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Die Invasion der Ukraine: Anarchistische Interventionen und geopolitische Veränderungen [Peter Gelderloos]

Der derzeitige Krieg in der Ukraine ist nicht nur für diejenigen unter uns schwer zu ertragen, die Freund*innen und Genoss*innen haben, die dort drüben kämpfen oder überleben, oder die bereits geflohen sind und sich nun obdachlos wiederfinden, viele von ihnen zum zweiten Mal, wie im Fall der vielen Geflüchteten, die dort in den letzten Jahren Zuflucht gefunden haben.

Ursprünglich veröffentlicht von Its Going Down. Geschrieben von Peter Gelderloos. Übersetzt von Riot Turtle.

Es ist auch schwierig zu wissen, wie wir uns positionieren sollen, wenn mensch bedenkt, dass dies überwiegend ein Konflikt mit nur zwei Seiten zu sein scheint, und beide Seiten – die NATO und Russland – systematisch an Folter, Mord, Unterdrückung, Ausbeutung, Rassismus und Umweltzerstörung im eigenen Land und in der ganzen Welt beteiligt sind.

Aber wenn wir als Anarchist*innen die Welt um uns herum betrachten, müssen wir uns der Kampagnen von Staaten und der Strukturen des Kapitalismus bewusst sein, aber in unserer Analyse auch immer Raum für die Bedürfnisse und Aktionen von Menschen außerhalb und gegen diese Kräfte schaffen.

Anarchistische Interventionen

Wie so oft konzentrieren sich viele Anarchist*innen in der Ukraine und den umliegenden Ländern darauf, Verletzte und Menschen, die obdachlos geworden sind, sowie die eine Million kriegsbedingt geflüchteten Menschen zu unterstützen, indem sie Ressourcen aufbauen und sie auf eine empowernde Weise teilen.

Viele Anarchist*innen entscheiden sich auch dafür, gegen die russische Invasion zu kämpfen, auch wenn dies ein gewisses Maß an Zusammenarbeit mit den ukrainischen Regierungstruppen erfordert. Es ist jedoch bezeichnend, dass viele der Kämpfer*innen Russen sind, die bereits aus ihrem Land geflohen sind, als Putins Regime immer totalitärer wurde.

Revolutionäre Erfahrungen von der Makhnovschina und der mexikanischen Revolution vor hundert Jahren bis zum heutigen Kurdistan haben uns gezeigt, dass Staaten uns in ihren Konflikten kein Terrain überlassen. Es liegt in ihrem Interesse, dass ihre Konflikte immer zwischen leicht unterschiedlichen Versionen des Staates ausgetragen werden. Da es schon lange kein großes Territorium der totalen Staatenlosigkeit mehr zu verteidigen gibt, bedeutet eine anarchistische Positionierung, dass wir uns unseren eigenen Raum schaffen und an der Seite staatlicher Kräfte kämpfen, die bereit sind, uns ein Bündnis gegen andere staatliche Kräfte anzubieten, die uns im Handumdrehen vernichten würden. Die historische Lektion scheint zu sein, dass wir in solchen Situationen so viel Autonomie wie möglich bewahren müssen, ständig über einen revolutionären, transformativen Horizont nachdenken müssen und kein naives Vertrauen in die Anstandsmoral der staatlichen Verbündeten setzen dürfen. Wir lernen auch, dass Revolutionen, die den Erfordernissen der reinen Kriegsführung untergeordnet werden, verkümmern und sterben, aber manchmal müssen die Menschen, um zu überleben, Krieg führen und sich wehren. Im Spanischen Bürgerkrieg sprachen sich sogar hartgesottene Individualist*innen dafür aus, sich mit den Unzulänglichkeiten der Situation zu befassen, anstatt wegzulaufen, um ihre Blase der Reinheit zu bewahren.

