
Minneapolis. MN. Seit Beginn des Aufstandes, welcher infolge der Ermordung von George Floyd am 25. Mai durch die Polizei von Minneapolis ausgelöst wurde, sind zwei große gesellschaftliche Kräfte in heftigen Auseinandersetzungen über das Schicksal dieser Stadt verwickelt. Auf der einen Seite stehen die rebellierenden Massen von Schwarzen und Braunen, Jugendlichen und Arbeiter*innen, die nach Jahrhunderten der Polizeibrutalität, des Kolonialismus und der wirtschaftlichen Ungleichheit ihre Wut gegen die geballte Kraft des Staates gerichtet haben. Und auf der anderen Seite der Barrikaden sind diejenigen, die diese mörderische Gewalt lenken, die ach so liberalen Führer*innen dieser ach so liberalen Stadt, die schockiert feststellen mussten, wie umfassend sie in Wirklichkeit verachtet werden.
Ursprünglich veröffentlicht von Adelante! Geschrieben von Duncan Riley. Übersetzt von Enough 14.
Seit zwei Wochen kämpfen diese beiden Seiten gegeneinander, wobei die eine Seite voranschreitet und allmählich ihre Vision einer gerechten Gesellschaft formuliert, während die andere sich zurückzieht und auf immer brutalere Formen der Unterdrückung zurückgreift. Doch in den letzten Tagen, und insbesondere nach den Ankündigungen des Stadtrates von Minneapolis am 7. Juni, scheint diese angespannte Dialektik zu einer Synthese zusammengebrochen zu sein – der Abschaffung der Polizei. So stark diese Synthese auf den ersten Blick auch erscheinen mag, so trägt sie doch eine Unzahl von Widersprüchen in sich, Widersprüche, die mit der Zeit zu nichts anderem als einer neuen Welle der sozialen Kämpfe und der entsprechenden Bekämpfung führen werden.
Um diese Widersprüche zu verstehen, müssen wir zunächst feststellen, woher die Forderungen nach „Abschaffung der Polizei“ kommen. Zweifellos haben Aktivist*innengruppen in den Zwillingsstädten wie Reclaim the Block und Black Visions Collective seit Jahren wichtige Aufklärungsarbeiten geleistet und dem derzeitigen Vorstoß zur Abschaffung der Polizei von Minneapolis unbestritten große Kraft verliehen. Aber gleichzeitig ist es ganz klar, dass der Hauptimpuls hinter dieser neuen Entwicklung der massive Aufstand ist, der Minneapolis, ja das ganze Land, bis ins Mark erschüttert hat. Es ist diese spontane Rebellion der Unterdrückten und nicht Verhandlungen mit dem Stadtrat, welche die Worte „Abschaffung der Polizei “ in den Köpfen von Millionen von Menschen im ganzen Land verankert hat.
Darüber hinaus ist anzumerken, dass die besondere Vision von der Abschaffung der Polizei, welche von der rebellierenden Jugend der Zwillingsstädte vertreten wird, eine ausgesprochen kompromisslose ist. Diese Vision wird vielleicht am besten durch die Verbrennung des Dritten Reviers verkörpert, welches nicht nur eine tiefe und gerechte Wut vermittelt, sondern auch ein Symbol für die tiefgreifende Verachtung ist, mit der die Polizei und ihre ganze Rolle innerhalb dieser Gesellschaft als Verfechter der weißen Vorherrschaft, des Kolonialismus und des Kapitalismus betrachtet wird. Obwohl diese revolutionären Massen bisher keine Stellungnahmen zur Polizeireform vorgelegt haben, anhand derer wir ihre Perspektiven verstehen könnten, haben sie uns durch ihre Aktionen ein viel tieferes und aussagekräftigeres Bild ihrer Wünsche vermittelt. Und wie wir alle sehen können, lehnen diese Aktionen nicht nur die Polizei ab, sondern auch die Welt, welche diese hervorgebracht hat.
