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Die Implosion der „Radikalen“ Linken

In der gegenwärtigen Polarisierung des außerparlamentarischen Diskurses um Corona-Maßnahmen stehe ich entsetzt zwischen allen Fronten: Weder marschiere ich mit Nazis, noch werde ich autoritäre Parolen oder Aktionen unterstützen!

Ursprünglich veröffentlicht von Perspektive Solidarität Hamburg. Geschrieben von Dancing Bull

Mit Fassungslosigkeit habe ich die Reaktionen des Großteils, oder zumindest lautesten Teils der Radikalen Linken, zu der ich mich nach wie vor zähle, registriert: Einerseits gibt es die völlig unkritische Hin- und Übernahme von staatlich verkündeten Informationen und Maßnahmen und andererseits die völlige Unfähigkeit, differenziert auf die aufkommenden Maßnahmekritiker*innen einzugehen.

Diese Unfähigkeiten, für deren Ursache ich eine sehr lange Vorgeschichte sehe, haben zu einem massiven Infragestellen von „uns“ geführt. Es stellt sich die Frage, welches „Wir“ da vorher von uns auf Teile der radikal linken „Szene“ projiziert wurde? Wir sind antiautoritär / undogmatisch / anarchistisch ausgerichtet. Unter „links“ verstehen wir nicht nur den Drang nach Freiheit und einem „Guten Leben für Alle“ [1], sondern auch die permanente Pflege von kritischen und selbstkritischen Diskursen in einer von Achtsamkeit, Empathie, Wohlwollen und Solidarität geprägten Atmosphäre.

Ich bin entsetzt, was die bornierte Polarisierung bei den Maßnahme-„Diskussionen“ insbesondere im Hinblick auf Kommunikation und Verständigung angerichtet hat (übrigens auf allen Seiten, aber die Kritik an den Maßnahmegegner*innen ist nicht Gegenstand dieser Betrachtungen). Hier mal einige Highlights:

  1. Wer Seite an Seite mit Nazis marschiert, ist ein Nazi.“ [2]
    Diese Aussage, die auch zigfach und immer öfter in sozialen Medien auftaucht, ist nur die Spitze des Eisbergs eines oberflächlichen, d.h. scheinbar von fundamentaler Totalitarismus-Analyse freien Antifaschismus. Sie stellt übrigens auch eine Verharmlosung des Nationalsozialismus dar. Meistens wird die Aussage vorsichtiger formuliert, aber die Tendenz ist da. Die Protestierenden alle als rechtsextrem einzusortieren, ist ein politischer Offenbarungseid.
  2. Wir impfen euch alle“
    Zu diesem autoritären und übergriffig intendierten Sprechchor diverser Antifa-Gruppen hat Elisabeth Voss [3] einen ausführlichen Artikel geschrieben [4], dem nicht viel mehr hinzuzufügen ist, außer vielleicht, dass der Ansage auch noch einen kulturellen Subtext einer penetrativen Männerphantasie inne wohnt.
  3. Kritik an „My body, my choice“
    Es gab allen Ernstes in den sozialen Medien eine („antifaschistische“) Abwehr gegen diese alte feministische Grundüberzeugung, mit der Begründung, dass dieses Argument missbraucht würde oder ausschließlich für die Abtreibungsdebatte(n) gälte. Sorry, diese Parole gilt immer und überall und für alle (auch Männer)! [5]
  4. 2G-Regeln in „linken“ Zentren
    Mal abgesehen von dem unsolidarischen Ausschluss von Leuten, die sich nicht impfen lassen können oder mit denen die Zentrumsführung nicht diskutieren will, haut es mich von den Socken, dass dadurch sogar in der Roten Flora Ausweise kontrolliert werden.
    Dass zudem eine Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt nicht einfach nur eine solidarische Kontaktverfolgung darstellt, sondern auch zur staatlichen Kontrolle und amtlichen Zwangsmaßnahmen führen kann, ist den Hilfssheriffs auch nicht aufgefallen.
  5. Linke Sprechverbote
    Allein die Benutzung des Wortes „Skepsis“ bei Diskussionen um ein Corona-Konzept in der Flora, hat mir einen üblen „Querdenker!“-Vorwurf eingebracht, wobei es nur um die Skepsis ging, dass „mit 2G“ wieder inhouse-Veranstaltungen ohne Masken und ohne Abstand möglich werden sollten. Eine Diskussion war so nicht möglich und nach dieser Nummer wird sich da so schnell niemand trauen, kritische Gedanken zu äußern.
    Entsprechendes ist auch in der Telegram-Gruppe „Hamburg solidarisch gegen Corona“ zu beobachten, wo „der Diskurs“ von einem halben Dutzend autoritärer Sittenwächter beherrscht wird. Da traut sich niemand mehr kritische Aussagen oder Nachfragen zu posten. Ein irgendwie kritisch zu nennender, linker Diskurs findet nicht statt. Zumindest nicht mehr öffentlich. Das ist letztendlich das Gegenteil von „links“, so wie ich es verstehe.
  6. Ausgrenzung
    Die linke Tradition von Ausgrenzungen aller, die nicht den eigenen „Standards“ genügen, ist ein altbekanntes und sehr problematisches Phänomen, das in der Auseinandersetzung mit den Maßnahmekritiker*innen eskaliert ist: Der ursprünglich sehr positive Begriff „Querdenker*in“ wurde negiert und in Richtung „Querulant*in“ umgedeutet. Ausdrücke wie „Querdullies“ und Schlimmeres werden immer mehr benutzt. Die Aussagen der Kritiker*innen, die sicherlich nicht alle richtig sind oder Faktenchecks standhalten, wurden pauschal als „Geschwurbel“ bezeichnet. Schwurbeln ist ein neuer Kampfbegriff geworden, der letztendlich jegliche kritische Diskussion unterdrückt.
  7. Entmenschlichung
    Die Folge jeder Ausgrenzung sind Entmenschlichung (und in der Folge Auslöschung), die sich dann auf Twitter bei Einzelnen auch in Form von Aufrufen an die Bullen, endlich mal gegen die „Dullies“ die Knüppel zu ziehen oder bei Gefriertemperaturen die Wasserwerfer einzusetzen, ausdrücken. Eines sollte klar sein: „Linke“ Möchtegern-Bullen sind echt das Allerletzte!
  8. Solidarität „einfordern“
    Solidarität als linke Tugend kann mensch genauso wenig wie Liebe verlangen oder gar einfordern. Sie können nur freiwillig geschenkt werden, auf Basis von Empathie und ohne kommerzielle Schuldgedanken [6] an eine Pflicht zur Gegengabe.
  9. Unkritische Wissenschaftsvergötzung
    Die politische Arbeit der linken Bewegungen der letzten Jahrzehnte ist geprägt gewesen von einer gesunden kritischen Distanz zu „der Wissenschaft“, aber das hat sich in den letzten zwei Jahren – zumindest beim lauten, sichtbaren Teil der Linken – schlagartig in Luft aufgelöst. Jeglicher Zweifel an staatlich verkündeten obersten Wahrheiten „der Wissenschaft“ werden Schulter an Schulter mit den Herrschenden bekämpft. Nicht dass es tatsächlich jede Menge Fake News oder hilflose Verschwörungstheorien gäbe, aber zur wissenschaftlichen Methode gehört eben auch, genau hinzuschauen und nicht selbstherrlich abzukanzeln. Wissenschaft lebt vom Zweifel und vom widerstreitenden Diskurs. Wir kennen doch all die gekauften und manipulierten, „wissenschaftlichen“ Gutachten, die uns Kernkraftwerke [7] oder Pestizide wie DDT oder Glyphosat etc. als harmlos, aber notwendig verkaufen wollten. Schon vergessen?

Versagen der militanten Antifa

Am allerschlimmsten fand ich den hilflosen Umgang mit den ersten Maßnahmeprotesten: Anstatt sich in die kritischen Debatten einzumischen, die berechtigten Kritiken zu identifizieren und aufzunehmen, stellte sich eine oberflächlich analysierende Antifa dagegen, um rigoros auszugrenzen. Es wurde nach dem Motto verfahren, Suche die braune Nadel im Heuhaufen, dann darfst Du den ganzen Heuhaufen anzünden.