Tweet Übersetzung: „Ein schöner Werkzeugkasten für Solidarität mit der Ukraine, mit 18 gegenseitigen Hilfsaktionen und anarchistischen Projekten, für die mensch spenden kann, sowie musikalischen und kulturellen Veranstaltungen. „Unsere Welt dreht sich nicht wegen Königen oder Faschisten; wir kämpfen füreinander!“ https://express.adobe.com/page/55i83AhF95E0b/ #SolidarityIsOurBestWeapon“

Das kann eine harte Lektion sein, denn in allen anderen Momenten hat sich unsere Position, keine Bündnisse mit politischen Parteien oder anderen Regierungsstrukturen einzugehen, als richtig erwiesen. Soweit ich weiß, hat sich der falsche Pragmatismus, der solche Bündnisse rechtfertigt – wenn dieses neue Gesetz in Kraft ist, wenn diese neue Regierung an der Macht ist, werden unsere revolutionären Bewegungen stärker sein – nie bestätigt.

Aber wir haben auch gesehen, dass wir, wenn ein großer sozialer Konflikt ausbricht, eine radikale Position in diesem Konflikt finden müssen, auch und gerade dann, wenn der Mainstream dieses Konflikts keinen Raum für anarchistische Positionen lässt. Zu Hause zu bleiben, wie es sich für Anarchist*innen gehört, erleichtert es fast immer den Zentrist*innen oder der extremen Rechten, solche Konflikte zu übernehmen.

Krieg ist die Gesundheit des Staates und Krieg ist der Ort, an dem Revolutionen sterben, aber ihn zu ignorieren ist keine Option, da er unser individuelles und kollektives Überleben bedroht, soziale Bewegungen zerstört und kommunale Infrastruktur zerstört. In Kriegssituationen haben Anarchist*innen keine einfachen Antworten; wir müssen die widersprüchlichen Bedürfnisse des kurzfristigen Überlebens und eines revolutionären Horizonts ausbalancieren, die widersprüchlichen Lehren, in einem Konflikt immer Raum für anarchistische Positionen zu schaffen, den Staaten niemals zu vertrauen und nicht aus einer Position der Reinheit und Isolation heraus handeln zu können.

Ich würde eine weitere Lektion vorschlagen. Wir haben die Schwächen der anarchistischen Bewegungen im 20. Jahrhundert nicht ausreichend analysiert. Es war wichtig, unserer Toten zu gedenken, aber oft hat das zu einer Romantisierung eines kollektiven Todeswunsches geführt. Wir müssen anerkennen, wie der Tod unserer Kollektive zu einer schwerwiegenden Unterbrechung der Kontinuität unseres Kampfes geführt hat. Der daraus resultierende Verlust der Erinnerung und der Verlust der generationsübergreifenden Zusammenarbeit hat uns zurückgeworfen. Die Lehre daraus ist, dass wir dem Überleben wirklich mehr Bedeutung beimessen müssen.

Gewinner*innen und Verlierer*innen

Diejenigen, die in jedem Krieg am meisten verlieren, sind die Menschen und das Land, und diejenigen, die auf die eine oder andere Weise unterdrückt werden, sind der entfesselten Gewalt am stärksten ausgesetzt. Unabhängig davon, wer gewinnt oder verliert, sollte der Mut, sich zur Verteidigung des Kollektivs zu wehren, gefeiert werden, nicht aber der Krieg selbst.

Im Gegenteil, wir sollten den Krieg und seine Anstifter*innen verurteilen, aber auch versuchen, die Besonderheiten eines jeden Krieges zu verstehen. Wie wird sich der Ausgang dieses Konflikts auf die aktuelle Geopolitik auswirken und die kommenden Kriege – sowohl die kalten als auch die heißen – prägen?

Ich denke, unabhängig davon, ob eine westlich orientierte, demokratische Regierung in der Ukraine diesen Krieg überlebt oder nicht, können wir schon jetzt mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass unter den Staaten die Vereinigten Staaten und Russland die Verlierer sein werden und die Gewinner China, Indien, Saudi-Arabien und andere Staaten der mittleren Kategorie sein werden. Und unter den Kapitalist*innen können wir, abgesehen von der offensichtlichen Beobachtung, dass Rüstungsunternehmen einen Reibach machen werden, Energiekonzerne – sowohl fossile als auch erneuerbare – als die großen Gewinner ausmachen.

