
Genoss*innen aus dem Trentino (italienisches Territorium) veröffentlichten ihre dritte Wandzeitung über den aktuellen Ausnahmezustand, die nun in mehreren Städten aufgeklebt wird. Nr. 1 könnt ihr hier lesen. Nr. 2 hier.
Ursprünglich von Il Rovescio veröffentlicht. Übersetzt von Enough 14.
Orignal-Wandzeitung (Italienisch) als PDF-Datei:
Nichts wird je wieder so sein wie früher
Das ist es, was sie uns sagen. Da wir die Industriegesellschaft – deren ständiges Voranschreiten immer häufiger zu immer tödlicheren Epidemien führen wird – nicht in Frage stellen können, müssen wir noch stärker auf die Beschleunigung der technologischen Lösungen drängen. Da wir die Abholzung der Wälder, den zwanghaften Abbau von Rohstoffen, die Vergiftung von Luft und Wasser, die intensive Land- und Viehwirtschaft, die künstliche Nahrungsmittelproduktion und die Dezimierung der Menschen nicht aufhalten können, müssen wir uns daran gewöhnen, mit Pandemien zu leben. 75% der neuen Infektionskrankheiten werden durch Wildtiere, deren natürlicher Lebensraum zerstört wurde, auf den Menschen übertragen; dann wirkt der durch Umweltverschmutzung erzeugte Feinstaub (wie ein Mitglied der italienischen Gesellschaft für Umweltmedizin kürzlich schrieb) wie „Autobahnen der Ansteckung“. Also? Stoppen wir diese wahnsinnige Wettlauf und nutzen die verbleibenden Lebensräume für das, was von den Wildtieren übrig geblieben ist? Nein. Volle Kraft voraus, unter digitaler Kontrolle!
Nichts darf so sein wie bisher
Das ist was es, wir sagen. So bald wie möglich öffnen wir Räume für Diskussion und Organisation von unten. In Städten, Vierteln, Dörfern. Und stellen wir uns allem, was unser gemeinsames Leben betrifft, von den unmittelbaren materiellen Bedürfnissen bis hin zur Medizin, von der wirtschaftlichen Umstrukturierung, welche brutal in jene Richtung gehen wird, die wir der Gesellschaft geben wollen. Sie sollen nicht ankommen und uns sagen, dass wir wieder einmal dafür bezahlen müssen. Verschonen Sie uns mit den großen Opfern, um ihre Wirtschaft wieder anzukurbeln, von der Automatisierung der Produktion, von 5G und anderem Müll. Das Virus ist nicht die Ursache, sondern die Folge der Industrieseuche. Und wir müssen von dort aus endlich beginnen.
Internationaler Mietstreik
Seit dem 1. April hat sich dieser Vorschlag in mehreren Ländern verbreitet (Vereinigte Staaten, Kanada, Vereinigtes Königreich, Schweden, Chile, Spanien…). Die Mieter*Innenvereinigung von Gran Canaria zum Beispiel schreibt in ihrer Einladung „an die gesamte Arbeiter*Innenklasse und die Mieter*Innen, einen Generalstreik und den permanenten Mietstreik zu unterstützen“: „Die gegenwärtige Situation könnte nicht alarmierender sein, nicht nur in Bezug auf die Gesundheit, sondern auch in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht. Die Maßnahmen der Regierung, die infolge von Covid-19 den Notstand ausgerufen hat, sind klar arbeitnehmer*innenfeindliche Maßnahmen, völlig oberflächlich (begrenztes Hypothekenmoratorium) und scheren sich nicht um die Grundbedürfnisse: Tausende von Familien, welche von der Hand in den Mund, die mit schlecht bezahlten Jobs überleben, Menschen, die illegal entlassen wurden, Familien, die aufgrund der Isolation ohne Einkommen geblieben sind; alle müssen mit der Unmöglichkeit, Miete zu zahlen, fertig werden“. Und er schlägt darüber hinaus vor: „Die Häuser, die in den Händen von Fonds, Finanzunternehmen und Banken aufgegeben wurden (insbesondere jene, die mit öffentlichen Geldern gerettet wurden), müssen sozialisiert und den Tausenden von Menschen oder Familien zur Verfügung gestellt werden, die heute ohne Wohnung sind“.