Eine Antifa, die Faschisten nur an ihren Äußerlichkeiten erkennen kann, hat versagt! Wo bleiben tiefer gehende Totalitarismus-Analysen oder gibt es da Schwierigkeiten sie korrekt anzuwenden? Schlimm ist insbesondere, dass diese Antifa im Schulterschluss mit dem Staat die Maßnahmegegner*innen rigoros ausgegrenzt und den Rechten in die Arme treibt, anstatt Basisarbeit zu machen. Mit Basisarbeit meine ich eine nachhaltige Arbeit, einen Kampf um die Köpfe und Herzen von Menschen für ein Gutes Leben für Alle.

Aber dazu muss mensch mit den Leuten reden können, was aber eine extreme Intoleranz verhindert, die insbesondere in den militanten Gruppen herrscht. Das einzige, was nicht toleriert werden kann, ist die Intoleranz, alles andere kann und muss ausdiskutiert werden. Hier ist (immer noch) eine Militanz-Debatte überfällig, bei der übrigens auch die real existierenden toxisch-männlichen Aspekte der linken „Kampfsportler*innen“ kritisch beleuchtet werden sollten.

In welch übles Fahrwasser so eine Antifa durch den Schulterschluss mit den Herrschenden gerät, zeigt das Essay Totalitarismus und die fünf Schritte zur Entmenschlichung von Christiaan Alting von Geusau, das ich wärmstens zu lesen empfehle [8].

Ursachensuche

Ich muss mir leider eingestehen, dass ich mir jahrzehntelang eingeredet habe, dass es in der Autonomen Subkultur, als Nachfolgerin der antiautoritären Sponti-Kultur, ein gemeinsames anarchistisches Grundprinzip gibt, dass wir eine herrschaftsfreie und somit hierarchielose Gesellschaft erkämpfen wollen und dass wir auf dem Weg zu diesem Ziel dies auch in unseren eigenen Beziehungen umsetzen werden („Politik der ersten Person“ [9]).

Wie ich aber auch schon vor der Corona-Pandemie feststellen musste, sind solche wohlwollenden Projektionen lediglich Wunschdenken [10]. In der Realität zeigen sich in fast allen linken Projekten autoritäre Denkmuster und hierarchische Strukturen [11]. Da in anarchistisch orientierten Kreisen Macht verpönt ist, haben sich gut versteckte Methoden der Machtausübung etabliert [12]. Erst nachdem ich das selber erlebt und erkannt hatte, wurde mir verständlich, warum kritische Diskussionen zur eigenen Projektstruktur stets abgewehrt werden (wg. Machterhalt) und niemals politische Grundsätze diskutiert und erarbeitet wurden: Mit dieser Intransparenz, ohne im Konsens ausformulierte Grundlagen können jederzeit von der Führungselite nahezu beliebige Argumente oder Standpunkte aus der Luft gegriffen werden und eingesetzt werden, je nachdem wie es gerade passt.

Eine Ausarbeitung von politischen Grundsätzen erfordert aber meines Erachtens auch eine kritische Überarbeitung und Ergänzung der Marxschen Kapitalismusanalyse. Die Perversion jener Ansätze durch Stalin, Mao & Co. hat der Befreiung der Menschen einen Bärendienst erwiesen. Es ist erstaunlich (und erfreulich) dass trotz alledem eine große Mehrheit der Bevölkerung den Kapitalismus kritisch sieht. Aber wie die Probleme zu lösen sind, dazu gibt es kein konsensierbares (von vielen/allen tragbares) Konzept. Wir müssen uns unbedingt ein neues linkes Narrativ erarbeiten!

Ausblick

All die genannten Punkte haben bei mir auch ein Gefühl des Verrats durch Genoss*innen der Radikalen Linken entstehen lassen, bis mir klar wurde, dass die Ursache in den vorgenannten, von mir selber gepflegten Projektion liegt und ich mich eher fragen muss, mit wem ich denn da zusammen gearbeitet und gekämpft habe. Diese Fragen sollten noch dringender, als zuvor schon, gestellt und diskutiert werden. Ich würde in Zukunft doch mal gerne genauer wissen, welche Gesellschaft „wir“ anstreben und wie „wir“ uns den Weg dahin konkret vorstellen.