Wenn es Russland nicht gelingt, die ukrainische Regierung zu stürzen, wird es jeden Rest seines Glanzes als Supermacht und fast alle seine regionalen Einflussmöglichkeiten verlieren. Wenn es Russland jedoch gelingt, Odessa und damit die gesamte ukrainische Küste einzunehmen, wird es einen bedeutenden Trostpreis gewonnen haben. Aber selbst wenn Russland in der Ukraine gewinnt, wird es die Expansion der NATO entlang seiner Grenzen beschleunigen und sich von den meisten anderen Staaten und internationalen Organisationen isolieren. Es wird auch den Niedergang seines wichtigsten wirtschaftlichen Hebels auf der Weltbühne beschleunigen, nämlich die Produktion fossiler Brennstoffe, die nach der der USA die zweitgrößte ist, aber einen viel größeren Anteil an seinem BIP ausmacht (über 50 %, was bedeutet, dass Russland ohne Brennstoffexporte keine Wirtschaft hat).

Die von westlichen Institutionen verhängten Wirtschaftssanktionen werden die russische Regierung nicht in die Knie zwingen. Wie hier ausführlich dargelegt, haben sie dieses Ziel im Iran nicht erreicht, und Russland ist gegen solche Sanktionen viel besser abgeschirmt. Aber sie dienen dazu, Russlands mögliche globale Allianzen und seinen wirtschaftlichen Einfluss einzuschränken, und sie könnten sogar einen Teil der russischen Kapitalist*innenklasse ermutigen, sich eine Regierung ohne Putin vorzustellen.

Die Annullierung der Nord-Stream-2-Pipeline, die mehr russisches Gas nach Deutschland und auf den europäischen Markt bringen sollte, ist ein weitaus größerer Verlust, als eine befreundete Regierung in der Ukraine je wieder gutmachen könnte. Ich kann nur vermuten, dass Putin diese Fehlkalkulation gemacht hat, weil er sich durch den jüngsten Aufstand in Kasachstan, einem anderen Land, das Moskau als seinen Hinterhof betrachtet, erschreckt hat. Als Staatsmann und noch dazu einer mit Geheimdiensthintergrund neigt Putin zu der paranoiden und unrealistischen Ansicht, unter der alle Staatsoberhäupter*innen leiden, nämlich dass die Menschen nicht klug genug sind, um sich aus eigener Kraft zu erheben, und dies immer nur als Marionetten tun. Wahrscheinlich hat er den Aufstand in Kasachstan als westliche Einmischung missverstanden, als einen Schritt zur endgültigen Zerschlagung des Russischen Reiches, das von den Zaren in jahrhundertelanger blutiger Kriegsführung gegen Hunderte von indigenen Völkern geschaffen, von den Staatskapitalist*innen der Sowjetunion ausgebaut und von Putin, der ein ausgesprochener Revanchist ist, in abgeschwächter Form übernommen wurde.

Der Grund, warum die US-Regierung ein Verlierer sein wird, ist subtiler, aber äußerst wichtig. Schauen wir uns zunächst einmal an, was die USA gewonnen haben. Die USA haben sich in einem Konflikt mit relativ geringem direktem Risiko positioniert, in dem sie so gut wie garantiert die Rolle des Guten spielen werden. Darüber hinaus handelt es sich um einen Konflikt, der die europäische Einheit drastisch stärkt, den Euro-Nationalismus wiederbelebt und Deutschland und Frankreich von ihrer aufkeimenden Freundschaft mit Russland abbringt. Das kann aus Sicht der NATO nur gut sein. Darüber hinaus haben die USA ihre Glaubwürdigkeit gestärkt, die nach den Jahren von Bush und Trump stark gelitten hat.

Eine Woche vor der Invasion war ich mir sicher, dass Russland die Ukraine nicht angreifen würde, und zwar fast ausschließlich deshalb, weil die US-Regierung dies behauptete. Die täglichen Berichte, in denen anonyme Geheimdienstmitarbeiter*innen zitiert wurden, schienen aus dem Drehbuch zu stammen, das zur Vorbereitung der Invasion im Irak 2003 verwendet wurde. Es stellte sich jedoch heraus, dass die US-Regierung mehrere Drehbücher hat, und dieses Mal sagten sie die Wahrheit. In einer weniger typischen Form der Informationskriegsführung scheint die US-Regierung genaue Geheimdienstinformationen zu verbreiten, die aus der Kommunikation der höchsten Ebene der russischen Regierung stammen, um Moskau mit ihrem Wissen zu verschrecken.

