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Ich bin ein ukrainischer Sozialist*in. Hier ist der Grund, warum ich Widerstand gegen die russische Invasion leiste [Ukraine]

Ein Beitrag über Solidarität und Widerstand in der Ukraine von Taras Bilous. Da wir uns selbst nicht als Sozialist*innen betrachten, teilen wir logischerweise nicht alle Ansichten in diesem Beitrag, aber wir denken trotzdem, dass es wichtig ist, eine weitere Stimme aus der Ukraine zu Wort kommen zu lassen.

Ursprünglich veröffentlicht von Commons. Geschrieben von Taras Bilous. Übersetzt von Riot Turtle.

Ich schreibe aus der Ukraine, wo ich bei den Territorialen Verteidigungskräften tätig bin. Vor einem Jahr hätte ich nicht erwartet, in dieser Situation zu sein. Wie Millionen von Ukrainern wurde auch mein Leben durch das Chaos des Krieges auf den Kopf gestellt.

In den letzten vier Monaten hatte ich die Gelegenheit, Menschen zu treffen, die ich unter anderen Umständen kaum kennengelernt hätte. Einige von ihnen hatten vor dem 24. Februar nie daran gedacht, zu den Waffen zu greifen, aber der russische Invasion zwang sie, alles stehen und liegen zu lassen und ihre Familien zu schützen.

Wir kritisieren das Vorgehen der ukrainischen Regierung und die Art und Weise, wie die Verteidigung organisiert ist, oft. Aber stellen die Notwendigkeit des Widerstands nicht in Frage und verstehen gut, warum und wofür wir kämpfen.

Gleichzeitig habe ich in diesen Monaten versucht, die Diskussionen der internationalen Linken über den russisch-ukrainischen Krieg zu verfolgen und mich daran zu beteiligen. Und das was ich von diesen Diskussionen spüre, ist vor allem Müdigkeit und Enttäuschung. Zu viel Zeit damit verbracht, offensichtlich falsche russische Propaganda zu widerlegen, zu viel Zeit damit, zu erklären, warum Moskau keine „legitimen Sicherheitsbedenken“ hatte, um den Krieg zu rechtfertigen, zu viel Zeit damit, die grundlegenden Prämissen des Selbstbestimmungsrechts zu behaupten, denen jede(r) Linke bereits zustimmen sollte.

Am auffälligsten an vielen dieser Debatten über den russisch-ukrainischen Krieg ist vielleicht, dass die Meinung der Ukrainer*innen ignoriert wird. Die Ukrainer*innen werden in manchen linken Diskussionen immer noch häufig entweder als passive Opfer dargestellt, mit denen man Mitleid haben sollte, oder als Nazis, die man verurteilen sollte. Die Rechtsextremen stellen jedoch eine klare Minderheit des ukrainischen Widerstands dar, während die absolute Mehrheit der Ukrainer*innen den Widerstand unterstützt und nicht nur passive Opfer sein will.

Ein zerstörten Bulli in der Region Butscha. Bild von Riot Turtle.

Verhandlungen

In den letzten Monaten wurden selbst von vielen wohlmeinenden Menschen immer lautere, aber letztendlich vage Rufe nach Verhandlungen und einer diplomatischen Beilegung des Konflikts laut. Doch was genau ist damit gemeint? Nach der Invasion fanden mehrere Monate lang Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland statt, die jedoch den Krieg nicht beendeten. Zuvor hatten die Verhandlungen über den Donbass unter französischer und deutscher Beteiligung mehr als sieben Jahre gedauert; trotz unterzeichneter Abkommen und eines Waffenstillstands wurde der Konflikt jedoch nie beigelegt. Andererseits werden in einem Krieg zwischen zwei Staaten normalerweise sogar die Kapitulationsbedingungen am Verhandlungstisch festgelegt.

Ein Aufruf zur Diplomatie an sich bedeutet nichts, wenn wir nicht auf die Verhandlungspositionen, die konkreten Zugeständnisse und die Bereitschaft der Parteien, sich an ein unterzeichnetes Abkommen zu halten, eingehen. All dies hängt unmittelbar vom Verlauf der Kampfhandlungen ab, der wiederum vom Umfang der internationalen Militärhilfe abhängt. Und diese kann den Abschluss eines gerechten Friedens beschleunigen.