Worte und Barrieren
„Ein Tyrann hat unser Leben auf den Kopf gestellt, und diesen nennt man Coronavirus“. Krankenhäuser werden zu „Schützengräben“, während die Toten von Militärfahrzeugen abtransportiert werden. So eröffnen sich in unseren Köpfen Kriegsszenarien mit all ihrer symbolischen und emotionalen Bedeutung. Denn Metaphern beschwören Bilder und Konzepte herauf. Die Sprache ist alles andere als neutral: Sie gibt Meinungen Form, sie bringt Beziehungen zum Ausdruck, die sich im Laufe der Zeit entfalten. Worte erschaffen die Welt. Sie beeinflussen jeden von uns und führen uns, auf die eine oder andere Weise, zum Handeln.
Eine Krankheit wie einen Krieg zu behandeln, macht gehorsam, fügsam und in der Perspektive zu designierten Opfern.
Die Wahl zwischen diesem oder jenem Wort ist keine Frage der Sprache, sondern eine politische Entscheidung. Politiker*innen: Ihr seid die Verfechter der Angst und des Hasses zwischen den Menschen. Sie haben in dem Virus eine weitere Gelegenheit gefunden, Grenzen zu ziehen und Barrieren zu errichten.
Jetzt, da wir die potenziell Infizierten sind.
Die Container, die der österreichische Staat am Brenner-Pass [1] zur einwandererfeindlichen Nutzung bereitgestellt hatte, werden seit Wochen für Coronavirus-Kontrollen bei der Einreise aus Italien verwendet. Die laufenden „ausserordentlichen Massnahmen“ sollten uns zum Nachdenken darüber anregen, was mit letzteren, mit den Undokumentierten, mit jenem Teil der Menschheit, der so lange wie nötig ausgebeutet werden kann, immer schon geschehen ist, und sie dann dem Tod oder der Rückführung überlassen. Jenseits der Privilegien, die wir nicht mehr wahrnehmen, gibt es diejenigen, die traurigerweise an eine tägliche Routine von Trennung, Kontrollen, Visa gewöhnt sind, „wer weiß, wann wir uns wieder sehen können“. Während Güter bewegt werden und Tausende von Menschen an den Grenzen Europas gefangen sind, werden wir vielleicht feststellen, dass der Grenzwall-Virus nicht in ein paar Wochen aufhört.
Jenseits der Grenzen, die Gefängnis Kämpfe
Angesichts der Unruhen, die am 7. März in den Gefängnissen ausbrachen, beeilten sich die Zeitungen und Fernsehsender, von direkten Aktionen des „organisierten Verbrechens“ zu sprechen. (Es ist nicht überraschend, dass dasselbe Skript dann auch zur Kriminalisierung derjenigen verwendet wurde, welche versuchten, aus Supermärkten herauszukommen, ohne ihre Einkäufe zu bezahlen). Jemand sprach statt von „organisiertem Plan“ von einer nicht näher bezeichneten „anarchistischen Hand“. Unvorstellbar für den Staat, zuzugeben, dass es sich um spontane Revolten handelt, die in der Lage sind, schnell miteinander zu kommunizieren, die in Gefangenschaft an Orten der Folter, jahrelanger Schläge, weit verbreiteter Überbevölkerung, abstoßender hygienischer Bedingungen aufgewachsen sind; da man dann anders darüber gesprochen, und mehr darüber geredet hätte. Tatsache ist, dass Aufstände auch in Spanien, Frankreich, Brasilien, USA, Belgien, Venezuela, Iran, Peru, Sri Lanka, Kolumbien (wo allein im Gefängnis von Bogota dreiundzwanzig Häftlinge starben) ausbrechen… Jetzt müssen sie darüber reden. Selbst Staaten wie der Iran und die Türkei haben 110.000 bzw. 90.000 Gefangene freigelassen. Selbst das UN-Sekretariat fordert die Regierungen auf, dringend Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Ansteckung in den weltweiten Gefängnissen zu ergreifen, in denen 12,5 Millionen Menschen inhaftiert sind. Gerade die Gefangenen sind es, die uns als erste darauf hinweisen, dass der ungeheure Ausnahmezustand, dessen Gefangene wir heute sind, die Möglichkeiten bieten kann und muss, sie und uns zu befreien, indem wir über unsere Grenzen hinausblicken.
[1] Der Brennerpass (deutsch: Brennerpas, kurz Brenner. Italienisch: Der Passo del Brennero ist ein Gebirgspass durch die Alpen, der die Grenze zwischen Italien und Österreich bildet.
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