Diese fehlerhafte Vorhersage war ein großer Fehler meinerseits, weil sie einen Rückfall in eine liberale Regierungskritik darstellte. Als Anarchist*innen lehnen wir Regierungen nicht ab, weil sie lügen, sondern weil ihre bloße Existenz ein Angriff auf uns alle ist, und ob sie nun lügen oder die Wahrheit sagen, es basiert auf einer Berechnung ihrer Interessen, die Macht über alle anderen zu erhalten.

Für den Moment sind die USA also das Aushängeschild für Ehrlichkeit, Anstand und Frieden – eine gewaltige Veränderung gegenüber ihren medialen Image seit dem Ende der Clinton-Zeit.

Der neue Glanz auf der stark angeschlagenen Marke der US-Regierung kann jedoch nichts an dem geopolitisch wichtigsten Ergebnis dieses Krieges ändern. Und das ist die Beschleunigung des Entstehens einer multipolaren Welt, in der kein Staat die Hegemonie ausübt. Da sie weiterhin Zugang zu russischer Energie brauchen und für diese Transaktionen bezahlen müssen und sich ihrer eigenen potenziellen Anfälligkeit für Sanktionen bewusst sind, entwickeln Länder wie China und Indien rasch Alternativen zum europäischen SWIFT-System für Banktransaktionen und Alternativen zu Aktien- und Rohstoffmärkten, die auf den Dollar als gemeinsame Währung setzen.

Selbst wenn Russland diesen Krieg verliert oder zu einem totalen Paria wird, verlieren die USA rapide ihren Platz als Weltsupermacht. Das liegt zum großen Teil daran, dass die Hegemonie der USA nie in erster Linie auf ihrer militärischen Macht beruhte, obwohl diese ein notwendiger Bestandteil war. Aber die rohe militärische Macht der USA reichte immer nur aus, um verbündete/besetzte Regierungen in Westeuropa und Lateinamerika beizubehalten. Washingtons Machtprojektion war überall sonst in der Welt nur ein Tropfen auf den heißen Stein, wie sich in China, Korea, Vietnam, Simbabwe, Afghanistan usw. gezeigt hat.

Es ist die Tatsache, dass fast alle wirtschaftlichen Aktivitäten in der Welt, selbst in so genannten sozialistischen Ländern, direkt oder indirekt von ihrer Währung und ihren Finanzinstitutionen abhängen, die die USA zum mächtigsten Land der Welt gemacht haben. Und diese Realität neigt sich dem Ende zu. Wie ich in „Diagnostic of the Future“ dargelegt habe, war das Ende bereits in Sicht, aber all die Sanktionen im Zusammenhang mit dem laufenden Krieg beschleunigen die Dinge, anstatt sie zu verlangsamen. Die USA setzen ihre stärksten Wirtschaftswaffen zu einer Zeit ein, in der sie sich in einem Zustand diplomatischer Spannungen mit vielen der mittleren Mächte der Welt befinden, was diese Regierungen dazu veranlasst, wirksame Verteidigungsmaßnahmen zu ergreifen, selbst wenn sich der Großteil der weltweiten wirtschaftlichen Aktivitäten aus der NAFTA und der EU verlagert.

Was die kapitalistischen Gewinner*innen betrifft, so erinnert uns dieser Krieg auf tragische Weise daran, dass erneuerbare Energien und fossile Brennstoffe keineswegs im Widerspruch zueinander stehen; im Gegenteil, sie haben sich immer parallel entwickelt, und was für den einen gut ist, ist in der Regel auch für den anderen gut.

So wird Europa gezwungen zu erkennen, wie gefährlich seine hohe Abhängigkeit von russischem Gas ist. Gut die Hälfte des europäischen Gases kommt aus Russland, und zwischen einem Fünftel und einem Viertel der gesamten Stromerzeugung in Europa wird mit Gas erzeugt, wobei viele Haushalte auch mit Gas heizen und ihre Herde damit versorgen.

