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Anarchistische Umorientierung in der Zeit des COVID-19 Viruses

Kanada. Die Situation ändert sich schnell. Zusammen mit allen anderen verfolge ich es eifrig und teile Updates, beobachte, wie sich unser Leben von Tag zu Tag verändert, wie wir uns in der Ungewissheit verlieren. Es kann sich anfühlen, als gäbe es nur eine einzige Krise, deren Fakten objektiv sind und nur einen einzigen Weg zulassen, einen, der Trennung, Einschließung, Gehorsam und Kontrolle beinhaltet. Der Staat und seine Anhängsel werden zu den einzigen, die legitimiert sind, zu handeln, und die Erzählung der Mainstream-Medien mit der von ihnen erzeugten Massenangst erstickt unsere Fähigkeit zu autonomem Handeln.

Ursprünglich auf Montreal Counter-Information veröffentlicht. Übersetzt von Riot Turtle für Enough 14 am 28. Januar 2021.

Einige Anarchist:innen haben jedoch darauf hingewiesen, dass es zwei Krisen gibt, die sich parallel abspielen – eine ist eine Pandemie, die sich rasend schnell ausbreitet und Tausenden ernsthaften Schaden und sogar den Tod bringt. Die andere ist eine vom Staat auferlegte Krisenmanagementstrategie. Der Staat behauptet, im Interesse der Gesundheit aller zu handeln – er will, dass wir seine Reaktion als objektiv und unvermeidlich ansehen.

Aber ihr Krisenmanagement ist auch ein Weg, um zu bestimmen, wie die Bedingungen sein werden, wenn sich die Krise auflöst, und lässt sie Gewinner:innen und Verlierer:innen entlang vorhersehbarer Linien auswählen. Die Ungleichheit anzuerkennen, die in diesen vermeintlich neutralen Maßnahmen steckt, bedeutet anzuerkennen, dass bestimmte Menschen gebeten werden, einen viel höheren Preis als andere zu zahlen für das, was die Mächtigen als kollektives Wohl beanspruchen. Ich möchte in diesem Moment etwas Autonomie und Handlungsfreiheit zurückgewinnen, und um das zu tun, müssen wir uns von dem Narrativ befreien, das uns vorgegeben wird.

Wenn wir zulassen, dass der Staat das Narrativ kontrolliert, die Fragen, die zu diesem Zeitpunkt gestellt werden, dann lassen wir ihn auch die Antworten kontrollieren. Wenn wir ein anderes Ergebnis wollen, als die Mächtigen vorbereiten, müssen wir in der Lage sein, eine andere Frage zu stellen.

Wir misstrauen dem Mainstream-Narrativ bei so vielen Dingen und sind in der Regel auf die Fähigkeit der Mächtigen bedacht, das Narrativ so zu formen, dass die Maßnahmen, die sie ergreifen wollen, unvermeidlich erscheinen. Hier in Kanada waren die Übertreibungen und Lügen über die Auswirkungen der #shutdowncanada-Bahnblockaden ein bewusstes Spiel, um den Boden für eine gewaltsame Rückkehr zur Normalität zu bereiten. Wir können die Vorteile eines Infektionsschutzprotokolls verstehen und gleichzeitig kritisch gegenüber der Art und Weise sein, wie der Staat diesen Moment für seine eigenen Zwecke nutzt. Selbst wenn wir die Situation selbst einschätzen und bestimmte Empfehlungen akzeptieren, die auch der Staat vorantreibt, müssen wir das Projekt des Staates nicht als unser eigenes übernehmen. Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem Befolgen von Befehlen und dem eigenständigen Denken, um zu ähnlichen Schlussfolgerungen zu gelangen.

Wenn wir tatsächlich ein eigenes Projekt durchführen, wird es einfacher, eine unabhängige Bewertung der Situation vorzunehmen, die Flut von Informationen und Empfehlungen für uns selbst zu analysieren und zu fragen, was für unsere Ziele und Prioritäten tatsächlich geeignet ist. Zum Beispiel scheint ein Verzicht auf unsere Fähigkeit, Demonstrationen zu organisieren, während wir immer noch in Einzelhandelsjobs arbeiten müssen, eine schlechte Entscheidung für jedes befreiende Projekt zu sein. Oder die Notwendigkeit eines Mietstreiks anzuerkennen, während wir gleichzeitig Angst davor haben, mit unseren Nachbar:innen zu reden.