Die Lage in den besetzten Gebieten der Südukraine deutet darauf hin, dass russische Truppen versuchen, dort eine dauerhafte Stellung einzunehmen, da sie Russland einen Landkorridor zur Krim bieten. Der Kreml verwendet das in diesen Gebieten geplünderte Getreide zur Unterstützung seiner Klientenregime und droht gleichzeitig der ganzen Welt mit einer Hungersnot, indem er die ukrainischen Häfen blockiert. Das am 22. Juli in Istanbul unterzeichnete Abkommen über die Freigabe der ukrainischen Getreideausfuhr wurde von Russland bereits am Tag nach der Unterzeichnung verletzt, indem es den Seehafen von Odessa mit Raketen angegriffen hat.

Unterdessen schreiben hochrangige russische Politiker*innen wie der ehemalige Präsident und derzeitige stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrates, Dmitri Medwedew, oder der Chef von Roscosmos, Dmitri Rogosin, weiterhin, dass die Ukraine zerstört werden muss. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass Russland seine territoriale Expansion stoppen wird, selbst wenn es eines Tages für den Kreml von Vorteil sein sollte, einen vorübergehenden Waffenstillstand zu unterzeichnen.

Auf der anderen Seite halten 80 Prozent der Ukrainer*innen territoriale Zugeständnisse für inakzeptabel. Für die Ukrainer*innen bedeutet die Aufgabe der besetzten Gebiete, dass sie ihre Mitbürger*innen und Verwandten verraten und die täglichen Entführungen und Folterungen durch die Besatzer*innen in Kauf nehmen müssen. Unter diesen Bedingungen wird das Parlament einer Abtretung nicht zustimmen, selbst wenn der Westen die ukrainische Regierung zwingt, Gebietsverlusten zuzustimmen. Dies würde Präsident Wolodymyr Selenskyj nur in Misskredit bringen und zur Wiederwahl noch stärker nationalistisch geprägter Autoritäten führen, während die extreme Rechte mit günstigen Bedingungen für die Rekrutierung neuer Mitglieder*innen belohnt würde.

Region Butscha. Bild von Riot Turtle.

Selenskyjs Regierung ist natürlich neoliberal. Ukrainische Linke und Gewerkschafter*innen haben sich umfassend gegen seine Sozial- und Wirtschaftspolitik organisiert. In Bezug auf Krieg und Nationalismus ist Selenskyj jedoch der moderateste Politiker*in, der in der Ukraine nach der Annexion der Krim 2014 und dem Beginn des Krieges im Donbas an die Macht kommen konnte.

Auch seine eigene Bilanz wird teilweise missverstanden. So machen viele Autor*innen Selenskyj für die nationalistische Sprachenpolitik verantwortlich, die sich auf die Beschränkung der russischen Sprache im öffentlichen Raum konzentriert und auch die Einschränkung der Vermittlung von Sprachen nationaler Minderheiten im Sekundarbereich beinhaltet. Tatsächlich wurden diese Sprachgesetze in der vorangegangenen Legislaturperiode des Parlaments verabschiedet, nur dass einzelne Bestimmungen dieser Gesetze erst nach Selenskyj Amtsantritt in Kraft traten. Seine Regierung hat wiederholt versucht, die Gesetze abzuschwächen, ist aber jedes Mal nach Protesten der Nationalist*innen wieder davon abgerückt.

Dies zeigte sich nach Beginn der Invasion in seinen häufigen Appellen an die russischen Machthaber*innen, seiner Einladung an den Kreml zu Verhandlungen und seinen Erklärungen, dass die ukrainische Armee nicht versuchen werde, die vor dem 24. Februar unter russischer Kontrolle stehenden Gebiete zurückzuerobern, sondern deren Rückgabe in Zukunft auf diplomatischem Wege anstreben werde. Würde Selenskyj durch einen nationalistischeren Politiker*in ersetzt, würde sich die Lage noch viel mehr zuspitzen.

Nur eine breite Bewegung im Inland, die sich für einen Wandel in Russland einsetzt, kann die Möglichkeit eröffnen, dass die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland in Zukunft wieder stabil werden.

Die Folgen dieses Ergebnisses brauche ich wohl kaum zu erläutern. Unsere Innenpolitik würde noch autoritärer werden, revanchistische Stimmungen würden die Oberhand gewinnen, und der Krieg würde nicht aufhören. Jede neue Regierung würde sich viel weniger zurückhalten, russisches Gebiet zu beschießen. Mit einer wiedererstarkten extremen Rechten würde unser Land immer tiefer in einen Strudel von Nationalismus und reaktionärem Gedankengut hineingezogen werden.

„Ich bin nicht deine Schönheit“. Billboard in Lviv, Mai 2022. Bild von Riot Turtle.