Die europäischen Regierungen reagierten darauf mit einer beschleunigten Umstellung auf erneuerbare Energien und einer 40-prozentigen Reduzierung des Verbrauchs fossiler Brennstoffe bis 2030, während sie gleichzeitig ihre Gasimporte erhöhten, um sie vor dem nächsten Winter zu lagern, und auf neue Pipelines drängten, um Gas von außerhalb Russlands nach Europa zu bringen. Diese neuen Pipelines würden wahrscheinlich nordafrikanisches Gas durch Spanien leiten. Übrigens ist das russische Militär über die Wagner-Gruppe in mehrere blutige Kriege in Nordafrika verwickelt, ebenso wie Frankreich, einer der langjährigen Kolonisatoren der Region.

Und obwohl die USA nach wie vor der größte Ölproduzent der Welt sind und nicht von der russischen Produktion abhängig sind, sind sie von einer Weltwirtschaft abhängig, die auf billigen Brennstoff angewiesen ist und durch einen plötzlichen Preisanstieg ins Wanken gebracht werden kann. Es bleibt abzuwarten, ob der Krieg in der Ukraine angesichts der politischen und infrastrukturellen Rückständigkeit der USA die Förderung erneuerbarer Energien verstärken wird, aber wir haben bereits gesehen, wie Washington Lobbyarbeit bei der OPEC betreibt, um die Ölproduktion zu erhöhen.

Grenzen und Geflüchtete

Einer der wichtigsten Bereiche für anarchistische Aktionen – und ein Ort, an dem von Anfang an sehr viel organisiert wurde – ist das Problem in Bezug auf Grenzen und Geflüchtete. Die russische Invasion hat in nur einer Woche eine Million Geflüchtete hervorgebracht, und diese Zahl wächst weiter. Das sind Menschen, die Zugang zu Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Ressourcen oder Arbeitsplätzen sowie Zuneigung und Unterstützung brauchen. Das ist etwas, bei dem Anarchist*innen keine Zeit verschwendet haben, um bei der Organisierung von Polen bis Spanien zu unterstützen.

Wir haben uns auch der Wut über die heuchlerische weiße Vorherrschaft angeschlossen, die die Aufnahme weißer ukrainischer Geflüchteter im Vergleich zu Geflüchteten aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und Nordafrika sowie zu Geflüchteten mit anderer Hautfarbe kennzeichnet.

Wir können diese Wut vielleicht auf eine effektivere Weise fokussieren. Wir können deutlich machen, dass Mainstream-Medien und politische Parteien, die sich selbst als fortschrittlich verkaufen, auch für die Verstärkung der kolonialen Dynamik im Herzen des Kapitalismus verantwortlich sind, und wir können NGOs und andere Institutionen, die sich selbst als Teil der Linken betrachten, dazu drängen, ihre rassistische Doppelmoral zu beenden und mehr Ressourcen für die anhaltenden Geflüchteten Krisen in anderen Teilen der Welt bereitzustellen. Anarchistische Projekte, die Sicherheit, Autonomie und Wohnraum für und von Migrant*innen schaffen, werden weiterhin von Griechenland bis zu den Niederlanden aktiv sein. Aber wenn wir eingreifen können, um Linke, die Zugang zu weit mehr Ressourcen haben, dazu zu bringen, diese gleichmäßig zu teilen, und nicht nur mit weißen Geflüchteten, dann wird das einen großen Unterschied in vielen Leben machen und sowohl die Art und Weise einschränken, wie die Rechte und die Mitte den Nationalismus in dem gegenwärtigen Konflikt fördern und Fremdenfeindlichkeit als Reaktion auf Geflüchtete aufgrund ihrer Hautfarbe einsetzen.

Was wir in der jetzigen Situation auch tun können, ist, uns wieder bewusst zu machen, wie wichtig direkte Beziehungen für die internationale Solidarität im Sinne des Anarchismus sind. In Echtzeit haben Anarchist*innen zumindest in einigen Gebieten genauso für Kurdistan, Hongkong, Chile, Chiapas oder Oaxaca mobilisiert wie für die Ukraine, auch wenn die Medien über viele der früheren Kriege und repressiven Niederschlagungen weitgehend geschwiegen haben. Der Enthusiasmus unserer Mobilisierung ist glücklicherweise nicht auf eine rassistische Doppelmoral zurückzuführen, sondern auf die globalen Beziehungen, die eine radikale Szene unterhält, was größtenteils auf globale Migrationsmuster und Solidaritätsreisen zurückzuführen ist, die zu persönlichen Beziehungen führen, die sich über Grenzen hinweg ausbreiten.

