
Der folgende Text ist der Versuch einiger Menschen, die im besetzten Casa Cantoniera in Oulx aktiv waren, einer Analyse über die Räumung und einer Reflektion über die letzten Jahre unserer Präsenz in diesem Teil der Grenze.
Jetzt erst recht, wollen wir jede*n aufrufen an die Grenze zu kommen, um ein Zeichen zu setzen, dass die Räumung unserer Freiräume und die Repression gegen Menschen auf der Flucht und Menschen, die sich mit ihnen solidarisch erklären, nicht dazu führen wird, dass wir aufhören werden unseren Widerstand ausdrücken. Wir versuchen gerade uns wiederzufinden und unsere Präsenz in diesem Teil der Grenze neu zu organisieren. Wir wissen noch nicht, welche Form diese Organisation haben wird, vieles hängt davon ab, was in den nächsten Tagen und Wochen passieren wird. Wer interessiert ist und Updates erhalten möchte, schreibt uns eine Email an chezjesoulx@riseup.net (PGP key gibt’s auf Anfrage)
Am frühen Morgen des 23. März räumten die Bullen zusammen mit der Feuerwehr und einigen NGOs das besetzte Casa Cantoniera in Oulx, einem kleinen Ort an der italienisch-französischen Grenze, an dem tausende Menschen in den letzten Jahren die Grenze übertreten haben. Die 13 Genoss*innen, die während der Räumung anwesend waren, sind für die Besetzung des Hauses angeklagt. Die über 60 Menschen in Transit wurden einem erzwungenen Coronatest unterzogen, ihre Identitäten und Fingerabdrücke festgestellt und dann in verschiedene Strukturen transportiert.
Die Art und Weise, wie diese Räumung durchgeführt wurde zeigt einmal mehr die Widersprüche der europäischen Migrationspolitik auf. Die Repression von Bewegungsfreiheit ist nur durch die Komplizenschaft von sogenannten “humanitären” Organisationen möglich. Während die Bullen das sichtbare Gesicht von Repression sind, dienen die humanitären Organisationen als das “freundliche” Gesicht ebendieser (und lassen sich bewusst als diese ausnutzen). Das Rote Kreuz und die Organisation “Rainbow 4 Africa” stellten die Infrastruktur für den Transport und die unfreiwillige Identifizierung für die über 60 Menschen in Transit, die während der Räumung im Haus anwesend waren, bereit. Sie wurden in verschiedene von der Grenze entfernte Strukturen abtransportiert. Die Feuerwehr unerstützte die Bullen dabei, die Barrikaden aufzubrechen und stellten das Equipment bereit, (mit welchem die Bullen sich Zugang über das Dach ins Haus verschafften) das den Bullen erlaubte sich über das Dach Zugang zum Haus zu verschaffen. Ohne die Hilfe dieser Organisationen wäre die Räumung des Casa Cantoniera um einiges schwieriger und zeitintensiver (und dadurch für die Öffentlichkeit sichtbarer) gewesen.
Es ist nicht das erste mal, dass das Rote Kreuz mit der Polizei zusammenarbeitet – in diesem Teil und anderen Teilen der Grenze. Es gab zahlreiche Situationen, in denen Mitarbeiter*innen des Roten Kreuzes (vergeblich) versucht haben Menschen in Transit davon zu überzeugen, ihre Reise nicht
fortzusetzen anstatt sie mit etwas sinnvollem zu unterstützen oder sie ihre eigenen Entscheidungen treffen zu lassen. Sie waren oft Komplizen in Polizeieinsätzen und halfen dabei Pushbacks durchzuführen. In vielen Fällen nutzte das Rote Kreuz bewusst das Vertrauen von Menschen in ihre Institution aus, während sie offen mit der Polizei zusammenarbeiteten.
Die Organisation “Rainbow 4 Africa” versucht seit langem mit autonomen Zentren zu kollaborieren und hat immer wieder versucht dem Casa Cantoniera ihre Anwesenheit aufzuzwingen. Zur gleichen Zeit unterstützen sie das Abschiebegefängnis in Turin mit medizinischem Personal (in dem die physische Vernachlässigung von Menschen, die dort eingesperrt sind an der Tagesordnung ist) und stellten die medizinische Infrastruktur für die Räumung des Hauses zur Verfügung. Als unser Protest nach der Räumung des Hauses am Schlafsaal der Salesiani (eine katholische „Hilfsorganisation“) in Oulx ankam, um unsere Solidarität gegenüber den Familien, die dort hingebracht wurden, auszudrücken, mussten wir feststellen, dass das Tor der Struktur abgeschlossen war, um die Menschen davon abzuhalten diese zu verlassen. Dies zeigt uns einmal mehr, dass deren Wahrnehmung der Menschen, denen sie ihre “Unterstützung” zukommen lassen, nicht die von gleichwertigen Individuen, sondern die von Objekten ist, deren Bewegungen kontrolliert und beschränkt werden müssen.
Seit über zwei Jahren versuchte das Casa Cantonierea einen Raum zu schaffen, in dem praktische Solidarität und Widerstand gegen die Grenze und die Unterdrückung und Gewalt die mit ihr kommt, gelebt werden können. Ein Ort, der sich weigerte im “Management” von Migration mitzumachen, wo diejenigen, auf deren Rücken unsere Privilegien und unser Reichtum aufgebaut sind, nicht als Objekte, als gefährliche Kriminelle oder als infantilisierte Opfer behandelt werden, sondern als Individuen, die fähig sind eigene Entscheidungen zu treffen. Die Grenze ist offensichtlich durchlässig für den Transit von Geld, Tourismus und Waren, aber nicht für Menschen, denen das “richtige” Blatt Papier fehlt. Unser Ziel war es nie einen Service bereitzustellen, sondern einen inklusiven Kampf zu leben mit Menschen, die vom System Kapital und Staat auf verschiedene Weisen unterdrückt werden.
