
Der folgende Beitrag ist ein offener Brief von Beschäftigten in der Frankfurter Obdachlosen- und Drogenhilfe an die Kolleg*innen. Die Autor*innen richten sich gegen den miserablen Umgang der Einrichtungen sowohl gegenüber den Beschäftigten als auch gegenüber den Klient*innen: Mangelnder Schutz und hohe Arbeitsbelastung auf Seiten der Beschäftigen, keine Unterbringung und mangelnde medizinische Versorgung auf der Seite der Klient*innen.
Ursprünglich veröffentlicht von Solidarisch gegen Corona
Liebe Kolleg*innen,
wir wenden uns an euch, weil wir und unsere Klient*innen als Leidtragende der aktuellen Corona-Krise noch immer mit leeren Phrasen abgespeist werden und dies nicht länger hinnehmen wollen. Die von Beschäftigten der Integrativen Drogenhilfe e.V. (IDH) am 30.03.2020 in einem ersten Offenen Brief erhobenen Forderungen wurden – wenn überhaupt – nur bruchstückhaft erfüllt, manche sogar in ihr Gegenteil verkehrt!
So kann von einem umfassenden Gesundheitsschutz für die Beschäftigten nach wie vor keine Rede sein: Unsere Forderung, ältere Kolleg*innen und solche, die unter Vorerkrankungen wie Asthma, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Beschwerden leiden, sofort bei vollen Bezügen freizustellen, wird sowohl von den politisch Verantwortlichen als auch von der Geschäftsführung der IDH standhaft ignoriert. Auch unsere Forderung, unsere obdachlosen Klient*innen in leerstehenden Hotels unterzubringen und unbürokratisch mit Nahrungsmitteln und Drogensubstituten zu versorgen, um ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen und sie vor einer Infektion auf der Straße oder in Sammelunterkünften zu schützen, wird nicht einmal in Erwägung gezogen. Stattdessen erklärt Gesundheitsdezernent Stefan Majer (GRÜNE), man suche „eine Liegenschaft, in der eine Gruppe mit Corona-Virus positiv getesteten Menschen unterkommen kann“ und „gleichzeitig die Kontaktpersonen in Quarantäne genommen werden“ können. Hier und nur hier könne dann „auch eine medizinische und psychosoziale Versorgung stattfinden und die notwendige Substitutionsbehandlung durchgeführt werden“ (Sondermeldung der Stadt Frankfurt 02.04.2020). Anders formuliert: Hilfe können unsere Klient*innen nur erwarten, wenn sie bereits infiziert oder erkrankt sind, und dann auch nur, wenn sie bereit sind, sich isolieren und internieren zu lassen.
Dass Majers Pläne zutiefst inhuman sind, wird spätestens durch die anschließende Begründung deutlich. Die besagte „Liegenschaft“ solle „zur Entlastung der Krankenhäuser beitragen, die ansonsten Drogenabhängige, ob infiziert oder nicht, stationär aufnehmen müssten“, erklärt der Gesundheitsdezernent. Abgesehen davon, dass das Gesundheitswesen nur deshalb als potentiell überlastet gilt, weil es über Jahre systematisch auf Profitabilität getrimmt wurde, sind es unsere Klient*innen also nach offizieller Auffassung ganz offensichtlich nicht wert, wie jeder „normale“ Mensch auf möglichst hohem medizinischen Niveau versorgt und behandelt zu werden.
Nicht mit uns!
Gleichzeitig hören wir aus vielen im sozialen Bereich tätigen Einrichtungen, dass die Geschäftsleitungen extremen Druck auf die Beschäftigten ausüben: Arbeitszeitregelungen werden nicht zuletzt mit Unterstützung von Betriebsräten außer Kraft gesetzt, weil diejenigen, die als „systemrelevant“ gelten, malochen sollen bis zum Umfallen. Allen anderen drohen Kurzarbeit und damit drastische Lohneinbußen; vielfach steht sogar der Arbeitsplatz selbst auf dem Spiel. Darüber sollte sich nun allerdings niemand wundern, denn – anders als immer wieder behauptet – wurden diejenigen, die in Staat, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Führungspositionen bekleiden, keineswegs von der Pandemie überrascht; sie lassen uns vielmehr bewusst vor die Wand laufen.