Wir müssen unsere internationalen Beziehungen strategischer aufbauen und bündeln, um den Informationsfluss und die Unterstützung in anderen Regionen der Welt, die von Kriegen oder repressiven Maßnahmen betroffen sind, zu verbessern. Zum Beispiel sind Solidarität und sogar verlässliche Informationen über die laufenden Kriege im Sudan und in Äthiopien weit weniger verbreitet.

Weitere Informationen zur internationalen Solidarität findet ihr hier (Englisch): https://roarmag.org/essays/international-solidarity-gelderloos/ und https://chileboliviawalmapu.wordpress.com/2013/06/10/the-intensification-of-independence-in-wallmapu/

Tankies werden tanken [1]

Leider müssen wir uns mit den schrecklichen Äußerungen der autoritären Linken befassen, die wie schon 1956 und 1968 die von Moskau entsandten Panzer bejubelt haben. Der einzige Grund, warum sie immer noch relevant sind, ist, dass sie einen simplen, manichäischen Rahmen bieten, der mit der staatsorientierten Politik höchst kompatibel ist. Kompatibel in dem Sinne, dass sie überhaupt nicht subversiv sind.

Beginnen wir also mit einigen Fakten, über die wir diskutieren können sollten, ohne in eine verblödende, dualistische Weltsicht zu verfallen. Aus Sicht der Regierung in Moskau ist ihr Einmarsch in die Ukraine tatsächlich ein Akt der Selbstverteidigung. Seit den 90er Jahren ist Russland zunehmend von NATO-Stützpunkten umgeben, wobei die NATO ein Militärbündnis ist, das eigens gegründet wurde, um sich der russischen Macht entgegenzustellen. Im Jahr 2014 wurde in der Ukraine eine prorussische Regierung durch eine Volksbewegung von der Macht verdrängt und durch eine prowestliche Regierung ersetzt, und erst vor wenigen Monaten hätte ein weiterer Volksaufstand in Kasachstan, einem der wenigen Länder, die sich noch mehr oder weniger in Russlands Orbit befinden, beinahe dasselbe bewirkt.

Als Regierung glaubt mensch nicht an die Legitimität von Massenbewegungen. Sie sind entweder ein fader Beigeschmack bei Wahlen oder irrelevante und lästige Ausdrucksformen, die außerhalb der Regierungskanäle stehen. In einer Demokratie sind sie nur Dekoration, die beweist, dass die Bürger*innen frei sind, solange sie nicht versuchen, tatsächlich etwas zu tun, und in einer Nicht-Demokratie sind sie eine kleine Form des Verrats. Wenn Proteste die Grenze zur direkten Aktion überschreiten, werden sie zu kriminellen Handlungen, die unterdrückt werden müssen. In diesen Fällen handelt es sich wahrscheinlich um Akte hybrider Kriegsführung, die von Ihren Feinden inszeniert werden, denn als Regierung beruht Ihre Existenz auf der Überzeugung, dass Menschen nicht in der Lage sind, sich selbst zu organisieren.

Einige der Informationen, auf die sich Russland stützt, sind Tatsachen (NATO-Stützpunkte), andere sind Paranoia (ausländische Mächte, die für alle Protestbewegungen seit 2011 verantwortlich sind), aber die russische Regierung handelt in dem Sinne, aus Gründen der Selbstverteidigung.

