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Leben in einer monarchistischen Quasi-Republik: Ein Interview mit einem Anarchisten aus Gorlovka [Donezk]

Bis heute hat die anarchistische Mediengruppe assembly.org.ua aus dem Frontgebiet von Charkiw über den Krieg in der Ukraine aus den von der Regierung kontrollierten Gebieten berichtet. Werfen wir nun einen Blick auf das, was die ganze Zeit auf der gegenüberliegenden Seite der Front passiert ist, z.B. in einer der größten Städte des Donbass, die seit dem Frühjahr 2014 von den russischen rechtsextremen Vertreter*innen der sogenannten „Donezker Volksrepublik“ kontrolliert wird. Ein Mitarbeiter*in eines der städtischen Unternehmen namens Maxim hat uns gestern davon berichtet. Wenn ihr uns bei der Wiederherstellung des sozialen Gefüges unterstützen wollt, einschließlich der Organisation und Begleitung von kollektiven Wiederaufbauarbeiten, besucht bitte diese Seite. Das Foto mit dem umdekorierten Symbol des Putler-Militarismus stammt von den sibirischen Genoss*innen.

Ursprünglich veröffentlicht von Libcom. Übersetzt von Riot Turtle.

Assembly: Kannst du uns sagen, was in deiner Stadt seit Mitte Februar im Allgemeinen passiert ist? Geht der gleiche Stellungskrieg weiter wie in den letzten 8 Jahren, oder gibt es wesentliche Veränderungen?

Vor der Anerkennung der „Unabhängigkeit“ der DVR durch Putin war es in meiner Stadt recht ruhig. Nach der Anerkennung hatten viele Einwohner*innen die Hoffnung, dass die Russische Föderation „peacekeeping“ Truppen in das Gebiet der „Republiken“ verlegen und der Krieg aufhören würde. Stattdessen wurden die Einwohner*innen von Gorlovka zwangseingezogen, was dazu führte, dass ein großer Teil der männlichen Bevölkerung von Gorlovka in den Reihen der „Volksmiliz der DVR“ landete. Die Versorgungsunternehmen haben mindestens 50 % aller Männer für den Militärdienst abgestellt, einige sogar 100 %. Infolgedessen gibt es einfach niemanden, der die Infrastruktur reparieren kann. Die Mitarbeiter*innen des städtischen Wasserversorgungsunternehmens erklärten am 13. März: „Es gibt nur noch ein paar Tage Wasser in der Stadt, danach sitzen wir alle in der Scheiße.“

Generell ist die Atmosphäre der Angst in der Stadt viel stärker als in 2014. Aber es gibt immer noch genügend Lebensmittel und andere Waren in den Regalen.

Was die militärischen Operationen im Gebiet von Gorlovka betrifft, so gibt es keine Veränderungen an der Frontlinie, und es scheint mir, dass es in absehbarer Zeit auch keine geben wird. Allerdings hat die Artillerie begonnen, ihre Einsätze zu intensivieren.

Assembly: Hat sich das auf dich und dein Umfeld in irgendeiner Weise ausgewirkt? Sowohl in Bezug auf den Beschuss als auch auf die Mobilmachung.

Mein Vater und ich bleiben fast immer zu Hause, um keine Einberufung auf der Straße zu bekommen. Unsere weiblichen Verwandten sind natürlich sehr besorgt über diesen ganzen Schlachthof.

Was den Beschuss angeht, so leben ich und meine direkte Umgebung im Bezirk Mitte, der (im Vergleich zu anderen Gebieten meiner Stadt) während des gesamten Krieges kaum unter den Folgen des Beschusses zu leiden hatte. Aber die Außenbezirke der Stadt und ihre Bewohner*innen hatten es immer viel schwerer. Ich hatte also noch Glück, denn meine Situation ist viel besser als die von vielen andere Bewohner*innen von Gorlovka.