Demgegenüber ist die vom Stadtrat von Minneapolis vorgeschlagene Vision einer Abschaffung der Polizei in ihrem Umfang weitaus beschränkter. Neun Mitglieder des Stadtrates von Minneapolis – eine Mehrheit mit Vetorecht – haben sich verpflichtet, die Polizei abzuschaffen und durch ein vage definiertes „gemeindebasiertes System der öffentlichen Sicherheit“ zu ersetzen. Die Präsidentin des Stadtrats, Lisa Bender, erklärte weiter, dass „unsere Verpflichtung darin besteht, die Polizeiarbeit, wie wir sie kennen, zu beenden und Systeme der öffentlichen Sicherheit neu zu gestalten, durch die wir dann tatsächlich sicher sind“[1] Doch dieses plötzliche Engagement für die Community und eine neue Auffassung von öffentlicher Sicherheit klingt etwas inhaltsleer. Erst vor wenigen Wochen verabschiedete derselbe Rat mit überwältigender Mehrheit eine Resolution, in welcher die Entscheidung des Bürgermeisters unterstützt wurde, den Ausnahmezustand auszurufen und die Nationalgarde sowie die Polizei aufzufordern, Tränengas und Gummigeschosse auf die Community abzufeuern, die sie jetzt so sehr umzugestalten gedenken.[2] In Anbetracht dessen scheint die Vision des Rates hinsichtlich der Community jene schwarzen und braunen Menschen und insbesondere die Jugend nicht mit einzubeziehen, welche ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um sich der Polizeibrutalität zu widersetzen. Ein tragisches und bezeichnendes Versehen.
Dass sich der Stadtrat innerhalb weniger Wochen von den Unterdrückern des Volkes zu seinen selbsternannten Retter*innen und Rettern gewandelt hat, sollte weitere und komplexere Fragen darüber aufwerfen, was die von ihnen vorgeschlagene „Abschaffung der Polizei“ in Wahrheit zu bedeuten hat. Jede konzertierte Anstrengung, genau zu analysieren, was ihre Vorschläge für die Polizeiarbeit in Minneapolis bedeuten, wird durch ihre zuvor erwähnte Ungenauigkeit vereitelt. Wenn wir uns allerdings einmal die Umstände ansehen, welche die Erklärung des Rates vom 7. Juni hervorgebracht hat, können wir vielleicht damit beginnen, ihre wahre Bedeutung zu entschlüsseln. Der Mord an George Floyd und die darauf folgende Welle von Unruhen hat die Polizei und damit auch den Stadtrat und sogar den Staat selbst in eine Legitimationskrise von einem Ausmaß gestürzt, wie es in diesem Land seit den 1960er Jahren nicht mehr vorgekommen ist. Die brutale Repression, mit welcher die Polizei und die Regierung diese Unruhen bisher auf allen Ebenen unter Kontrolle gebracht haben, hat diese Krise nur noch weiter verschlimmert, da täglich Bilder schrecklicher Polizeigewalt über die sozialen Medien verbreitet werden. In der Tat ist die Legitimität des Staates in den Augen der Öffentlichkeit so gering geworden, dass, wie eine kürzlich durchgeführte Umfrage ergab, mehr als die Hälfte des Landes der Meinung ist, dass die Verbrennung des Dritten Reviers entweder ganz oder teilweise gerechtfertigt war[3] Unter diesen Bedingungen erscheint es, als ob der Schritt des Stadtrates von Minneapolis in Richtung „Abschaffung“ ein Versuch ist, seine Legitimation in den Augen der Öffentlichkeit wiederherzustellen, indem einige der Funktionen der Polizeiarbeit in die Hände der (noch nicht klar definierten) “ Community “ übergeben werden.
Das soll nicht heißen, dass die Angehörigen des Stadtrates aktiv versuchen, die Bewegung für die Abschaffung der Polizei zu sabotieren. Die meisten von ihnen haben zweifellos wirklich die besten Absichten im Sinn und würden gerne ein freundlicheres, sanfteres Polizeisystem in Minneapolis zustande bringen. Aber diese Wünsche müssen letztlich gegen die harte Realität der Staatsmacht und des kapitalistischen Wirtschaftssystems durchgesetzt werden. Die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, das Patriarchat, die weiße Vorherrschaft und der Kolonialismus bringen eine Vielzahl von Hierarchien und Ungleichheiten in der Gesellschaft hervor, welche nur durch Gewalt aufrecht zu erhalten sind, sei es nun durch die direkte Gewalt der Polizei oder die strukturelle Gewalt, welche jede Institution unserer Gesellschaft durchdringt. Die Polizei abzuschaffen, ohne gleichzeitig all diese Hierarchien zu beseitigen, bedeutet also, den Hammer zu zerstören, ohne den Nagel herauszureißen, und dabei die Möglichkeit zuzulassen, dass irgendein neues Werkzeug auftaucht, um sie an ihren Platz zu treiben. In diesem Sinne ist das vielleicht beunruhigendste an der Idee, dass der Staat „der Community“ eine Rolle im Polizeiwesen zuweist, die Tatsache, dass dadurch höchstwahrscheinlich eine Situation geschaffen wird, in der die polizeiliche Gewalt im gesamten sozialen Körper verbreitet wird, wodurch sie noch allgegenwärtiger und schädlicher wird. Das große Problem liegt dann weniger in den spezifischen Individuen an der Macht oder ihren Absichten, sondern in der Natur der Macht selbst.
