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Der Krieg in der Ukraine durch die Augen von Nestor Machno

Anarchisten*innen in der Ukraine und in Russland sind keine Fans von Staaten. Aber sie sind gegen den russischen Krieg gegen den ukrainischen Staat.

Bild oben: Porträt von Nestor Makhno an einer Wand in Luhansk, 2013 (Shutterstock)

Ursprünglich veröffentlicht von FPIF. Geschrieben von Mira Oklobdzija. Übersetzt von Riot Turtle.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat gesagt, dass Russ*innen und Ukrainer*innen Geschwister sind, aber dass die Ukrainer*innen einer Gehirnwäsche unterzogen wurden. Dieser Argumentation folgend, schickt der Kreml angeblich klar denkende und gut informierte russische Soldat*innen in den Kampf gegen ihre armen, gehirngeschädigten Brüder und Schwestern. Das ist kein sehr erfreuliches Bild – und es ist auch nichts Neues. In vielerlei Hinsicht wiederholt der aktuelle Konflikt eine frühere Tragödie, an der einer der wichtigsten Anarchist*innen der Ukraine beteiligt war.

Nestor Iwanowytsch Machno wurde in Huliaipole geboren, das in derselben Provinz liegt wie das Kernkraftwerk Saporischschja. Bis 1921 nahm Machno an vielen Kampfhandlungen in dieser Region teil. Zunächst stand er im Ersten Weltkrieg Deutschland und seinen Verbündeten gegenüber, gefolgt von der reaktionären Russischen Weißen Armee. Dann kämpfte er gegen die Regierung in Kyiw, bevor schließlich die Rote Armee die Makhnowschtschina besiegte und Machno endgültig ins Exil zwang.

In den ersten Phasen der russischen Revolution wurde Machno jedoch als „Bruder“ angesehen, der die Ideen der Sowjets, d. h. der lokalen Organisationen von Bauer*innen, Arbeiter*innen und Soldat*innen, aufrichtig begrüßte. Die Probleme begannen, als er die in Moskau ansässigen Kommissar*innen und die Herrschaft der Kommunistischen Partei Russlands ablehnte. Diese scheute keine Mühe, ihn als Banditen zu bezeichnen und ihn des Antisemitismus und Militarismus zu beschuldigen.

Machnos Bekanntheitsgrad hielt noch Jahrzehnte nach seinem Tod an. Einige versuchten, ihn zu vereinnahmen. Wie Colin Darch geschrieben hat, haben Teile der ukrainischen Rechten seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion versucht, Machno erneut als ukrainischen Nationalisten darzustellen und dabei seine anarchistische Politik herunterzuspielen. In jüngerer Zeit erklärte Machnos Geburtsstadt ihn zu einem Lokalhelden und errichtete 2009 auf einem ihrer Plätze eine Statue von ihm. 2019 enthüllte Oleksandr Ishchenko, dass der Stadtrat von Huliaipole bereit war, die Rückgabe von Machnos Asche vom Pariser Friedhof Père Lachaise zu beantragen, als Teil einer Kampagne, um Tourist*innen in die Stadt zu locken, als ob Machno zum personifizierten Markenzeichen der Stadt geworden wäre!

Heute stellt Adam Lent die Frage „Was würde Nestor Machno in dem aktuellen Konflikt tun“?

Er hätte zweifellos an der Seite der ukrainischen Armee gekämpft, um Putin zu vertreiben, aber er hätte sich keine Illusionen über die geballte Macht gemacht, die der Westen darstellt. Selbstverständlich wäre sie der Autokratie Putins absolut vorzuziehen, aber sie ist immer noch mit Atomwaffen bestückt, stützt sich immer noch auf sehr mächtige Staaten und dient immer noch den Interessen sehr reicher Konzerne, die den Planeten rapide zerstören.

Es ist wichtig, sich Makhnos Skepsis ins Gedächtnis zu rufen, wenn man die Reaktionen der führenden Politiker*innen der Welt auf den Krieg in der Ukraine bewertet, die sich zuvor mit Putin verbündet hatten. Donald Trump schwankte zwischen der Aussage, Putin sei „ziemlich schlau“, und der Äußerung über wahllose Angriffe der russischen Armee. In Europa verurteilte der niederländische PVV-Vorsitzende Geert Wilders die russische Invasion, während sich andere rechte Putin-Anhänger*innen wie die Französin Marine Le Pen, der Italiener Matteo Salvini und der ungarische Regierungschef Viktor Orbán letzte Woche von der russischen Militäraktion distanzierten.

Einige sind jedoch in ihren Ansichten konsequent geblieben. Thierry Baudet, der rechtsextreme politische Dandy und Opportunist im niederländischen Parlament, sagte, dass jeder, der Putin nicht schätzt, in „Disney World“ lebt. Die Ukraine sei „kein Nationalstaat, überhaupt kein Land, sondern eher ein Konglomerat aus mindestens zwei verschiedenen Völkern, einem russischen und einem antirussischen“, und er behauptete, die NATO habe all dies provoziert. Für ihn ist Putin der „Anführer des konservativen Europas“, der mit der „absurden Kriegstreiberei der EU“ konfrontiert wurde.

Der serbische Präsident Aleksandar Vucic verurteilte zwar widerwillig die russische Invasion, signalisierte Putin aber auch, dass er dies auf Druck des Westens und nicht aus tiefstem Herzen tut. In Belgrad verkünden Tausende von Menschen ihre Solidarität mit der Ukraine, doch dicht gefolgt von anderen, die ihre „russischen Brüder“ offen unterstützen. Traurig ist eine Welt, in der selbst ein einfaches Wort wie „Bruder“ zu einem politisch so aufgeladenen Etikett wird.

