
Wir hier in der postsowjetischen Welt haben viel von euch gelernt. Mit „wir“ meine ich atomisierte oder lose organisierte kommunistische, demokratisch-sozialistische, linksanarchistische, feministische Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen aus Kiew, Lviv (Lemberg), Minsk, Moskau, Sankt Petersburg und anderen Orten, die in den Grauen von Krieg und Polizeigewalt versinken. Nachdem unsere eigene marxistische Tradition verödet, degradiert und marginalisiert worden war, lasen wir Kommentare zu Das Kapital auf Englisch. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verließen wir uns auf eure Analyse der amerikanischen Hegemonie, der neoliberalen Wende bei den Formen der Kapitalakkumulation und des westlichen Neoimperialismus. Wir wurden auch von den westlichen sozialen Bewegungen ermutigt, von der Globalisierungsbewegung bis zu den Antikriegsprotesten, von Occupy bis zu BLM.
Ursprünglich veröffentlicht von Commons. Geschrieben von Volodymyr Artiukh. Übersetzt von Riot Turtle.
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Wir schätzen die Art und Weise, wie ihr versucht habt, unsere Ecke der Welt theoretisch zu erfassen. Ihr habt zu Recht darauf hingewiesen, dass die USA dazu beigetragen haben, die demokratischen und wirtschaftlich fortschrittlichen Optionen der postsowjetischen Transformation in Russland und anderswo zu untergraben. Ihr habt Recht, dass die USA und Europa es versäumt haben, ein Sicherheitsumfeld zu schaffen, das Russland und andere postsowjetische Länder einschließt. Unsere Länder waren lange Zeit in der Lage, sich anzupassen, Zugeständnisse zu machen und demütigende Bedingungen zu akzeptieren. Ihr habt dies mit einer an Romantik grenzenden Sympathie getan, und wir haben es manchmal geduldet.
Inmitten des russischen Bombenhagels auf Charkiw sehen wir jedoch die Grenzen dessen, was wir von euch gelernt haben. Dieses Wissen ist unter den Bedingungen der amerikanischen Hegemonie entstanden, die an den blutig-roten Linien Russlands an ihre Grenzen gestoßen ist. Die USA haben ihre Fähigkeit eingebüßt, ihre Interessen als gemeinsame Interessen Russlands und Chinas zu vertreten, sie können mit militärischer Macht keinen Gehorsam erzwingen, und ihr wirtschaftlicher Einfluss schrumpft. Im Gegensatz zu dem, was viele von euch behaupten, reagiert Russland nicht mehr, passt sich nicht mehr an, macht keine Zugeständnisse mehr, sondern hat seine Handlungsfähigkeit zurückgewonnen und ist in der Lage, die Welt um sich herum zu gestalten. Russlands Instrumentarium unterscheidet sich von dem der USA, es ist nicht hegemonial, da es sich eher auf rohe Gewalt als auf sanfte Macht und Wirtschaft stützt. Dennoch ist rohe Gewalt ein mächtiges Instrument, wie ihr alle durch das Verhalten der USA in Lateinamerika, Irak, Afghanistan und überall auf der Welt wisst. Russland hat die Zwangsinfrastruktur des amerikanischen Imperialismus nachgeahmt, ohne seinen hegemonialen Kern zu bewahren.
Und doch bedeutet diese Nachahmung keine Abhängigkeit. Russland ist zu einem autonomen Akteur geworden, sein Handeln wird von seiner eigenen innenpolitischen Dynamik bestimmt, und die Folgen seines Handelns stehen nun im Widerspruch zu den westlichen Interessen. Russland gestaltet die Welt und setzt seine eigenen Regeln durch, so wie es die USA getan haben, wenn auch mit anderen Mitteln. Das Gefühl der Derealisierung, das viele Kommentatoren empfinden – „das passiert nicht bei uns“ – rührt daher, dass die russischen Kriegseliten in der Lage sind, ihre Wahnvorstellungen durchzusetzen, sie in Tatsachen zu verwandeln und andere dazu zu bringen, sie gegen deren Willen zu akzeptieren. Diese Wahnvorstellungen werden nicht mehr von den USA oder Europa bestimmt, sie sind keine Reaktion, sie sind geschaffen.
