Ich glaube, das ist etwas, wogegen wir uns als Anarchist*innen wehren sollten, solange wir betonen, dass die NATO genauso schlimm ist wie der russische Imperialismus (vielleicht in einigen Fällen sogar schlimmer).

Anarchismus und „Krieg“ sind zwei verschiedene Konzepte, die sich völlig widersprechen. Viele von uns verwenden in manchen Fällen immer noch den Begriff „Klassenkrieg“, aber was wir meinen, ist nicht das Gleiche wie die Befürworter*innen von Staaten meinen. Wir verteidigen nicht die Idee einer Gruppe von „permanent bewaffneten Menschen“, die organisiert sind, um ein Land zu verteidigen (eine organisierte Armee) oder unterstützen sogar (wie die meisten Anarchist*innen) überhaupt keine „Armee“. Im Allgemeinen bevorzugen wir den libertären Guerillakampf, der entweder auf eine soziale Revolution oder auf Selbstverteidigung (oder beides) abzielt. In einigen Fällen fanden wir uns zwar in Zusammenarbeit mit verschiedenen (kapitalistischen, staatlichen oder sogar imperialistischen) Kräften wieder, aber wie Durruti sagte: „Keine Regierung der Welt bekämpft den Faschismus bis zum Tod“, und wir sollten wissen, dass eine solche Zusammenarbeit vorübergehend ist und etwas, das wir nicht besonders mögen.

Für viele von uns ist es einfach, „Nein zum Krieg und Nein zur NATO und russischen Imperialismus“ zu sagen. Auf Türkisch sagen wir „Davulun sesi uzaktan hos gelir“ („Das Trommeln klingt schön aus der Ferne“ – „Das Gras sieht auf der anderen Seite grüner aus“). Andererseits habe ich viel über die Repressionen gegen belarussische Anarchist*innen gelesen, die gezwungen waren, zu fliehen (vor allem in die Ukraine und nach Polen); außerdem kann ich mir nur vorstellen, wie schwer es ist, in einem Land zu leben und zu überleben, das von einem imperialistischen Staat überfallen wird, wie es die ukrainischen Genoss*innen tun. Ich kann also nur erahnen, wie sehr sie unter den Unterdrückern in Belarus und Russland leiden; in diesem Sinne versuche ich, ihre Wut gegen den russischen Imperialismus zu verstehen.

Letztendlich sind wir alle gegen den Staat, den Kapitalismus und den Imperialismus, auch wenn unsere Aktionen und Formulierungen (als Anarchist*innen) je nach Zeit und Raum unterschiedlich sein können. Unter diesen Umständen sollten wir, auch wenn wir ausnahmsweise mit nicht-anarchistischen Kräften zusammenarbeiten, die Tatsache nicht vergessen, dass diejenigen, die wir auf derselben Seite bekämpfen, in naher Zukunft unsere Feinde sein könnten. Unser Hauptziel sollte es sein, internationale Solidarität unter unseren Genoss*innen und der Arbeiter*innenklasse zu entwickeln und den Kampf gegen den Krieg weiterzuführen.

Batur Ozdinc


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