
Hallo! Heute ist Sonntag, der 5. Juni und wir setzen unseren Podcast „Trends der Ordnung und des Chaos“ fort. Dies ist Folge 57. Hier sind die wichtigsten Themen der vergangenen Woche.
Ursprünglich veröffentlicht von Avtonom. Übersetzt von Riot Turtle.
Hundert Tage Krieg
Diese Woche sind 100 Tage seit dem Angriff des Kremls auf die Ukraine vergangen. Das sind keine guten Nachrichten. Die russische Armee hat offensichtlich noch nicht genug Schlagkraft, um die Ukrainer*innen zu zerschlagen. Die Besetzung kleiner Ortschaften im Donbass wird als Sieg dargestellt.
Die Front hat sich bereits auf ein für militärische Verhältnisse großes Gebiet ausgedehnt – vergleichbar etwa mit dem Italiens. Der Aggressor verfügt nicht über genügend Soldat*innen, um die besetzten Gebiete einzudämmen – die Ukrainer*innen holen zum Gegenangriff aus und erobern mitunter kleine, voneinander getrennte Ortschaften zurück. Zivilist*innen sterben durch den Beschuss – Raketen landen auf Wohngebieten auf beiden Seiten der Front.
Die NATO-Mitgliedstaaten liefern weniger Munition, als für einen schnellen Sieg über den Kreml nötig wäre. Vielleicht haben sie Angst, dass Putin einen Atomkrieg anzetteln wird. Außerdem könnte die Zerschlagung der russischen Armee in der Ukraine den Zusammenbruch des russischen Staatsapparats zur Folge haben: Die internationale Gemeinschaft hat Angst vor einem Chaos in Russland, das mit Atomindustrie, Atomwaffen und anderen gefährlichen Dingen vollgestopft ist, aber auch einen beträchtlichen Teil des Planeten mit Nahrungsmitteln, Öl, Gas usw. versorgt.
Das alles ist verständlich, aber (leider) stört es niemanden wirklich, dass die Zahl der Todesopfer des russisch-ukrainischen Krieges bald nicht mehr in Dutzenden, sondern in Hunderttausenden gezählt werden wird.
Sterben für 200.000 Rubel
Kürzlich las ich in einem Facebook-Post eines Freund*ins den Bericht über eine Diskussion, die der Verfasser*in des Posts mit einem Freund*in aus einem Dorf in der Provinz führte. Er erzählte, dass viele Dorfbewohner*innen der Armee auf Vertragsbasis beitreten. Ja, man kann sterben, aber in seinem Dorf kann man realistischerweise bis zu 20 Tausend Rubel verdienen, während die Armee 200.000 verspricht.
Ich dachte: Vielleicht hat Putin das nicht nur und nicht so sehr wegen der Besetzung der Ukraine begonnen, sondern um den sozialen Druck im Lande zu entfesseln? Heute ist in Russland das Durchschnittsalter fast aller ernsthaften Manager*innen, Geschäftsleute und Eigentümer*innen 50-70 Jahre. Es gibt eine neue Generation von Russ*innen, die ein angenehmes Leben führen wollen, aber es gibt keine soziale Mobilität.
Könnte ein Mähdrescherfahrer*in aus einem Dorf im Hinterland nach Moskau oder St. Petersburg kommen, ein erfolgreicher Manager*in, Anwält*in oder IT-Spezialist*in werden und 200.000 Euro verdienen? Vielleicht schon, aber, gelinde gesagt, nicht jede(r). Der soziale Druck steigt.
Erinnert ihr euch noch an die Ereignisse in Kasachstan im Januar, als das Land im Chaos versank und die Bewohner*innen der Außenbezirke von Almaty das wohlhabende Zentrum der Stadt plünderten? Vielleicht fürchten die Herrschenden in Russland eine ähnliche Entwicklung der Ereignisse. Es ist viel einfacher, einen Krieg mit den Nachbar*innen zu beginnen, als Möglichkeiten für die Menschen in Russland zu schaffen.
Monate vor dem Krieg tauchte die koreanische Serie „Squid game“ auf. Der Handlung nach wurden Hunderte von benachteiligten, überschuldeten und verschuldeten Menschen rekrutiert, um an einer geheimen Aufgabe teilzunehmen. Nicht sofort, aber sie einigen sich darauf, sich gegenseitig zu töten, da der Gewinner*in mit einem riesigen Geldpreis belohnt wird. Reiche Degenerierte beobachteten das Abenteuer und wetteten darauf, wer am Leben bleiben würde.
Gewisse Parallelen sind hier offensichtlich.
