
Ukraine. Tom Lord von Militant Wire spricht mit einem Mitglied von Resistance Committee. Ein weiteres Interview mit Ilya.
Ursprünglich veröffentlicht von Militant Wire. Geschrieben von Wanna Be Honk. Übersetzt von Riot Turtle.
Tom Lord (TL): Wann wurde das Resistance Committee (RC) gegründet, und was führte zu der Entscheidung, antiautoritäre Truppen für den Kampf in der Ukraine zu organisieren?
ILYA: Zunächst war das Resistance Committee als Koordination von Anarchist*innen/Libertär*innen geplant, die bereit sind, sich dem bewaffneten Widerstand gegen den imperialistischen Angriff von Putins Regime anzuschließen. Das Komitee als Koordination ist immer noch eher ein Projekt. Aber es hat einen Instagram- und Telegram-Kanal, um die anarchistische Beteiligung an den Kämpfen in der Ukraine, sowie Guerilla-Aktivitäten in Russland und Belarus zu verbreiten.
Dieser Plan wurde bereits einige Monate vor dem Krieg entwickelt, und die social media Accounts wurden nur wenige Wochen vor dem eigentlichen Beginn des Krieges eingerichtet. Wir bereiteten uns auf den Kriegsfall vor, auch wenn nur wenige von uns, wenn überhaupt, damit rechneten, dass er wirklich eintreten würde.
Der antiautoritäre Platoon von TDF (Territorialen Verteidigungskräfte) wird häufig mit dem Resistance Committee verwechselt. Es handelt sich nicht um ein und dasselbe, auch wenn einige Leute aus dem Platoon (einschließlich meiner Person), Teil der RC-Initiative sind.
Was waren die Gründe für die Entscheidung, militärischen Widerstand gegen die Invasion zu leisten? Aus meiner Sicht sind die Hauptgründe folgende:
1) Notwendigkeit und Entschlossenheit, zusammen mit der ukrainischen Gesellschaft den Kampf gegen die neototalitäre Aggression aufzunehmen;
2) Die Einsicht, dass jede politische Gemeinschaft, die ein bedeutender gesellschaftlicher Akteur werden will, sich organisieren und aktiv an den Ereignissen beteiligen sollte. Sowohl der Krieg als auch die Revolution sind Zeiten der sozialen Transformation. Welche Formen diese Transformation annehmen wird, hängt auch von uns und unsere Aktivitäten ab.
TL: Gab es im Kern des Komitees eine ursprüngliche anarchistische Gruppe aus der Zeit vor der russischen Invasion? Als ihr schließlich zusammengekommen seid, wie habt ihr es geschafft, euch formell in die Territorialen Verteidigungskräfte (TDF) zu integrieren? Wie sah dieser Prozess aus?
ILYA: Es gab keine anarchistische Formation oder auch nur eine richtige anarchistische Organisation vor dem Entstehen von RC. Es gab eine anarchistische Gemeinschaft, verschiedene Gruppen und Einzelpersonen, die bereit waren, sich unter dieser Notsituation zu organisieren.
Wir hatten einige persönliche Verbindungen innerhalb der TDF-Struktur, die uns die Möglichkeit gaben, dort als Platoon zu „landen“.
TL: Wie viele Kämpfer*innen sind im RC organisiert?
ILYA: Wie wir oben gesagt haben, ist es wichtig, von den Kämpfer*innen des antiautoritären Zuges zu sprechen, die etwa 50 Personen umfassen.
TL: Verfügt das RC über eine gewisse Autonomie innerhalb des TDF?
ILYA: Wir haben keine spezifischen Bedingungen, die uns von anderen TDF-Abteilungen unterscheiden würden. Wir haben jedoch einen ziemlich freien Spielraum, wie wir unser internes Leben organisieren, und es ist ziemlich demokratisch organisiert, auch wenn es den Anforderungen einer bestimmten militärischen Hierarchie entspricht.
TL: Sollten wir aus deiner Sicht etwas über kämpfende anarchistische Formationen in der Ukraine wissen, die nicht im Resistance Committee organisiert sind?
ILYA: Ja, natürlich. Abgesehen von RC und dem antiautoritären Platoon gibt es eine Menge individueller Genoss*innen und kleinere Gruppen, die an TDF oder der regulären Armee beteiligt sind, einschließlich Leute, die an der Frontlinie kämpfen. Unter den organisierten Gruppen können wir die Genoss*innen der Ökologischen Plattform erwähnen, die auch in TDF integriert sind.