Was die Kalten Krieger*innen und Stalinist*innen jedoch nicht verstehen, ist, dass mensch genau die gleichen Ergebnisse erhält, wenn man die Perspektive jedes anderen Staates bevorzugt. Alle Staaten handeln nach ihrem Eigeninteresse. Auch die ukrainische Regierung handelt eindeutig in Selbstverteidigung, wenn sie versucht, sich dem Westen anzunähern, denn unbestreitbar stellt die russische Macht von Afghanistan bis Tschetschenien eine Bedrohung für ihre Nachbarstaaten dar. Aus denselben Gründen handelten Polen, Litauen und alle anderen Länder in Selbstverteidigung, als sie um den Beitritt zur NATO gebeten haben. Auch die USA handeln in Selbstverteidigung, wenn sie versuchen, Putin loszuwerden, denn Putin ist den USA feindlich gesinnt und verfügt über ein Atomwaffenarsenal, mit dem er die USA von der Landkarte fegen könnte.

Das ist eines der Probleme mit Staaten. Sie führen unweigerlich zu Kriegen und Konflikten, weil sich ihre Eigeninteressen mit denen anderer Staaten gegenseitig ausschließen. Sie denken, dass sie sich selbst verteidigen, aber in Wirklichkeit sind sie alle in eine Dynamik verwickelt, die sie dazu zwingt, entweder zu versuchen, die Welt zu erobern, sich einem anderen Staat unterzuordnen, der eine bessere Chance hat, die Welt zu erobern, oder sie gehen unter. Deshalb scheren wir uns einen Dreck um die Eigeninteressen der Staaten und versuchen stattdessen, sie alle zu zerstören. Institutionen sollten kein Recht auf Überleben haben, das die Überlebensbedürfnisse der Menschen und des Planeten übersteigt (und mit Füßen tritt).

So schwenken die Stalinist*innen die Fahne der legitimen Interessen Russlands und ignorieren die Interessen anderer Staaten. Sie sprechen über den US-Imperialismus, ignorieren aber den russischen Imperialismus. Tatsächlich kommen Stalinist*innen und die extreme Rechte oft zu einer ähnlichen Analyse, denn der Stalinismus ist eine rechte Ideologie. Stalin hat die Expansion der Sowjetunion ausdrücklich mit dem russischen Imperium verbunden. Die Rede vom „Vaterland“ war in Russland nach dem Zweiten Weltkrieg genauso verbreitet (und ist es heute wieder) wie in Deutschland in den 30er Jahren. Unter den Zaren, unter der Sowjetunion und unter Putin war Russland ein rassistisches Imperium, das Völkermord beging und auf dem Land Hunderter abgeschlachteter nicht-weißer und indigener Völker gegründet wurde. ( Siehe dazu auch diesen Artikel – Englisch, in der nächste Aushabe von Sunzi Binfa auch auf Deutsch zu lesen – https://thenewinquiry.com/blog/a-very-long-winter/). Auf dem weitaus größten Teil seines Territoriums kann Russland mit Fug und Recht als ein Siedlerstaat bezeichnet werden. Abgesehen von den Booten leben Weiße in Irkutsk und Wladiwostok auf die gleiche Weise wie in Des Moines und San Francisco.

Uns wird erzählt, dass Russland nicht imperialistisch ist, weil es dieses Niveau der Kapitalakkumulation noch nicht erreicht hat; die USA sind der größte Imperialist und daher der einzige Imperialist, und daher müssen wir uns auf die Seite Russlands gegen die USA stellen (die Ukraine und ihre Bewohner*innen verschwinden hier als bloße Marionetten aus der Analyse). Dieser Rahmen, der so simpel ist, dass er beleidigend wirkt, ist eine grobe Vereinfachung des Marxismus-Leninismus, der wiederum eine grobe Vereinfachung von Marx ist, und darüber hinaus basiert er auf einem der Teile des Marxismus, der falsifiziert werden kann und im Nachhinein falsch ist: Vorhersagen darüber, wie die Akkumulation des globalen Kapitals schrittweise voranschreitet und zum Weltsozialismus führen würde.

Es ist ein theoretischer Rahmen, der keine Gültigkeit hat. Er dient lediglich als eine Art Karteikartensystem, um Menschen, die nicht über die Welt, in der sie leben, nachdenken wollen, zu sagen, welche Seite sie in Konflikten unterstützen sollen, die zu komplex sind, als dass sie sich damit beschäftigen könnten. (Wissen die Leute noch, was Lernkarteikarten sind? Das ist ein Lernmittel, bei dem die Fragen auf der einen und die Antworten auf der anderen Seite stehen. Nicht-virtuelle Karten, die in drei Dimensionen existieren. Egal, vergiss es.)