Assembly: In den letzten Monaten war in den sozialen Netzwerken oft zu lesen, dass die Weißgardist*innen jeden, den sie erreichen können, im Freien einsammeln und sie dann zwingen, wie Kannonenfutter vor der regulären Putler-Armee in die Offensive zu gehen (so wie die deutsche Armee, die im Frühjahr 1918 durch die Ukraine vorrückte, manchmal Haidamaks [1] einsetzte). Dafür gibt es aber keine Foto- oder Videobeweise. Inwieweit sollten wir diesen Gerüchten Glauben schenken, weißt du etwas darüber?

Einberufungen werden wirklich direkt auf der Straße überreicht, es kam auch vor, dass Menschen in ganzen Gruppen in Autos gesetzt und zum Rekrutierungsbüro gebracht wurden. Ich kenne Fälle, in denen Leute mit einem „weißen Schein“ eingezogen wurden. Es gibt allerdings eine Möglichkeit, sich dem Dienst auf legale Weise zu entziehen: Wenn eine Person im Militärbüro landet, muss sie eine umfassende medizinische Untersuchung für sich selbst verlangen. Sie dauert mehrere Tage, und wenn sich herausstellt, dass er ernsthafte gesundheitliche Probleme hat, wird er entlassen. Mein Nachbar, der früher an einer Krebserkrankung litt, konnte so die Einberufung vermeiden. Ich denke, selbst wenn keine gesundheitlichen Probleme vorliegen, wird die Untersuchung einen Aufschub von ein paar Tagen bringen, den man nutzen kann, um sich an einem sicheren Ort zu verstecken.

Diejenigen, die eingezogen wurden, hatten ein unterschiedliches Schicksal; einige wurden an die Front geschickt, andere dienten in der hinteren Reihe. Ich kenne auch den Fall, dass die Einberufenen in die Regionen Charkiw und Cherson geschickt wurden, um dort die eroberten Gebiete zu bewachen. Einer dieser Unglücklichen dient jetzt irgendwo in der Region Cherson, auf einem „Rangierbahnhof“. Er belädt Lastwagen mit den Leichen toter russischer Soldat*innen und bringt sie anschließend auf die Krim. Er selbst sagte: „Ich hätte lieber fünf Jahre im Gefängnis verbracht, als diesen ganzen Horror zu sehen.“

Unter den Einberufenen gibt es bereits Tote und Verletzte, und zwar in großer Zahl. Es ist auch bekannt, dass die Eingezogenen von den Ukrainer*innen gefangen genommen wurden. Diejenigen Einberufenen, die sich weigern, an die Front zu gehen, werden mit strafrechtlicher Verfolgung und Gefängnis bedroht.

Assembly: Wenn diejenigen, die die Möglichkeit haben, sich zu entziehen, immer noch zur Schlachtbank marschieren, bedeutet das, dass der Kampfgeist der Massen immer noch hoch ist, oder haben sie nur Angst vor einer Bestrafung, wenn sie sich entziehen würden?

Als die Mobilmachung gerade begonnen hatte, wurde den Menschen versprochen, dass sie nur einige Tage in der Kaserne bleiben und dann nach Hause geschickt werden würden. Deshalb kamen viele Menschen zu den Rekrutierungsbüros. Außerdem fürchtete man sich vor möglichen Problemen bei der Arbeit, wenn man wegen der Mobilmachung dem Dienst fernblieb. Und so roch es hier nicht nach großem Kampfgeist, und es hat auch nie danach gerochen. Die glühenden Patriot*innen der „DVR“, die ich kenne, haben keine Lust, der „Volksmiliz“ beizutreten und am Krieg teilzunehmen.

Assembly: Es herrscht die Meinung, dass das soziale Klima im Donbass von paternalistischen Rentner*innen bestimmt wird. Dabei sollten die Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Bergbausiedlungen viel stärkere Gemeinschaftsbande bilden als beispielsweise im Handels- und Dienstleistungszentrum Charkiw. Wie sieht es mit der Selbstorganisation an der Basis aus? Gibt es wenigstens eine solche humanitäre soziale Aktivität, wie wir sie hier betreiben?