Eine der Ideen, die ursprünglich mit der Gründung von RC verbunden war, bestand darin, eine Plattform für den Dialog und die Koordinierung zwischen Genoss*innen in verschiedenen Orten und Teilbereichen der Streitkräfte zu schaffen.
TL: Wie ist die Perspektive des RC auf den Krieg? Wofür kämpft das Resistance Committee in diesem Krieg, und was hofft ihr zu erreichen?
ILYA: Ich denke, die Perspektive, die alle Menschen im Resistance Committee eint, ist die Vision des gegenwärtigen Verteidigungskrieges als ein Akt des Widerstands der Bevölkerung gegen die rein imperialistische Intervention von Putins Regime. Deshalb beteiligen wir uns daran und glauben, dass die Niederlage der Besatzer*innen sowohl für die lokale Gesellschaft als auch potenziell für die gesamte postsowjetische Region positiv sein wird.
Ich würde gerne erleben, wie die Invasion durch den Widerstand der Bevölkerung zurückgeschlagen wird und gleichzeitig die anarchistische Bewegung aus dieser Geschichte als viel organisierter, kämpferischer und erfahrener hervorgeht. Mit viel mehr politischer Vision und Verständnis dafür, wie wir die von uns angestrebten sozialen Veränderungen erreichen können, und auch mit mehr Ressourcen dafür.
TL: Siehst du die anarchistischen Kämpfer*innen der RC als Fortführung der Tradition der Machnowschtschina, oder gibt es kaum eine Beziehung zwischen den heutigen ukrainischen Anarchist*innen und denen des letzten Jahrhunderts zur Zeit von Nestor Makhno?
ILYA: Es ist offensichtlich, dass die Machnow-Bewegung und Nestor Machnow selbst die großen Inspirationen für die heutigen Anarchist*innen in der Ukraine sind, insbesondere für diejenigen, die sich entschieden haben, zu den Waffen zu greifen. Sicherlich ist Machnovshchina immer noch das große Symbol, der Bezugspunkt und das treibende Beispiel für uns. Man kann das Gesicht von Bat’ko Machno in den Streifen einiger unserer Genoss*innen sehen.
Es wäre vielleicht zu viel verlangt, von einer direkten Beziehung zu sprechen: der zeitliche und soziale Kontext ist so unterschiedlich und es gibt keine kontinuierliche historische Tradition der anarchistischen Bewegung aufgrund der Repressionen unter den Bolschewiki. Dennoch studieren wir die organisatorische Erfahrung und die soziale Botschaft dieser Bewegung sehr aufmerksam. Die Grundprinzipien dieser Bewegung sind immer noch aktuell. Für viele von uns spielt diese Bewegung eine zentrale Rolle in der historischen Perspektive für diese Region.
TL: Außerhalb der Ukraine ist viel über die kämpfende anarchistische Gruppe RevDia berichtet worden. Gibt es noch andere anarchistische Milizen, die das Resistance Committee bilden und über die du unsere Leser*innen gerne informieren würdest? Es wurde gesagt, dass Gruppen wie RevDia anfangs zögerten, sich dem Resistance Committee anzuschließen. Stimmt das? Kannst du mehr dazu sagen, und wie der Streit gelöst wurde, falls es ihn überhaupt gab?
ILYA: Der antiautoritäre Zug setzt sich aus Anarchist*innen verschiedener Strömungen, Antifaschist*innen und Fußball-Hooligans zusammen. Es ist kein Geheimnis, dass die Beziehungen zwischen den verschiedenen Bestandteilen dieses Zusammenschlusses nicht immer einfach waren. Dennoch hat man sich entschlossen, alte Streitigkeiten beiseite zu legen, um eine gemeinsame Herausforderung zu bewältigen. Ich würde sagen, dass wir immer noch dabei sind, eine Lösung zu finden. Es geht nicht ohne Probleme, aber der Wille, sich innerhalb des militärischen Rahmens zu organisieren, ist nach wie vor vorhanden.
TL: Als anarchistische Organisation lehnt der RC selbstverständlich eine zentrale/vertikale Führung ab. Wie werden also Entscheidungen getroffen? Wer „befiehlt“ das RC?
