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Riot Turtle: „Ritualisierte Proteste sind nichts, worüber sich unsere Herrschenden Sorgen machen“

Der Ausbruch von COVID-19 ist eine Zeitmarke. Eine pre-revolutionäre Phase, das Einzige, was wir noch nicht wissen, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln werden. Im Moment werden die Karten sortiert und gemischt, und wenn die deutsche Linke nicht von der (extremen) Rechten zerschlagen werden möchte, müssen einige Dinge geändert werden.

Publiziert von Enough 14. Geschrieben von Riot Turtle. Bild oben: Archivbild 1. Mai 1987, Berlin.

Die anhaltende US-Revolte, die nach der Ermordung von George Floyd durch einen weißen Polizisten begann, steht neben Polizeigewalt und Morden auch im Zusammenhang mit COVID 19. In einem Leitartikel schrieben Genoss*innen von Its Going Down: „Die COVID-Pandemie hat mit erschreckender Deutlichkeit gezeigt, dass Schwarze in Amerika zu einer eigenen Klasse am unteren Ende der Gesellschaft gemacht wurden.“ Schwarze Amerikaner starben an Covid-19 mit einer dreimal so hohen Rate wie Weiße. Die aktuelle Wirtschaftskrise trifft auch Schwarze unverhältnismäßig hart. Die Revolte breitet sich nun auf der ganzen Welt aus. In der vergangenen Woche kam es zu Auseinandersetzungen in Frankreich, Belgien, Großbritannien und vielen anderen Ländern. Viele der Menschen, die an diesen Zusammenstößen teilnehmen, leben in den Vorstädten, den französischen Banlieues [1] und den Vorstädten von Brüssel und London.

Die Hamburger Polizei hat am Samstag gezeigt, wo sie steht. Bereitschaftspolizist*innen griffen mehrmals eine Black Lives Matters-Demo an. Danach kam es zu kleineren Scharmützeln, als einige Jugendliche ein paar kleine improvisierte Barrikaden errichteten. Einige Flaschen und Steine wurden auf die Bullen geworfen. Einige Augenzeugen sprachen von Bullen, die Menschen im Stadtzentrum gejagt haben. In den frühen Abendstunden kesselten die Bullen eine Gruppe von 39 Jugendlichen und stellten sie an die Wand des Hauptbahnhofs (Hbf). Viele von ihnen waren minderjährig, der jüngste war 13 Jahre alt. Augenzeugen berichteten dem deutschen Presseorgan Zeit Online, dass die meisten der Jugendlichen noch nicht mal auf der Demo waren. Aber sie hatten etwas gemeinsam: Sie waren nicht weiß. Sie sind Tag für Tag „Racial Profiling“ und anderen diskriminierenden Polizeipraktiken ausgesetzt. Viele von ihnen kamen aus den Vorstädten…

Debatten sind wichtig, aber immer seltener. Große Teile der Linken scheinen es vorzuziehen, die staatliche Erzählung von der Bedeutung und dem Erfolg der Lockdown zu wiederholen. Sie scheinen sogar immun gegen die Tatsache zu sein, dass das Robert-Koch-Institut (RKI) feststellte, dass Anfang März die grundlegende Basisreproduktionszahl, der R-Wert [2], immer noch bei etwa 3,0 lag, bis zum 22. März auf Werte um 1,0 fiel und am 9. April bei etwa 0,9 lag [3], d.h. die Ansteckungskurve begann zu sinken, bevor der Lockdown begann, und dies ist nur einer der Widersprüche im Narrativ des Staates.

Es gibt natürlich Ausnahmen, aber leider sind große Teile der Linken nicht wirklich bereit, das staatliche Narrativ zu diskutieren. Einige versuchen, einen in die „verschwörungstheoretische“ Ecke zu stellen, wenn versucht wird, eine Debatte darüber zu eröffnen, andere widersprechen einem, ohne jedoch etwas über ihre eigene Position zu sagen. Mit anderen Worten: Es gibt keine wirkliche Debatte.

Keine wirklichen Debatten in Zeiten einer Welt in Aufruhr, nach einem beispiellosen Ausnahmezustand auf dem ganzen Globus und einer massiven Wirtschaftskrise. Hinzu kommt, dass die extreme Rechte in diesen Tagen der wachsenden Instabilität immer noch auf dem Vormarsch ist.