Als jemand, der die Schrecken dieses Krieges erlebt hat, verstehe ich den Wunsch, dass er so schnell wie möglich beendet wird. Niemand wünscht sich das Ende des Krieges sehnlicher als wir, die wir in der Ukraine leben, aber für die Ukrainer*innen ist es auch wichtig, wie genau der Krieg enden wird. Zu Beginn des Krieges hoffte auch ich, dass die russische Antikriegsbewegung den Kreml zwingen würde, seine Invasion zu beenden. Aber leider ist das nicht geschehen. Heute kann die russische Anti-Kriegs-Bewegung die Situation nur noch durch Sabotageakte gegen Eisenbahnen, Militärfabriken und so weiter im kleinen Rahmen beeinflussen. Etwas Größeres wird erst nach einer militärischen Niederlage Russlands möglich sein.

Natürlich könnte es unter bestimmten Umständen angebracht sein, einem Waffenstillstand zuzustimmen. Aber ein solcher Waffenstillstand wäre nur vorübergehend. Jeder russische Erfolg würde das Regime von Wladimir Putin und seine reaktionären Tendenzen stärken. Er würde keinen Frieden bedeuten, sondern jahrzehntelange Instabilität, Guerilla-Widerstand in den besetzten Gebieten und wiederkehrende Zusammenstöße an der Demarkationslinie. Es wäre eine Katastrophe nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Russland, wo sich die reaktionären politischen Tendenzen verstärken würden und die Wirtschaft unter den Sanktionen leiden würde, was schwerwiegende Folgen für die Zivilbevölkerung hätte.

Eine militärische Niederlage der russischen Invasion ist daher auch im Interesse der Russ*innen. Nur eine breite Bewegung im Inland, die sich für einen Wandel in Russland einsetzt, kann die Möglichkeit eröffnen, dass die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland in Zukunft wieder stabil werden. Doch wenn Putins Regime siegt, wird diese Revolution für lange Zeit unmöglich sein. Ihre Niederlage ist notwendig für die Möglichkeit progressiver Veränderungen in der Ukraine, in Russland und in der gesamten postsowjetischen Welt.

Region Kyiv. Bild von Riot Turtle.

Was Sozialist*innen tun sollten

Ich muss zugeben, dass ich mich weitgehend auf die innenpolitischen Dimensionen des aktuellen Konflikts konzentriert habe – sowohl für die Ukrainer*innen als auch für die Russ*innen. Für viele Linke im Ausland konzentrieren sich die Diskussionen eher auf die breiteren geopolitischen Auswirkungen. Meiner Meinung nach sollten Sozialist*innen bei der Bewertung des Konflikts jedoch zuallererst auf die Menschen achten, die direkt von diesem Konflikt betroffen sind. Und zweitens unterschätzen viele Linke die Bedrohungen, die von einem möglichen Erfolg Russlands ausgehen.

Die Entscheidung, sich der russischen Besatzung zu widersetzen, wurde weder von Joe Biden noch von Selenskyj getroffen, sondern von der ukrainischen Bevölkerung, die sich in den ersten Tagen der Invasion massenhaft erhob und zu den Waffen griff. Hätte Selenskyj damals kapituliert, wäre er in den Augen des größten Teils der Gesellschaft lediglich diskreditiert worden, aber der Widerstand wäre in anderer Form weitergegangen, angeführt von hartgesottenen nationalistischen Kräften.

Außerdem wollte der Westen diesen Krieg nicht, wie Volodymyr Artiukh in Jacobin feststellte. Die Vereinigten Staaten wollten keine Probleme in Europa, weil sie sich auf die Konfrontation mit China konzentrieren wollten. Noch weniger wollten Deutschland und Frankreich diesen Krieg. Obwohl Washington viel getan hat, um das Völkerrecht zu untergraben (wir, wie Sozialist*innen überall auf der Welt, werden zum Beispiel die verbrecherische Invasion im Irak nie vergessen), tun sie das Richtige, indem sie den ukrainischen Widerstand gegen die Invasion unterstützen.

Autobahn-Raststätte, etwa 20 Kilometer vor Kyiv. Bild von Riot Turtle.

Historisch gesehen ist der Krieg in der Ukraine nicht mehr als der Vietnamkrieg ein Stellvertreterkrieg zwischen den Vereinigten Staaten auf der einen Seite und der Sowjetunion und China auf der anderen Seite. Und doch war er gleichzeitig auch ein nationaler Befreiungskrieg der vietnamesischen Bevölkerung gegen die Vereinigten Staaten sowie ein Bürgerkrieg zwischen Anhänger*innen Nord- und Südvietnams. Fast jeder Krieg ist vielschichtig; sein Charakter kann sich im Laufe seines Verlaufs ändern. Aber was bedeutet das für uns in der Praxis?