Den Kampf aufzugeben und gleichzeitig der Wirtschaft noch entgegenzukommen, ist sehr weit davon entfernt, unsere eigenen Ziele anzusprechen, aber es ergibt sich aus dem Ziel des Staates, die Krise zu managen, um wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen und Anfechtungen seiner Legitimität zu verhindern. Es ist nicht so, dass der Staat darauf aus wäre, abweichende Meinungen zu unterdrücken, das ist wahrscheinlich nur ein Nebenprodukt. Aber wenn wir einen anderen Ausgangspunkt haben – eher Autonomie aufbauen als die Wirtschaft zu schützen – werden wir wahrscheinlich andere Abwägungen darüber treffen, was angemessen ist.

Für mich ist ein Ausgangspunkt, dass mein Projekt als Anarchist darin besteht, die Bedingungen für ein freies und sinnvolles Leben zu schaffen, nicht nur eines, das so lang wie möglich ist. Ich möchte auf kluge Ratschläge hören, ohne meine Handlungsfähigkeit aufzugeben, und ich möchte die Autonomie anderer respektieren – statt eines moralischen Kodex, den es durchzusetzen gilt, sollten unsere Virusmaßnahmen auf Vereinbarungen und Grenzen beruhen, wie jede andere Praxis der Zustimmung. Wir kommunizieren über die Maßnahmen, die wir wählen, wir kommen zu Vereinbarungen, und wo Vereinbarungen nicht möglich sind, setzen wir Grenzen, die wir selbst durchsetzen können und die nicht auf Zwang beruhen. Wir betrachten die Art und Weise, wie der Zugang zu medizinischer Versorgung, die Klasse, die Herkunft, das Geschlecht, die Geografie und natürlich die Gesundheit die Auswirkungen des Virus und die Reaktion des Staates beeinflussen, und versuchen, dies als Grundlage für Solidarität zu sehen.

Ein großer Teil des staatlichen Narrativs ist die Einheit – die Idee, dass wir uns als Gesellschaft um ein einzigartiges Wohl versammeln müssen, das für alle da ist. Die Menschen mögen das Gefühl, Teil einer großen Gruppenanstrengung zu sein, und mögen das Gefühl, durch ihre eigenen kleinen Handlungen einen Beitrag zu leisten – dieselben Phänomene, die rebellische soziale Bewegungen möglich machen, ermöglichen auch diese Momente des Massengehorsams. Wir können damit beginnen, sie abzulehnen, indem wir uns daran erinnern, dass die Interessen der Reichen und Mächtigen grundlegend im Widerspruch zu unseren eigenen stehen. Selbst in einer Situation, in der auch sie krank werden oder sterben könnten (anders als bei der Opioid-Krise oder der AIDS-Epidemie davor), ist es unwahrscheinlich, dass ihre Reaktion auf die Krise unseren Bedürfnissen entspricht und könnte die Ausbeutung sogar verstärken.

Das vermutete Subjekt der meisten Maßnahmen, wie Selbstisolation und soziale Distanzierung, gehört zur Mittelschicht – sie stellen sich eine Person vor, deren Job leicht von zu Hause aus erledigt werden kann oder die Zugang zu bezahlten Urlaubs- oder Krankheitstagen hat (oder, im schlimmsten Fall, zu Ersparnissen), eine Person mit einem geräumigen Haus, einem eigenen Fahrzeug, ohne sehr viele enge, intime Beziehungen, mit Geld, das sie für Kinderbetreuung und Freizeitaktivitäten ausgeben kann. Jedem wird ein gewisses Maß an Unbehagen abverlangt, das aber umso größer ist, je weiter unser Leben von diesem unausgesprochenen Ideal entfernt ist und das ungleiche Risiko für die schlimmsten Folgen des Virus verstärkt. Eine Antwort auf diese Ungleichheit ist der Ruf nach Formen der Umverteilung durch den Staat, durch die Ausweitung von Leistungen der Arbeitslosenversicherung oder durch die Bereitstellung von Krediten oder Zahlungsaufschüben. Viele dieser Maßnahmen laufen darauf hinaus, neue Formen der Verschuldung für Bedürftige zu produzieren, was an das Ergebnis des Finanzcrashs von 2008 erinnert, bei dem alle gemeinsam die Verluste der Reichen auffangen mussten, während die Armen im Regen stehen gelassen wurden.

