
Ukraine. Black Flag Aktivist*innen in der Nähe des neuen Bullis, den sie dank Unterstützung seitens solidarische Menschen bekommen haben. Wir haben ihre vorläufigen Schlussfolgerungen aus den letzten zweieinhalb Monaten dieses Wahnsinns übersetzt. Ihre früheren Aktivitäten haben wir in diesem und diesem Beiträge beschrieben. Alle Bilder stammen aus ihrem Telegram-Kanal. Bitte beteiligt euch auch an unserer Fundraiser für die Arbeit an der soziale Struktur der Stadt und Hilfe für die zivilen Einwohner*innen der zerstörten Stadt Charkiw.
Ursprünglich veröffentlicht von Libcom. Geschrieben von Assembly. Übersetzt von Riot Turtle.
Die ukrainische Bevölkerung kämpft nun schon den dritten Monat in Folge gegen den russischen Eindringling. Die Kräfteverhältnisse vor dem 24. Februar erinnerten an den Kampf zwischen David und Goliath: Das ärmere, aber besser ausgestattete ukrainische militärische System und die riesige russische Militärmaschinerie, die einen unglaublichen Überlegenheit an Bomben, Munition, Ausrüstung und Technologie hat. Mit dem Beginn einer groß angelegten Invasion begann David jedoch, Goliath zu besiegen – beeinträchtigt durch die Kurzsichtigkeit des Oberkommandos des Feindes und die mangelnde Motivation der Rekrut*innen. Aber eine der treibenden Kräfte, die die Pläne der neuen Wlassowiten [1] durchkreuzten – und schon fast die wichtigste – war und ist der ukrainische Bevölkerung, vor allem ihre Arbeiter*innen.
In diesen zwei Monaten haben wir eine unglaubliche Mobilisierung der besten Eigenschaften der ukrainischen Arbeiter*innen erlebt: Die Menschen, die keine ernsthaften Verdienstmöglichkeiten mehr hatten, gaben der Armee ihr letztes Geld; viele schlossen sich Bewegungen von Freiwilligen an, die Geflüchtete und Mittellose Menschen versorgten, Unterkünfte für sie suchten und organisierten; sie besorgten Ausrüstungsgegenstände für das Militär und brachten sie unter Einsatz ihres eigenen Lebens an die Front – dasselbe gilt für die humanitäre Hilfe für die Bewohner*innen der besetzten Städte und Dörfer.
Und Fälle von Maßlosigkeit – aus dem Stegreif! Geflüchtete beklagten sich über hohe Mietpreise in neuen, wenn auch nur vorübergehenden Unterkünften; die Lebensmittelpreise sind gestiegen, aber weder Lohnerhöhungen noch menschenwürdige Arbeitsplätze sind zustande gekommen. Der Staat war gezwungen, von seinem neoliberalen Kurs in Richtung Keynesianismus abzuweichen, aber seine Mittel zur Rettung der Wirtschaft sind kaum ausreichend. Darüber hinaus wurde versucht, arbeitnehmer*innenfeindliche Gesetze zur Deregulierung der Arbeitsbeziehungen durchzusetzen – der berühmte Gesetzentwurf №5388, der im Parlament nicht genügend Stimmen erhielt.


Jetzt, wo sich einige Frontregionen zumindest dem Anschein eines friedlichen Lebens annähern konnten (nur einige, denn in anderen Gebieten wüten die Kämpfe noch immer, und irgendwo am helllichten Tag kommt die „Bruderliebe“ in Form von Raketen und Minen an und zerstört friedliche Städte), lohnt es sich, einen Blick darauf zu werfen, was uns diese schmerzhafte Kriegserfahrung wirklich gebracht hat. Neben Angst, Verletzungen, Verarmung, Rückständigkeit, massenhaftem Märtyrer*innentum, das von den Besatzern im Geiste der französischen kolonialen „ratissage“ organisiert wurde, die noch nie dagewesene Zusammengehörigkeit der Menschen, die Selbstorganisation, der Wille, sich gegenseitig zu helfen. Natürlich trägt die Entdeckung dieser Qualitäten zu einer großen Bedrohung für die Zukunft jedes Einzelnen bei, die jetzt akut ist. Aber dieses Gefühl wird sich noch lange nicht legen – jedenfalls ist der Krieg noch nicht vorbei, und danach wird es eine Zeit des Wiederaufbaus geben – und es ist wichtig, es nicht nur zu bewahren, sondern auch zu verwirklichen. Erkennen, um zu verstehen – wohin gehen wir als nächstes? Brauchen wir wirklich eine Führung von oben, um eine sinnvolle, sozial orientierte Arbeit zu organisieren? Können wir uns gegenseitig helfen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten? Hat das in aller Munde befindliche Wort des ukrainischen politischen Vokabulars „Dezentralisierung“ eine andere, humanistischere Bedeutung? Wird für einen oligarchischen Staat des peripheren Kapitalismus gekämpft oder für eine echte Demokratisierung der Gesellschaft, für die Solidarität der arbeitenden Menschen, für Rechte und Freiheiten? Werden die Ukrainer*innen in der Lage sein, eine Zelle des Widerstands gegen die unvermeidlichen tektonischen Veränderungen zu schaffen, die die ganze Welt in einen Abgrund von Krieg und Leid stürzen?
Was einst nur in Geschichtsbüchern zu lesen war, was seit Jahren eingestaubt ist, steht den Ukrainer*innen heute in seiner ganzen Breite bevor – ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und gegenseitigen Hilfe. Deshalb ist es wichtig, die Grundsätze der Solidarität und der gegenseitigen Hilfe auf friedliche Zeiten zu übertragen, die es unweigerlich geben wird, und sich von ihnen leiten zu lassen, um eine menschlichere Gesellschaft aufzubauen.
Vom nationalen Befreiungskrieg zur sozialen Revolution!
Fußnoten
[1] Andrei Andrejewitsch Wlassow (russisch Андрей Андреевич Власов; wiss. Transliteration Andrej Andreevič Vlasov; * 1. Septemberjul. / 14. September 1901greg.in Lomakino, Gouvernement Nischni Nowgorod; † 1. August 1946 in Moskau) war ein sowjetischer Generalleutnant. Im Deutsch-Sowjetischen Krieg 1942 in deutsche Gefangenschaft geraten, baute er aus antisowjetischen Motiven und im Auftrag von Heinrich Himmler die Russische Befreiungsarmee auf, die 1945 an der Seite des Deutschen Reiches gegen die Rote Armee und andere alliierte Streitkräfte zum Einsatz kam.