ILYA: Wie wir sagen, ist das Resistance Committee als Koordination immer noch, sagen wir, im Aufbau. Im Moment ist es eher ein Raum für den Dialog zwischen Genoss*innen und betreibt Medien-Kanälen.
Im antiautoritären Zug gibt es eine „normale“ militärische Hierarchie mit Abteilungskommandant*innen und Zugführer*innen, die einem höheren Offizier unterstellt sind. Wir haben jedoch eine demokratische Kultur der freien gegenseitigen Kritik. Wir haben auch ein System gewählter stellvertretender Kommandant*innen der Abteilungen eingeführt, die dafür verantwortlich sind, die Kritik der Kämpfer*innen an die Zugführung weiterzuleiten. Wir haben ein Medienkomitee gewählt, um unsere Medienaktivitäten zu steuern. Eine Zeit lang haben wir Teqmil praktiziert, Sitzungen zur Kritik und Selbstkritik, die wir aus den Erfahrungen der Revolutionär*innen in Kurdistan übernommen haben. Jetzt pausiert es, weil unsere Einheit eine Phase des Wartens auf neue Aufgaben und Strukturierung durchläuft.
TL: Wie haben andere Einheiten der Territorialen Verteidigungsstreitkräfte auf den RC reagiert, ideologisch, strategisch oder auf andere Weise?
ILYA: Es gab keine besonderen Reaktionen. Im Grunde sind wir immer noch eine normale Einheit von TDF.
TL: Wie hat die ukrainische Zivilbevölkerung auf das Resistance Committee reagiert? Wie wurden sie von den Nichtkombattant*innen in ihren Einsatzgebieten aufgenommen?
ILYA: Wir stehen vor allem mit den zivilen Strukturen der anarchistischen Bewegung in engem Kontakt. Es war wirklich erstaunlich, wie vom ersten Tag des Krieges an ein Netzwerk der Solidarität entstand, das Gruppen von Genoss*innen in verschiedenen ukrainischen Städten und in Europa miteinander verbindet. Sie haben eine wirklich umfangreiche Logistik organisiert, um den Genoss*innen in den militärischen Strukturen und ihren Familien zu unterstützen und sich auf so viele verschiedene Arten zu beteiligen. Wir haben von Anfang an eng mit diesen zivilen libertären Strukturen zusammengearbeitet.
Natürlich haben wir auch informelle und gute Beziehungen mit den Menschen an den Orten, an denen wir stationiert sind. Meistens begegnet man uns mit Sympathie und Unterstützung, ich sehe im Moment überhaupt keine Entfremdung, sondern eine sehr angenehme Kommunikation. Gegenseitige Hilfe gibt es auch hier. Die Anwohner*innen unterstützen uns sehr mit Lebensmitteln, wir helfen ihnen ein wenig bei ihren landwirtschaftlichen Tätigkeiten.
TL: Hat irgendeine eurer Einheiten schon einen Kampf-Einsatz gehabt? Könnt ihr etwas über den Kampf aus anarchistischer Sicht sagen?
ILYA: Als Einheit [antiautoritärer Zug] sind wir noch nicht in direkte Kämpfe verwickelt gewesen. In den ersten Phasen des Krieges patrouillierten wir jedoch in den Gebieten, in denen wir die Anwesenheit feindlicher Ablenkungsgruppen vermuteten. Außerdem unterstützten Angehörige der Einheit die Fronteinheiten bei der Logistik und Aufklärung mit Drohnen. Sie haben erfolgreich eine der feindlichen Stellungen aufgespürt, die dann von der Artillerie getroffen wurde. Und sie halfen bei der Evakuierung von Zivilist*innen aus der Kampfzone. Während dieser Aktivitäten gerieten unsere Genoss*innen unter Mörserbeschuss.
TL: Hattet ihr viel Erfolg bei der Anwerbung von ukrainischen/osteuropäischen Genossinnen? Hattet ihr Erfolg bei der Anwerbung von Ausländerinnen außerhalb der Ukraine/Belarus/Russland?
ILYA: Die Mehrheit unseres Zuges sind Genoss*innen aus der Ukraine. Es gibt jedoch auch eine bedeutende Anzahl von Russ*innen und Belaruss*innen sowie einige Genoss*innen aus dem Westen in der Einheit. Es ist eine wirklich internationale Einheit, aber natürlich hauptsächlich mit Osteuropäer*innen besetzt.