Das vielleicht beste Argument gegen diese Tankie-Analyse ist, dass die Tankies sie selbst nicht anwenden, wenn es hart auf hart kommt. Als die Sowjetunion versuchte, die Kommunistische Partei Chinas während der Revolution in diesem Land zu dominieren, wies Mao den sowjetischen Imperialismus zurück und verbündete sich mit den Vereinigten Staaten. Huch! Im Kampf gegen die französische und dann US-amerikanische Besatzung Vietnams warnte Ho Chi Minh inmitten heftiger imperialer Gewalt, der Millionen Menschen zum Opfer fielen, dass der chinesische Imperialismus auf lange Sicht eine größere Gefahr für die Region darstelle als der US-Imperialismus. Ebenso handelten die vietnamesischen Kommunist*innen in kolonialer oder imperialistischer Weise, als sie die Hmong unterdrückten oder die kambodschanische Monarchie gegen die kambodschanischen Kommunist*innen unterstützten.

Also mal ehrlich, wen wollen diese Tankies eigentlich täuschen?

Mir fällt ein noch besseres Argument gegen diese autoritären Kräfte ein, die vorgeben, Sozialistinnen, Kommunistinnen oder Antiimperialist*innen zu sein, in Wirklichkeit aber nur Rechte sind, die dieselbe alte koloniale Dynamik unterstützen. Berühmte Autor*innen und Akademiker*innen, die ihre Karriere auf dem Kampf der indigenen Bewegungen gegen die Gewalt der USA und Kanadas aufbauen, tragen dazu bei, die Hunderte von indigenen und Völker unterschiedlicher Ethnien zum Schweigen zu bringen, die vom russischen Staat kontinuierlich unterdrückt werden. Autoritäre Kräfte, die behaupten, sich um die Opfer*innen der US-Kriege im Irak oder in Afghanistan zu kümmern, kümmern sich überhaupt nicht um die Menschen, die jetzt unter den russischen Bomben leiden. Die Frage, was die Menschen in der Ukraine tun sollen, nachdem sie in einen Krieg verwickelt wurden, taucht in ihrer Analyse nicht einmal auf. Nur weil Russland ein Imperialist mit etwas geringerer Reichweite als die USA ist, müssen die ukrainischen Kriegsopfer*innen aus dem Blickfeld verschwinden.

Diejenigen, die sich dieses Rahmens bedienen, verletzen die geringsten Normen der Solidarität und des Anstands, und sie werden alles sagen, um ihre vorgefertigten Meinungen zu rechtfertigen.

Im Gegensatz zu denen, die den russischen Imperialismus rechtfertigen, und zu denen, die ihn lautstark anprangern, während sie den NATO-Kriegen einen Freifahrtschein erteilen, würde ich den alten Slogan „Kein Krieg außer dem Klassenkrieg“ entstauben und ihn in „Kein Krieg außer dem Krieg gegen den Staat“ abändern, wobei ich den Staat in all seinen Dimensionen verstehe: kapitalistisch, kolonial, weißer Vorherrschaft verpflichtet, patriarchalisch und umweltzerstörerisch.

Peter Gelderloos

Fußnoten

[1] „Tankie“ ist eine abwertende Bezeichnung für Kommunist*innen, insbesondere Stalinist*innen, die die autoritären Tendenzen des Marxismus-Leninismus unterstützen. Der Begriff wurde ursprünglich von dissidenten Marxist*innen-Leninist*innen verwendet, um Mitglieder*innen der Kommunistischen Partei Großbritanniens (CPGB) zu bezeichnen, die der Parteilinie der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) folgten. Insbesondere wurden damit Parteimitglieder*innen bezeichnet, die den sowjetischen Einsatz von Panzern zur Niederschlagung der ungarischen Revolution von 1956 und später des Aufstands des Prager Frühlings von 1968 befürworteten, oder ganz allgemein diejenigen, die pro-sowjetische Positionen vertraten. https://en.wikipedia.org/wiki/Tankie


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