Ich habe kein Interesse daran, ein Fürsprecher dafür zu werden, was der Staat tun sollte, und ich denke sicher nicht, dass dies ein Kipppunkt für die Einführung von mehr sozialistischer Maßnahmen ist. Die zentrale Frage ist für mich, ob wir wollen, dass der Staat die Möglichkeit hat, alles abzuschalten, unabhängig davon, was wir von den Begründungen halten, die er dafür anführt.

Die #shutdowncanada-Blockaden wurden als inakzeptabel angesehen, obwohl sie kaum einen Bruchteil der Störungen ausmachten wie die Maßnahmen, die der Staat nur eine Woche später durchführte, was deutlich macht, dass nicht das Ausmaß der Störung inakzeptabel war, sondern vielmehr, wer ein legitimer Akteur ist. In ähnlicher Weise wiederholte die Regierung von Ontario ständig die inakzeptable Belastung, die streikende Lehrer:innen mit ihren wenigen Aktionstagen den Familien zumuteten, kurz bevor sie die Schulen für drei Wochen schlossen – auch hier ist das Problem, dass es sich um Arbeiter:innen handelte und nicht um eine Regierung oder einen Chef. Die Schließung der Grenzen für Menschen, aber nicht für Waren, intensiviert das nationalistische Projekt, das bereits auf der ganzen Welt im Gange ist, und die wirtschaftliche Natur dieser scheinbar moralischen Maßnahmen wird noch deutlicher werden, wenn der Virus seinen Höhepunkt erreicht hat und sich die Rufe in Richtung „geht shoppen, für die Wirtschaft“ verschieben.

Der Staat produziert Legitimität für seine Handlungen, indem er sie als einfache Befolgung von Expert:innenempfehlungen hinstellt, und viele Linke greifen diese Logik auf, indem sie fordern, dass Experten:innen direkt die Kontrolle über die Reaktion auf das Virus übernehmen. Beides ist ein Plädoyer für die Technokratie, die Herrschaft von Expert:innen. Wir haben dies in Teilen Europas gesehen, wo Wirtschaftsexpert:innen an die Spitze von Regierungen berufen werden, um „neutrale“ und „objektive“ Sparmaßnahmen umzusetzen. Aufrufe, unsere eigene Handlungsfähigkeit aufzugeben und Expert:innen zu vertrauen, sind in der Linken bereits weit verbreitet, besonders in der Klimawandelbewegung, und es ist ein kleiner Sprung, dies auf die Viruskrise auszuweiten.

Es ist nicht so, dass ich keine Expert:innen hören möchte oder nicht möchte, dass es Personen mit fundiertem Wissen in bestimmten Bereichen gibt – es ist so, dass ich denke, dass die Art und Weise, wie Probleme formuliert werden, bereits ihre Lösung vorwegnimmt. Die Reaktion auf den Virus in China gibt uns eine Vorstellung davon, wozu Technokratie und Autoritärismus in der Lage sind. Das Virus kommt zum Stillstand, und die Kontrollpunkte, die Abriegelungen, die Gesichtserkennungstechnologie und die mobilisierten Arbeitskräfte können für andere Zwecke eingesetzt werden. Wenn du diese Antwort nicht möchtest, solltest du lieber eine andere Frage stellen.

Ein so großer Teil des sozialen Lebens wurde bereits von Monitoren erfasst und diese Krise beschleunigt dies noch – wie bekämpfen wir die Entfremdung in diesem Moment? Wie gehen wir mit der Massenpanik um, die von den Medien geschürt wird, und mit der Angst und Isolation, die damit einhergeht?

Wie holen wir uns, unsere Handlungsfähigkeit zurück? Gegenseitige Hilfe und autonome Gesundheitsprojekte sind eine Idee, aber gibt es auch Wege, wie wir in die Offensive gehen können? Können wir die Fähigkeit der Mächtigen untergraben, zu entscheiden, wessen Leben erhaltenswert ist? Können wir über die Unterstützung hinausgehen und die Eigentumsverhältnisse in Frage stellen? Zum Beispiel, indem wir auf Plünderungen und Enteignungen hinarbeiten, oder indem wir Chefs erpressen, anstatt darum zu betteln, nicht gefeuert zu werden, weil wir krank sind?

Wie bereiten wir uns darauf vor, Ausgangssperren oder Reisebeschränkungen zu umgehen, ja sogar geschlossene Grenzen zu überqueren, wenn wir dies für angebracht halten? Dazu gehört sicherlich auch, dass wir unsere eigenen Maßstäbe für Sicherheit und Notwendigkeit setzen und nicht nur die Vorgaben des Staates akzeptieren.