TL: Außerhalb der Ukraine ist die Faszination groß, dass Anarchist*innen in diesem Krieg „auf derselben Seite wie die Faschist*innen kämpfen“. Da dies eine grobe Fehldarstellung ist, wie steht das Resistance Committee zu offen faschistischen Formationen in den Territorialen Verteidigungskräften und in den regulären Streitkräften der Ukraine? Ist einer Ihrer Kämpfer*innen seit der Invasion auf ukrainische Faschist*innen gestoßen? Rechnen antifaschistische Genossinnen mit Zusammenstößen mit ukrainischen Faschistinnen, die auch gegen das russische Militär kämpfen?
ILYA: Ich würde mit der einfachen Sache beginnen, dass der aktuelle mächtige Faschismus in der modernen Ukraine vor allem durch Putins Besatzer*innen und ihr imperialistisches Projekt präsentiert wird. Das sollte das erste Ziel für jede antifaschistische Kraft sein. Die Präsenz der extremen Rechten im ukrainischen Militär wird dramatisch übertrieben, vor allem durch die putinistische Propaganda. Es wäre jedoch falsch, die Präsenz und Sichtbarkeit der Rechten sowohl in der Gesellschaft als auch in der Armee zu leugnen. Wir denken, dass wir diesem Phänomen heute am besten begegnen können, wenn wir unsere eigene Struktur entwickeln – organisiert und stark.
TL: Kriege führen oft zu einem Machtvakuum, dem Zusammenbruch der Gesellschaft usw. und haben daher ein hohes Potenzial für revolutionäre Bewegungen. Siehst du in diesem Krieg ein hohes Potenzial für eine Revolution? Wenn ja, was wären die Ziele einer solchen Revolution?
ILYA: Ein Krieg kann zu einem sozialen Wandel führen, sowohl in revolutionärer als auch in sehr reaktionärer Richtung. Wir hoffen, dass die ukrainische Gesellschaft genug Solidarität und Selbstorganisation zeigen wird, um die Gesellschaft weiter zu demokratisieren. Offensichtliche Ziele sind mehr Kontrolle über das soziale und wirtschaftliche Leben an der Basis, die Verringerung der Abhängigkeit von den „internationalen Finanzinstitutionen“ auf ein Minimum, die Sicherung der Rechte der Arbeiter*innen, die Erweiterung der sozialen Sphäre und des Raums der Verantwortung für die lokalen Gemeinschaften.
TL: Unter Punkt 12 eures Manifests fordert ihr, dass der Zugang zu Waffen nach dem Krieg erleichtert wird. Glaubst du, dass die ukrainische Regierung versuchen wird, euch nach der Demobilisierung der ukrainischen Streitkräfte zu entwaffnen?
ILYA: Zunächst einmal wäre es sehr leichtsinnig, über eine Demobilisierung zu spekulieren, denn der Krieg scheint noch lange nicht zu Ende zu sein. Ich möchte keine Vermutungen über die Absichten irgendwelcher politischer Akteur*innen anstellen, aber wir sind der Ansicht, dass der Gesellschaft der freie Zugang zu Mitteln der Selbstverteidigung gewährleistet werden sollte.
TL: Was bedeutet der Krieg in der Ukraine aus deiner Sicht für die internationale anarchistische Bewegung außerhalb der Konfliktzone?
ILYA: Ich glaube, dass dieser Krieg eine wichtige Herausforderung für die globale anarchistische Gemeinschaft ist – er ist eine Prüfung, um eine angemessene und kämpferische politische Position gegenüber den Ereignissen zu entwickeln. Er eröffnet auch Möglichkeiten, zu mobilisieren und sich zu organisieren, so wie es die kurdische Revolution vor kurzem getan hat. Natürlich in geringerem Ausmaß – denn in Kurdistan ist der revolutionäre Sinn des Konflikts für Außenstehende viel offensichtlicher. Aber für unsere Region ist dieser Krieg der Moment der Wahrheit, der Hauptpunkt der Zweiteilung. Dieser Konflikt liefert auch den Anstoß für weitere libertäre Analysen von globalen Realitäten.
TL: Vielen Dank, dass du dir Zeit genommen hast.