Angesichts des „Unvorstellbaren“ sehe ich, wie die westliche Linke das tut, was sie am besten kann: den amerikanischen Neoimperialismus und die Ausweitung der NATO analysieren. Das reicht nicht mehr aus, denn es erklärt nicht die Welt, die aus den Trümmern des Donbass und des Hauptplatzes von Charkiw hervorgeht. Die Welt lässt sich nicht erschöpfend so beschreiben, dass sie von den USA geformt wird oder auf deren Handlungen reagiert. Sie hat eine eigene Dynamik entwickelt, und die USA und Europa sind in vielen Bereichen im Reaktionsmodus. Sie erklären die fernen Ursachen, anstatt die sich abzeichnenden Trends zu erkennen.
So fällt mir auf, wie ihr, wenn ihr über die dramatischen Vorgänge in unserer Ecke der Welt diskutiert, diese auf Reaktionen auf die Aktivitäten eurer eigenen Regierung und Wirtschaftseliten reduziert. Wir haben von euch alles über die USA und die NATO gelernt, aber dieses Wissen ist nicht mehr so hilfreich. Vielleicht haben die USA die Umrisse dieses Brettspiels gezeichnet, aber jetzt verschieben andere Spieler*innen die Chips und fügen ihre eigenen Konturen mit einem roten Marker hinzu. US-zentrierte Erklärungen sind überholt. Ich habe alles gelesen, was auf der linken Seite über den eskalierenden Konflikt zwischen den USA, Russland und der Ukraine im letzten Jahr geschrieben und gesagt wurde. Das meiste davon war furchtbar daneben, viel schlimmer als viele Mainstream-Erklärungen. Ihre Vorhersagekraft war gleich null.
Damit will ich die westliche Linke nicht des Ethnozentrismus bezichtigen, sondern auf ihre begrenzte Perspektive hinweisen. Überwältigt vom Nebel des Krieges und der psychischen Belastung kann ich keine bessere Perspektive bieten. Ich möchte nur dazu aufrufen, die Situation theoretisch zu erfassen und dabei Erkenntnisse aus unserer Ecke der Welt mit einzubeziehen. Das Klagen über die USA ist für uns nicht in dem Maße hilfreich, wie ihr meint, dass es hilfreich ist. Wir müssen uns auch bemühen, aus den Trümmern des östlichen Marxismus und der Kolonisierung durch den westlichen Marxismus herauszukommen. Auf diesem Weg machen wir Fehler, und ihr könnt uns Nationalismus, Idealismus und Provinzialismus vorwerfen. Lernt aus diesen Fehlern: jetzt seid auch ihr viel provinzieller und ihr seid der Versuchung ausgesetzt, in einen simplen Manichäismus zu verfallen.
Ihr steht vor der Herausforderung, auf einen Krieg zu reagieren, der nicht von euren Ländern geführt wird. Angesichts all der theoretischen Unwegsamkeiten, auf die ich oben hingewiesen habe, gibt es keine einfache Möglichkeit, eine Antikriegsbotschaft zu formulieren. Eines ist jedoch schmerzlich klar: Ihr könnt dazu beitragen, die Folgen des Krieges zu bewältigen, indem ihr den Geflüchteten aus der Ukraine helft, egal welche Hautfarbe oder welchen Pass sie haben. Ihr könnt auch Druck auf eure Regierung ausüben, damit sie der Ukraine die Auslandsschulden erlässt und humanitäre Hilfe leistet.
Lasst nicht zu, dass halbgare politische Positionen eine Analyse der Situation ersetzen. Die Aufforderung, dass der Hauptfeind in eurem Land steht, sollte nicht zu einer fehlerhaften Analyse des zwischenimperialistischen Kampfes führen. Zum jetzigen Zeitpunkt werden Appelle, die NATO aufzulösen oder im Gegenteil jeden dort zu akzeptieren, denjenigen nicht helfen, die unter den Bomben in der Ukraine, in den Gefängnissen in Russland oder Belarus leiden. Slogans sind schädlich wie eh und je. Wer die Ukrainer*innen oder die Russ*innen als Faschist*innen abstempelt, ist Teil des Problems, nicht Teil der Lösung. Um Russland herum entsteht eine neue autonome Realität, eine Realität der Zerstörung und harten Repressionen, eine Realität, in der ein Atomkonflikt nicht mehr undenkbar ist. Viele von uns haben die Tendenzen, die zu dieser Realität führen, übersehen. Im Nebel des Krieges können wir die Konturen des Neuen nicht klar erkennen. Wie es scheint, auch die amerikanischen und europäischen Regierungen nicht.
In dieser Realität werden wir, die post-sowjetische Linke, unvergleichlich weniger organisatorische, theoretische und einfach lebenswichtige Ressourcen haben. Ohne euch werden wir ums Überleben kämpfen. Ohne uns werdet ihr dem Abgrund näher sein.