Machnos Geist lässt sich vielleicht am besten in einer Stellungnahme russischer Anarchist*innen zum Krieg wiederfinden:

Wir, das Kollektiv von Anarchist Fighter, sind keineswegs Fans des ukrainischen Staates. Wir haben ihn in der Vergangenheit wiederholt kritisiert und die Opposition gegen ihn unterstützt, und wir waren auch das Ziel massiver Repressionen… durch die ukrainischen Sicherheitsdienste… Und wir werden in Zukunft zu dieser Politik zurückkehren, wenn die Bedrohung durch die russische Invasion verschwunden ist. Alle Staaten sind Lager. Aber was jetzt in der Ukraine passiert, geht über diese einfache Formel und den Grundsatz hinaus, dass jeder Anarchist*in für die Niederlage seines Landes im Krieg kämpfen sollte. Denn es handelt sich nicht einfach um einen Krieg zwischen zwei etwa gleichstarken Mächten um die Neuaufteilung der Einflusssphären des Kapitals… Was jetzt in der Ukraine geschieht, ist ein Akt imperialistischer Aggression: eine Aggression, die, wenn sie erfolgreich ist, zu einem Rückgang der Freiheit überall führen wird…

Ukrainische Anarchist*innen haben laut Keith Preston eine ähnliche Position eingenommen: „In der Ukraine selbst scheint es unter den lokalen Anarchist*innen eine allgemeine Unterstützung für die Kriegsanstrengungen zu geben, obwohl es anfänglich einige Meinungsverschiedenheiten über Fragen der Kommandostruktur und größere Loyalitäten gab. Die anarchistischen militärischen Anstrengungen vor Ort wurden unter dem Banner des Resistance Committee’s organisiert, das wiederum unter dem Kommando und der Kontrolle der ukrainischen Territorialen Verteidigungskräfte steht.“

In einem offenen Brief an die westliche Linke aus Kiew, der vom Dissent Magazine veröffentlicht wurde, schreibt der ukrainische Aktivist und Historiker Taras Bilous:

In den letzten Jahren habe ich über den Friedensprozess und über zivile Opfer auf beiden Seiten des Donbas-Krieges geschrieben. Ich habe versucht, den Dialog zu fördern. Aber das hat sich jetzt alles in Rauch aufgelöst. Es wird keinen Kompromiss geben. Putin kann planen, was er will, aber selbst wenn Russland Kyiw einnimmt und seine Besatzungsregierung einsetzt, werden wir Widerstand leisten. Der Kampf wird so lange dauern, bis Russland die Ukraine verlässt und für alle Opfer und die Zerstörung bezahlt hat.

Ich habe den Eindruck, dass sich ein breiter Konsens unter denjenigen herausgebildet hat, die mit der Notlage der Ukrainer*innen heute sympathisieren:

  • Russland interveniert aggressiv in einem unabhängigen Staat;
  • Das Ausmaß der menschlichen Katastrophe nimmt stündlich zu;
  • Die westlichen Länder sind sich einig wie nie zuvor;
  • Es häufen sich Zukunftsängste, für die es keine einfachen Lösungen gibt;
  • Andere wichtige Themen, wie zum Beispiel der Klimawandel, liegen weitgehend auf Eis;
  • Der Dominoeffekt dieses Krieges in einem viel größeren Maßstab ist unvermeidlich;
  • Auf der für die Öffentlichkeit sichtbaren Ebene gelingt es der Diplomatie nicht, Lösungen zu formulieren;
  • Propaganda ist leider und vorhersehbar allgegenwärtig (und das nicht nur in Moskau);
  • Der Machtkampf der wichtigsten Akteur*innen in der Welt wird noch sehr, sehr lange andauern, auch wenn dieser Krieg orgendwann im Hinblick auf den aktiven Einsatz von Waffen beendet ist. Der Ausgang ist ungewiss…

1999 wurde ich von der niederländischen Partei D66 zu einer Diskussion über die NATO-Bombardierungen in der letzten Phase des Jugoslawienkrieges eingeladen. Ich sagte ihnen, dass ich mit den NATO-Angriffen nicht einverstanden sei. Sie fragten mich, was man sonst hätte tun können. Ich sagte ihnen, dass sie es als Politiker*innen besser wüssten als ich, dass sie aber sicherlich auf Erpressung, Manipulation, Lügen, Täuschung und Drohungen, um nur einige Dinge zu nennen, zurückgreifen könnten, um ihre Ziele zu erreichen. Die Zuhörer*innen waren überrascht, als ich sagte, dass ich nicht aus Serbien, sondern aus Kroatien stamme.

Ich bin auch kein Ukrainer*in, aber ich bin zutiefst aufgebracht über Putins Vorgehen, genauso wie russische und ukrainische Anarchist*innen (und nicht nur sie) gegen diesen Krieg sind. Die Politik hat auf ganzer Linie versagt, und wie immer zahlt die Zivilbevölkerung den Preis. Andere politische Kräfte müssen sich neu formieren, handeln und neue Solidaritätsbanden schmieden. In der Zwischenzeit wird die Ukraine, um Kenneth Surins Metapher zu verwenden, eine Maus bleiben, der sich zwischen zwei großen Katzen befindet. Wir können nur hoffen, dass sich die Maus auch vom Azov-Bataillon und seinesgleichen distanzieren wird.

Mira Oklobdzija


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