Die von einigen Autoritären bewusst positiv gesehene Polarisierung, wird ihnen übel auf die Füße fallen. Wenn sich der Rauch der Auseinandersetzungen verzogen hat, wird die Implosion einer vorher schon sehr schwachen und marginalisierten linken Szeneblase sichtbar werden. Ich persönlich hab inzwischen Schwierigkeiten, zu Demos und Aktionen zu gehen. Das galt schon zuvor gegenüber offenkundig autoritären Gruppen, aber inzwischen bin ich verunsichert, welche vermeintlich befreundete Gruppen doch eher autoritäre Zielvorstellungen haben und diese doch nicht so hierarchiefrei erreichen wollen, wie vorgegeben.

Den Fehler der wohlwollenden Projektion werde ich nicht noch einmal machen. Ich möchte nur noch mit Leuten zusammen arbeiten und kämpfen, die eine herrschaftsfreie Gesellschaft anstreben und dieses Ziel auch auf dem Weg dorthin praktizieren (Politik der ersten Person). Als Graswurzel-Bewegung, ohne Eliten, ohne Parteien. Radikal heißt für mich, die Wurzeln (lat. radix) ‚des Übels‘ zu suchen und zu analysieren. Wer aber radikal mit rigoros, so wie Anarchie mit Anomie oder Herrschaftsfreiheit mit Strukturlosigkeit verwechselt, mit der/dem möchte ich nicht (mehr) zusammen arbeiten. Ob die hier Kritisierten überhaupt noch diskussionsfähig sind, ob sich die innere Verkrustung der linksradikalen Szeneblase überhaupt noch von Innen aufbrechen lässt, wird sich zeigen. Wir wollen diskutieren, wenn notwendig in ganz neuen Strukturen, aber diesmal nicht nur achtsam sondern auch wachsam.

Mit pan-solidarischen Grüßen,
Dancing Bull
(Perspektive Solidarität Hamburg)

Artikel als PDF: LINK


[1] „Vivir bien“: https://amerika21.de/print/42318

[2] Quelle: https://forum.kulturkosmos.de/viewtopic.php?t=29177&start=150

[3] Zur Person: http://www.elisabeth-voss.de/

[4] https://www.untergrund-blättle.ch/gesellschaft/corona-und-linke-kritikunfaehigkeit-6697.html

[5] Siehe dazu auch https://www.untergrund-blättle.ch/politik/deutschland/my-body-my-choice-impfdebatte-impfzwang-6837.html

[6] Siehe Eva von Redecker, Revolution für das Leben, S. Fischer Verlag 2020: Kapitel „Teilen (Güter)“, Unterkapitel „Freie Gaben“ ab S. 249

[7] https://www.bpb.de/apuz/333362/kleine-geschichte-der-atomkraft-kontroverse-in-deutschland

[8] https://eutopie.blackblogs.org/2022/02/01/totalitarismus-und-die-fuenf-schritte-zur-entmenschlichung/

[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Politik_der_ersten_Person

[10] Das fiel mir zum ersten Mal ziemlich übel auf, als beim zweiten bundesweiten Autonomen-Kongress im Juli 1983 in Lutter ein abstoßendes Gedränge der spitzesten Ellenbogen an den Essenstöpfen einsetzte.

[11] Dazu gibt es einen, leider immer noch aktuellen Text von Jo Freeman, der aufzeigt, dass es keine strukturlose Gruppen geben kann: https://eutopie.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1485/2020/10/Jo_Freeman_-_Die_Tyrannei_der_unstrukturierten_Gruppen.Mit_Markierungen.pdf

[12] Die Projektwerkstatt hat dazu hilfreiche Texte veröffentlicht, deren kritische Beschreibungen und Analysen übernommen werden können: http://www.projektwerkstatt.de/index.php?domain_id=1&a=13782


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