Während des Kalten Krieges brauchten die Internationalist*innen die UdSSR nicht zu loben, um den vietnamesischen Kampf gegen die Vereinigten Staaten zu unterstützen. Und es ist unwahrscheinlich, dass irgendein Sozialist*in linken Dissident*innen in der Sowjetunion geraten hätte, sich der Unterstützung des Vietcong zu widersetzen. Hätte man sich der sowjetischen Militärhilfe für Vietnam widersetzen sollen, weil die UdSSR den Prager Frühling von 1968 verbrecherisch unterdrückt hat? Warum werden dann, wenn es um die westliche Unterstützung für die Ukraine geht, die mörderischen Besetzungen Afghanistans und des Irak als ernsthafte Gegenargumente für die Hilfe angesehen?

Sozialistische Internationalist*innen müssen jeden Konflikt auf der Grundlage der Interessen der arbeitenden Menschen und ihres Kampfes für Freiheit und Gleichheit bewerten.

Anstatt die Welt nur in geopolitischen Lagern zu sehen, müssen sozialistische Internationalist*innen jeden Konflikt auf der Grundlage der Interessen der arbeitenden Menschen und ihres Kampfes für Freiheit und Gleichheit bewerten. Der Revolutionär Leo Trotzki hat einmal geschrieben, dass, wenn das faschistische Italien in Verfolgung seiner Interessen den antikolonialen Aufstand in Algerien gegen das demokratische Frankreich unterstützt hätte, die Internationalistinnen die italienische Bewaffnung der Rebell*innen hätten unterstützen müssen. Das klingt ganz richtig, und das hat ihn nicht daran gehindert, Antifaschist*in zu sein. (Ich möchte darauf hinweisen das ich Leo Trotski für ein autoritären kontrarevolutionären Mörder halte, Riot Turtle.)

Vietnam war: Combat operations at Ia Drang Valley, Vietnam, November 1965. Major Bruce P. Crandall’s UH-1D helicopter climbs skyward after discharging a load of infantrymen on a search and destroy mission.

Der Kampf in Vietnam kam nicht nur Vietnam zugute; die dortige Niederlage der Vereinigten Staaten hatte eine bedeutende (wenn auch vorübergehende) abschreckende Wirkung auf den amerikanischen Imperialismus. Das Gleiche gilt für die Ukraine. Was wird Russland tun, wenn die Ukraine besiegt wird? Was würde Putin davon abhalten, Moldawien oder andere postsowjetische Staaten zu erobern?

Die Hegemonie der USA hat schreckliche Folgen für die Menschheit gehabt und ist glücklicherweise jetzt im Begriff abzunehmen. Ein Ende der US-Vorherrschaft kann jedoch entweder einen Übergang zu einer demokratischeren und gerechteren internationalen Ordnung oder einen Krieg aller gegen alle bedeuten. Es kann auch eine Rückkehr zur Politik der imperialistischen Einflusssphären und der militärischen Neuziehung von Grenzen bedeuten, wie in früheren Jahrhunderten.

Die Welt wird noch ungerechter und gefährlicher werden, wenn nicht-westliche imperialistische Raubtiere den Niedergang der USA nutzen, um ihre aggressive Politik zu normalisieren. Die Ukraine und Syrien sind Beispiele dafür, wie eine „multipolare Welt“ aussehen wird, wenn der Appetit der nicht-westlichen Imperialist*innen nicht gedämpft wird.

Je länger dieser schreckliche Konflikt in der Ukraine andauert, desto mehr könnte die Unzufriedenheit der Bevölkerung in den westlichen Ländern aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten durch den Krieg und die Sanktionen wachsen. Das Kapital, dem der Verlust von Gewinnen nicht gefällt und das zum „business as usual“ zurückkehren möchte, könnte versuchen, diese Situation auszunutzen. Sie kann auch von rechtspopulistischen Kräften genutzt werden, denen es nichts ausmacht, Einflusssphären mit Putin zu teilen.

Aber wenn Sozialist*innen diese Unzufriedenheit nutzen, um weniger Hilfe für die Ukraine und weniger Druck auf Russland zu fordern, wäre das eine Absage an die Solidarität mit den Unterdrückten.

Taras Bilous

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