Neue Angriffe auf Syrisch-Kurdistan
Mitten im Ukraine-Krieg greift der türkische Diktator Erdogan mit seiner Armee erneut in Rojava, dem syrischen Kurdistan, ein, das die Basis der kurdischen Partisan*innen in der Türkei ist. Erdogan stützt sich darauf, dass die westlichen Länder vor dem Hintergrund der Ereignisse in der Ukraine die Türkei auf ihrer Seite brauchen. Und die Kurd*innen werden keine Unterstützung erhalten.
Anarchist*innen sind nicht gleichgültig gegenüber Rojava: Dort wird versucht, einige unserer Ideen zu verwirklichen. Wir können den Telegramm-Account einer russischsprachigen Anarchistin, die in Rojava lebt, empfehlen. Sie schreibt, dass im Moment alles in Ordnung ist, die Zahl der militärischen Zwischenfälle übersteigt nicht das übliche Maß in der Region. Wir werden die Situation weiter verfolgen.
Zu den Ereignissen in Russland
Im Newsletter habe ich gesehen, dass die Staatsduma mal wieder etwas verschärft und verboten hat. Das ist nicht einmal mehr interessant. Derzeit ist es viel schwieriger zu verstehen, was in Russland erlaubt ist, als was verboten ist. Und die Gesetze werden durchgesetzt, wie die Bullen wollen.
Die Preise in den Geschäften sind so stark in die Höhe geschnellt, dass nicht lebensnotwendige Produkte nicht mehr verkauft werden. Dabei sind die Preise inzwischen eher gesunken als gestiegen.
Für Mitte Juni wird versprochen, dass MacDonald’s in neuem Format und unter einem seltsamen Namen wieder eröffnet werden soll. Erste Versionen wurden der Presse zugespielt. Da Coca Cola das Land verlässt, wird es von den verbleibenden Fastfood-Ketten durch „Drinks from Chernogolovka“ ersetzt. Der Marke „Sady Pridonya“ geht derweil der Farbstoff aus – er kam aus dem Westen – und jetzt sind ihre Saftpackungen fast weiß.
Wie üblich gibt es eine Menge Trash rund um das Thema Sex. Berühmt-berüchtigt wurde die Geschichte vom „Schwulentanz auf einer Schulparty“ in Jekaterinburg. Die Dinge schienen gut ausgegangen zu sein: Die Eltern setzten sich zur Wehr, der Direktor wurde nicht entlassen. Doch der Tele-Propagandist Wladimir Solowjew setzte seinen absurden Krieg gegen Jekaterinburg fort, indem er die Stadt im Fernsehen in den Dreck zog. Warum die Behörden dies in einer ohnehin schon angespannten Situation im Lande zulassen, ist nicht bekannt. Offenbar betrifft der Verfall alle Ebenen.
In Tschetschenien ist es noch viel schlimmer: Zwei Männer und zwei Frauen, die „unangemessenes Verhalten“ an den Tag legten – ihre Gruppensex-Aufnahmen fanden ihren Weg in Messaging-Apps – wurden einfach ermordet und in nicht gekennzeichneten Gräbern begraben. Medienberichten zufolge wurden ihre Leichen sogar in einem Krankenwagen in Polizeibegleitung zum Friedhof gebracht. Ramsan – der Held der „Spezialoperation“ – wird natürlich nicht zur Rechenschaft gezogen werden.
Anarchistische Nachrichten
Es sind nicht allzu viele, aber es sind einige. Es finden interessante Vorträge, Diskussionen und Workshops statt, von denen wir viele auf Avtonom.org ankündigen. Die Druckereigenossenschaft „Napilnik“ hat das Buch „Первая типография „Народной воли““ herausgegeben – über den Druck verbotener Agitation im 19. Jahrhundert. Derzeit ist dies eine wertvolle Erfahrung: Lade von Avtonom.org neue Designs von Antikriegsaufklebern herunter, lerne von den Praktiken von Narodnaja Wolja und drucke mehr!
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Die strafrechtliche Verfolgung wegen „Rechtfertigung von Terrorismus“ – konkret die Tat von Michail Zhlobitsky – im Internet wird fortgesetzt. Im Jahr 2018 sprengte sich ein 17-jähriger Anarchist*in im Warteraum der FSB-Büros in Archangelsk in die Luft. Das Echo dieses Ereignisses nährt noch immer das Zentrum E und den FSB, die die Statistik des „Kriegs gegen den Terrorismus“ verbessern wollen. Dies ist auch eine Version des „Squid-Games“. Es liegt im Interesse aller russischen Bürger*innen, es so schnell wie möglich zu beenden.