Das Krisenmanagement von Staat und Kapital
Die aktuelle Krise kam für Staat und Kapital nicht unvorbereitet: Seit etlichen Jahren beschäftigt sich etwa das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) mit Pandemie-Planungen. Unter der Bezeichnung LÜKEX (Länder- und Ressortübergreifende Krisenmanagementübung/Exercise) organisierte das BBK entsprechende zivil-militärische Manöver unter Beteiligung von Polizeibehörden, Feuerwehren, Rettungsdiensten, Unternehmen, Geheimdiensten und Bundeswehr. Durchgespielt wurden dabei Szenarien, die von mehreren Millionen Erkrankten und rund 100.000 Toten allein in Deutschland ausgehen. Die hessische Landesregierung rief in diesem Zusammenhang ein „Krisenzentrum“ unter Führung des Innenministeriums ins Leben, das sich insbesondere mit der Aufrechterhaltung von „Sicherheit und Ordnung“ im Fall einer Pandemie befasste. So übte die Polizei das Vorgehen gegen die Plünderung von Apotheken oder trainierte gemeinsam mit dem Werkschutz des Pharma-Unternehmens Merck die Niederschlagung von Demonstrationen. Oberstes Ziel der besagten Planungen ist die Absicherung der „Kritischen Infrastruktur“, worunter allgemein Einrichtungen der Energie- und Wasserversorgung, des Gesundheitswesens oder der Transport- und Kommunikationsindustrie verstanden werden. Die „Kritische Infrastruktur“ wiederum ist unabdingbar für die vielbeschworene Funktionsfähigkeit der „Lieferketten“, weshalb sich letztlich alles um die Gewährleistung eines reibungslosen Ablaufs der Geschäfte dreht: Es geht um „Business Continuity“, wie im „Handbuch Betriebliche Pandemieplanung“ des BBK nachzulesen ist.
Krisenmanagement und Obdachlosen-/Drogenhilfe
Auch in den Einrichtungen der Obdachlosen- und Drogenhilfe gilt uneingeschränkt das Prinzip „Business Continuity“, denn nur ein Weiterbetrieb sorgt für kommunale Zuschüsse. Ihre „Systemrelevanz“ erklärt sich aus ihrer sozialen Funktion: In „normalen“ Zeiten kommt Einrichtungen wie der IDH die Aufgabe zu, die Auswirkungen prohibitiver Drogenpolitik wie Verelendung und Beschaffungskriminalität zu kaschieren. In der aktuellen Situation geht es nun darum, die Auswirkungen der Krise auf „vulnerable Gruppen“ (Stefan Majer) zu kaschieren. Im Vordergrund steht dabei die Verhinderung negativer Publicity – Bilder von auf der Straße sterbenden Menschen sollen tunlichst vermieden werden. Zu diesem Zweck schwört etwa die Geschäftsführung der IDH die Belegschaft auf den Geist der „Betriebsgemeinschaft“ ein – analog zur Rede von der „nationalen Schicksalsgemeinschaft“. Immer wieder wird die vermeintliche Unverzichtbarkeit der eigenen Einrichtung betont; humanistische Werte wie Hilfsbereitschaft und Anteilnahme werden rücksichtslos instrumentalisiert. Statt umfassenden Gesundheitsschutz und Freistellung erhalten die Beschäftigten das propagandistische Prädikat „Helden des Alltags“. Politische Forderungen wie die nach Unterbringung unserer Klient*innen in Hotels werden selbstredend nicht unterstützt, würde man damit doch das im Kapitalismus heilige Recht auf Privateigentum in Frage stellen.
Vor diesem Hintergrund appellieren wir eindringlich an euch:
Diskutiert diesen Offenen Brief mit Kolleg*innen und Freund*innen Überlegt euch Kampfmaßnahmen zum Schutz unserer Klient*innen und zu unserem eigenen Schutz! Verweigert euch allen arbeitsrechtlichen Verschlechterungen! Überhäuft die Geschäftsführungen mit Gefährdungsanzeigen! Dies dient auch eurem eigenen Schutz bei (arbeits)rechtlichen Konsequenzen wegen Fehlern oder Unfällen. Macht von eurem Beschwerderecht Gebrauch! Das könnt ihr nicht nur individuell, sondern auch mit mehreren zusammen tun. Fordert eure Betriebsräte auf, Vereinbarungen für den Schutz unserer Gesundheit mit den Geschäftsführungen abzuschließen, sofern das noch nicht passiert ist! Fordert eure Betriebsräte auf, auf die Einhaltung der vereinbarten Arbeitszeiten zu drängen!
Angela Grünzel
für die Freund*innen der CGT in Deutschland/Les Amies de la CGT en Allemagne
Die französische Gewerkschaft CGT hat kürzlich die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes zum Streik aufgerufen. Während stets genügend Waffen für die Bekämpfung widerständiger Arbeiter*innen zur Verfügung stünden, seien Schutzausrüstungen für infektionsgefährdete Beschäftigte nicht zu haben, hieß es zur Begründung.
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