Wie können wir andere anarchistische Aktivitäten vorantreiben? Insbesondere unsere Feindseligkeit gegenüber dem Gefängnis in all seinen Formen scheint hier sehr relevant. Wie können wir das Gefängnis in diesem Moment in den Mittelpunkt stellen und ins Visier nehmen? Wie sieht es mit Grenzen aus? Und wenn sich die Polizei einmischt, um verschiedene staatliche Maßnahmen durchzusetzen, wie delegitimieren wir sie und begrenzen ihre Macht?

Wie richten wir uns gegen die Art und Weise, wie sich die Macht um uns herum konzentriert und umstrukturiert? Welche Interessen sind bereit, am Virus zu „gewinnen“, und wie können wir sie untergraben (Denke an Investitionsmöglichkeiten, aber auch an neue Gesetze und erweiterte Befugnisse). Welche Infrastruktur der Kontrolle wird aufgebaut? Wer sind die Profiteure und wie können wir ihnen schaden? Wie bereiten wir uns auf das vor, was als Nächstes kommt, und wie planen wir für die Möglichkeiten, die zwischen der schlimmsten Phase des Virus und einer Rückkehr zur wirtschaftlichen Normalität bestehen könnten?

Die Entwicklung einer eigenen Sichtweise auf die Situation, zusammen mit unseren eigenen Zielen und Praktiken, ist keine kleine Aufgabe. Es wird den Austausch von Texten, Experimente in Aktion und Kommunikation über die Ergebnisse erfordern. Es wird nötig sein, unseren Sinn für Innen-Außen zu erweitern, um genug Leute einzubeziehen, um in der Lage zu sein, sich zu organisieren. Es wird erfordern, weiterhin im öffentlichen Raum zu agieren und den Rückzug in den Online-Raum zu verweigern. In Kombination mit den Maßnahmen zum Umgang mit dem Virus macht die intensive Angst und der Druck, sich anzupassen, der von vielen ausgeht, die normalerweise unsere Verbündeten wären, es zu einer Herausforderung, überhaupt einen Raum zu finden, um die Krisen unter anderen Bedingungen zu diskutieren. Aber wenn wir die Fähigkeit der Mächtigen, die Reaktion auf das Virus für ihre eigenen Interessen zu gestalten, tatsächlich in Frage stellen wollen, müssen wir damit beginnen, uns die Fähigkeit zurückzuholen, unsere eigenen Fragen zu stellen.

Die Bedingungen sind überall anders, aber alle Staaten beobachten sich gegenseitig und folgen dem Beispiel der anderen, und wir täten gut daran, auf Anarchist:innen an anderen Orten zu schauen, die sich mit Bedingungen befassen, die bald unsere eigenen werden könnten. Ich lasse euch also mit diesem Zitat von Anarchist:innen in Frankreich zurück, wo eine obligatorische Lockdown die ganze Woche in Kraft gewesen ist, durchgesetzt mit dramatischer Polizeigewalt:

Also ja, lasst uns zu viel Kollektivität in unseren Aktivitäten und unnötige Treffen vermeiden, wir werden einen sicheren Abstand einhalten, aber scheiß auf die Einsperrungsmaßnahmen, wir werden uns euren Polizeipatrouillen entziehen, so gut wir können, es kommt nicht in Frage, dass wir Repression oder Einschränkungen unserer Rechte unterstützen! An alle Armen, Ausgegrenzten und Aufmüpfigen: Zeigt euch solidarisch und leistet gegenseitige Hilfe, um Aktivitäten aufrechtzuerhalten, die für das Überleben notwendig sind, um den Verhaftungen und Geldstrafen zu entgehen und uns weiterhin politisch zu äußern.

Gegen die allgemeine Beschränkungen („Contre le confinement généralisé“). Ursprünglich veröffentlicht auf Nantes Indymedia am 20. März 2020.

Wir haben zwei Solidaritäts-T-Shirts (Bilder unten) für das Enough Blog und Info-Café (Denn wir brauchen ein neue Räumlichkeiten) entworfen. Ihr könnt die Enough Info-Café-Solidaritäts-T-Shirts hier bestellen: https://enoughisenough14.org/product/t-shirt-wir-werden-nicht-zur-normalitat-zuruckkehren-schwarz/ und https://enoughisenough14.org/product/t-shirt-wir-sind-ein-bild-aus-der-zukunft-schwarz/

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