Eine vom Staat vorgeschlagene „Abschaffung der Polizei“ ist also so tief durch innere Widersprüche zerrissen, so dass ihre Fähigkeit, ihr erklärtes Ziel tatsächlich zu erreichen, grundlegend beeinträchtigt ist. Bestenfalls könnte ein solches Projekt zu einer Reihe positiver Reformen führen, welche die Fähigkeit der Polizei, direkte physische Gewalt zu begehen, verringern und einen Teil ihrer Finanzmittel in fortschrittliche Sozialprogramme umlenken würden. Im schlimmsten Fall könnte es sehr wohl zur Wiederherstellung der Polizeiarbeit mit all ihrer inhärenten Gewalt führen, jedoch mit der zusätzlichen Legitimation, welche durch eine neue Verbindung mit der „Community “ verliehen wird. Beide Ergebnisse bleiben weit hinter der Vision der Abschaffung zurück, die sich in den letzten Wochen in den Straßen von Minneapolis und anderen Städten des Landes widergespiegelt hat.
Nichts von dem, was hier geschrieben wurde, will behaupten, dass die wachsende soziale Bewegung für die Abschaffung der Polizei eine schlechte Sache sei, oder diese Bewegung in ein negatives Licht rücken. Vielmehr ist allein die Tatsache, dass sich eine derart befreiende, ja sogar anarchistische Forderung innerhalb weniger Wochen wie ein Lauffeuer über das Land verbreitet hat, ein Zeichen großer Hoffnung. Es soll vielmehr davor warnen, dass diese soziale Bewegung, wenn sie sich in ein klientelistisches Verhältnis zu den lokalen Regierungen verstrickt, wenn sie es dem Staat erlaubt, bei der Definition der „Abschaffung“ eine Vorreiterrolle zu übernehmen, zwangsläufig in Enttäuschung enden wird. Die gegenwärtig entstehende Bewegung wurde in einer historischen Revolte der Unterdrückten geboren, welche von der Jugend getragen wurde, und sie kann nur hoffen, erfolgreich zu sein, wenn sie eine Bewegung der Unterdrückten bleibt, um eine von Grund auf unterdrückerische Gesellschaftsordnung zu stürzen. Als Sozialrevolutionär*innen ist es unsere Aufgabe, dies zu würdigen, die Widersprüche einer staatlich geführten „Abschaffung“ in Frage zu stellen und die Aufmerksamkeit darauf, sowie die Diskussion in eine radikalere Richtung, zu lenken, indem wir die Notwendigkeit betonen, nicht nur die Polizei abzuschaffen, sondern auch die Welt, welche sie hervorgebracht hat. Um die Polizei wirklich und endgültig abzuschaffen, müssen wir uns dem Aufbau einer Welt ohne Grenzen, Gefängnisse, Armeen und die von ihnen aufrechterhaltenen Hierarchien verschreiben, einer Welt ohne Kapitalismus, weiße Vorherrschaft und die unzähligen anderen Unterdrückungsformen, welche die menschliche Existenz belasten. Eine Welt, die einfach mit einem Wort beschrieben werden kann, einem Wort über das in letzter Zeit viel geschimpft wurde – Anarchie.
Verweise
1] Oliver Milman, „Minneapolis verspricht, seine Polizei abzubauen – wie wird das funktionieren? (The Guardian, 8. Juni 2020). https://www.theguardian.com/us-news/2020/jun/08/minneapolis-city-council-police-department-dismantle.
2] Lisa Bender, „Bürgerliche Unruhen: Lokaler Notstand, zivile Unruhen: State of Local Emergency“ (6. Juni 2020), zugänglich seit 8. Juni 2020. https://lims.minneapolismn.gov/Download/MetaData/17266/2020R-150_Id_17266.pdf.
3] Matthew Impelli, „54 Prozent der Amerikaner denken, dass das Abbrennen des Polizeireviers von Minneapolis nach George Floyds Tod gerechtfertigt war“. (Newsweek, 3. Juni 2020). https://www.newsweek.com/54-americans-think-burning-down-minneapolis-police-precinct-was-justified-after-george-floyds-1508452.

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