In den vergangenen Tagen konnten wir beobachten, wie mit ritualisierten Protesten versucht wird, den Aufstand in den so genannten USA zu brechen. Das würde bei uns in Deutschland wahrscheinlich ziemlich gut funktionieren. Es ist die Kombination von Plünderungen, Ausschreitungen, Sabotage und friedlichen Aktionen, die Vielfalt der Taktiken, die die herrschende Klasse nervös macht. Nicht Tausende von Menschen, die mit ein paar Transparenten um den Block marschieren und wieder nach Hause gehen, ohne dass etwas zusätzliches passiert.

Die Instrumentalisierung ritualisierter Proteste durch den Staat und das Fehlen von Debatten macht einen Bruch unausweichlich zwischen denen, die immer noch auf nichts Geringeres als revolutionäre Veränderungen aus sind, und denen, die mit Reformen zufrieden sind. Wir können den Kapitalismus nicht mit virtuellen Protesten überwinden. Die typischen regulierten „Event“-Proteste auf der Straße, wenn der Staat bereit ist, diese Proteste (per Gesetz oder nach Gerichtsverfahren) zuzulassen, werden ebenfalls nicht ausreichen. Welche radikale Sprache auch immer verwendet wird, Sprache allein reicht nicht aus. Ritualisierte, virtuelle oder regulierte Proteste auf den Straßen sind nichts, worüber sich unsere Herrschenden Sorgen machen. Was wir brauchen, ist Widerstand mit einer Vielfalt von Taktiken.

Die Gesellschaft ist mehr als ein Virus, und der Kapitalismus tötet tatsächlich jeden Tag Menschen. Diese Zivilisation stirbt, und wenn die Klima- und andere Krisen eskalieren, werden sie sich daran erinnern, wie einfach es war, Menschen in ihren Häusern einzusperren. Es ist an der Zeit, eine Debatte darüber zu eröffnen, wie der Kampf zwischen denen, die den Kapitalismus und den Staat abschaffen wollen, intensiviert werden kann. Wenn uns das gelingt, werden wir auch die faschistische extreme Rechte besiegen. Mit weniger können wir nicht zufrieden sein.

Die Zeiten ändern sich, und sie ändern sich schnell. Eine Revolte wird höchstwahrscheinlich nicht von den „üblichen Verdächtigen“ ausgehen. Die Revolten des letzten Jahrzehnts haben das immer wieder gezeigt. Aber wir sollten uns darauf vorbereiten und bereit sein.

No Justice, no peace! (Keine Gerechtigkeit, kein Frieden!)

Gegen jede Autorität!

Aufstand!

Riot Turtle, 8. Juni, 2020.

Fußnoten

[1] Der französische Ausdruck Banlieue (lateinisch bannum leucae, wörtlich: „Bannmeile“) bezeichnet die verstädterten Bereiche außerhalb eines Stadtzentrums bzw. die Randzone einer Großstadt, die sich im 19. Jahrhundert im Zuge von Industrialisierung wie Urbanisierung (Stadtrandwanderung von Industriebetrieben und industrieabhängiger Bevölkerung) herausbildeten bzw. herausbildete.

[2] Die Basisreproduktionszahl (R-Wert) gibt an, wie viele Menschen von einer infektiösen Person durchschnittlich angesteckt werden, wenn kein Mitglied der Population gegenüber dem Erreger immun ist (suszeptible Population). https://de.wikipedia.org/wiki/Basisreproduktionszahl

[3] Matthias an der Heiden, Osamah Hamouda: Einschätzung der aktuellen Entwicklung der SARS-CoV-2-Epidemie in Deutschland – Nowcasting. In: Epidemiologisches Bulletin (In der Zeitschrift Epidemiologisches Bulletin veröffentlicht das Robert-Koch-Institut offizielle Bekanntmachungen und wissenschaftliche Arbeiten zu meldepflichtigen Krankheiten) Nr. 17, 2020, Seite 13-14. https://edoc.rki.de/handle/176904/6650.2



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6 Gedanken zu „Riot Turtle: „Ritualisierte Proteste sind nichts, worüber sich unsere Herrschenden Sorgen machen“

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