Solange ich mich erinnern kann, haben sich meine Landsleute immer durch Passivität und das Verlangen nach einer „harten Hand“ ausgezeichnet. Der Höhepunkt des Klassenkampfes im Donbass waren die Bergarbeiter*innenstreiks in den 90er und frühen 2000er Jahren, aber sobald sich die ukrainische Wirtschaft stabilisierte und die Bergarbeiter*innen mehr oder weniger anständige Löhne bekamen, verschwand ihre ganze Aktivität und Bereitschaft, für ihre Rechte zu kämpfen, endgültig.

Ich würde nicht die ganze Verantwortung für das soziale Klima den paternalistischen Älteren zuschreiben. Die Jugend des Donbass ist eher verantwortlich (natürlich nicht alle, aber der größte Teil), denn sie ist absolut nicht an Klassenproblemen interessiert.

Was die jungen Leute betrifft, die sich in irgendeiner Form zu engagieren begannen, so dauerte ihr Aktivismus in den meisten Fällen nicht lange – ein oder zwei Jahre. Danach „hatten sie genug gespielt “ und wurden zu normalen Bürger*innen. Und nach der Gründung der faschistischen DVR versiegten selbst diese kaum wahrnehmbaren Ansätze von Aktivismus.

In meiner Stadt gab es in den ersten Kriegsjahren eine Gruppe unpolitischer Freiwilligerinnen, die Einwohnerinnen unterstützten, die nicht in der Lage waren, für sich selbst zu sorgen. Aber ich habe schon lange nichts mehr von diesen Freiwilligen gehört. Es gibt hier also nicht einmal annähernd eine basisorientierte Selbstorganisation.

Assembly: Und zum Schluß, erzähl ein paar Worte über deine Erfahrungen mit der Beteiligung in der anarchistischen Bewegung, und was möchtest du denjenigen sagen, die dieses Interview in anderen Teilen der Welt lesen?

Meine Beteiligung war keine große Erfahrung. Ich war Mitglied der inzwischen aufgelösten Revolutionären Konföderation der Anarcho-Syndikalist*innen, ein paar Mal nahm ich an den anarchistischen Maifeiern in Donezk teil. Habe Flugblätter mit Aufrufen an Hauswände und Laternenpfähle geklebt, die Zeitung Anarchie in Briefkästen geworfen. Nun, im Sommer 2012 hing ich im RKAS-Lager in der Region Charkiw herum.

Alles in allem habe ich nichts, womit ich mich brüsten könnte. Aber ich vermute, dass viele Anarchist*innen nicht einmal über solch bescheidene Erfahrungen verfügen. Und das ist traurig, wirklich. Ich hoffe also, dass ich falsch liege.

Und ich kann die Leser*innen dieses Interviews in anderen Teilen der Welt aufrufen… Verliert niemals den Mut, seid niemals feige, und steht immer für eure Prinzipien ein. Ich glaube nicht, dass ich das moralische Recht habe, konkrete Empfehlungen zu geben, was die Genoss*innen in anderen Territorien tun sollten. Sie sollten selbst in der Lage sein, aufgrund der Umstände zu erkennen, was zu tun ist.

Fußnoten

[1] Die Haidamakas, auch Haidamaky oder Haidamaks waren ukrainische paramilitärische Verbände, die sich aus einfachen Bürgerinnen (Bauerinnenn, Handwerker*innen) und verarmten Adligen im östlichen Teil des polnisch-litauischen Commonwealth zusammensetzten. Die Haidamaky waren eine Reaktion auf die Maßnahmen des Commonwealth, die darauf abzielten, seine Ordnungen auf dem Territorium der rechterseite der Ukraine wiederherzustellen, das nach der Ratifizierung des Vertrags über den Ewigen Frieden mit Moskau im Jahr 1710 gesichert wurde. https://en.wikipedia.org/wiki/Haydamak


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