Viele der Menschen, die das Casa Cantoniera besucht haben, haben aktiv bei der Erledigung der täglichen Aufgaben teilgenommen. Die Tatsache, dass dieses Haus für 828 Tage ohne Pause offen für Menschen war, war nur deshalb möglich, weil wir unser Wissen und unsere Fähigkeiten kollektiv gebündelt haben und so das Mögliche maximieren konnten und dies immer im Bewusstsein und der Anerkennung unsere Unterschiede, Möglichkeiten und Fähigkeiten. Wir haben miteinander unsere Wut und Frustration geteilt, aber auch Momente der Zuneigung und Freude miteinander gelebt. All dies half uns dabei stärker und entschiedener zu werden in unserer Opposition gegen die gewaltvolle Realität dieser Welt.
Im Haus haben wir miteinander Anekdoten, Träume und Kämpfe geteilt und zogen daraus die Kraft, nicht allein zu sein. Manchmal waren diese Momente einfach gemeinsam einen Kaffee am Morgen zu trinken, einen Teller mit etwas lecker Frittiertem während dem Plenum herumzureichen, gemeinsam zu Popmusik von überall auf der Welt zu tanzen währen wir eine gemeinsame Mahlzeit vorbereiteten, anderen den letzten Filter, Blättchen oder Tabak anzubieten, um eine dringend notwendige Zigarettenpause machen zu können…
Die Opposition, die geschaffen wurde, drückt nicht nur den Widerspruch gegen die Unterdrückung der Grenze aus – parallel dazu versucht sie eine alternative Realität zu schaffen. Das Haus war ein Ort, in dem verschiedene Formen der Unterdrückung bekämpft wurden: Es gab einen selbstorganiserten Garten, denn um Kosumdenken zu überwinden, müssen wir unser Verhältnis zur Natur und Nahrung überdenken.
Es gab einen Raum, der für Frauen* und nicht binäre/genderkonforme Individuen reserviert war, denn die Auflösung des Patriarchat benötigt Anerkennung und Raum für verschiedene Identitäten. Es gab eine Bibliothek mit Büchern und selbst-veröffentlichten Texten in verschiedenen Sprachen, die von Comics und Romanen bis hin zu Texten über Selbstfürsorge und DIY reichten, denn das Ziel einer radikalen¹ Alternative erfordert konstantes Reflektieren, Selbstkritik und die Erweiterung von Wissen.
Obwohl wir in einigen Fällen materielle Unterstützung von Institutionen und NGOs angenommen haben, haben wir uns nie deren Paradigmen untergeordnet und haben immer versucht, das Haus unabhängig mit der finanziellen und materiellen Unterstützung von Menschen, die unsere Ideen teilen und unterstützen, versorgen zu können.
Offensichtlich ist es in einer Welt in der jeder von uns Dynamiken von Unterdrückung und Vorurteile verinnerlicht hat, unmöglich nicht auch Fehler zu machen. Viele Menschen, die durch dieses Haus gereist sind, haben schwere Traumata und Verluste erleben müssen. Wir wollen nicht verneinen, dass es im Haus Episoden von Gewalt gab und dass wir in verschiedenen Situationen falsch gehandelt haben. Um jedoch etwas außerhalb der Logik von Profit und Herrschaft zu erschaffen, müssen wir üben und von den Fehlern, die wir in der Vergangenheit begangen haben lernen, selbst, wenn uns dies nicht immer gelingt.
Wir sind angewidert von der Art und Weise, wie diese Vorfälle genutzt wurden und werden um die Idee einer möglichen Alternative zu entkernen, als Beweis dafür missbraucht werden, dass eine andere Welt nicht möglich sei; ironischerweise sind diese Vorfälle von Gewalt oft eine direkte Folge des unterdrückerischen Systems, dass die Nationalstaaten so eifrig aufrechterhalten.
Seit Beginn des Projekts wurden viele Spekulationen und Falschinformationen über dieses Haus verbreitet. Direkt nachdem die Räumung durchgeführt war, wurden Fotos vom Inneren des Hauses geteilt (welches sich offensichtlich nach der Räumung in einem fürchterlichen Zustand befand) mit dem Ziel diese dann zu instrumentalisieren und die Narrative der „dreckigen Hausbesetzer*innen“ zu bestätigen. Wir weigern uns und haben uns in der Vergangenheit geweigert mit Journalistinnen zu sprechen, weil wir nicht entsprechend des gängigen Klischees der „Anarchist*innen und Taugenichtse“ dargestellt werden wollen, das dann wiederum genutzt wird um Profit aus dieser Form des Spektationalismus zu schlagen.
Und nun ist dieser winzige Ort der Selbstbestimmung nicht mehr, dieser Ort, der uns für einen kurzen Moment erlaubte aufzuatmen, nun aufgelöst in eine Welt der barschen Politik und rassistischen Gesetze.
Die Räumung des Casa Cantoniera ist nur ein Teil der globalen Repression gegen Bewegungsfreiheit, Solidaritätsstrukturen und (besetzte) Freiräume im Allgemeinen. Überall in Europa wurden in den letzten Jahren selbstbestimmte, besetzte Projekte geräumt, während gleichzeitig jeder Versuch neue Orte und Kämpfe zu organisieren, sofort mit der vollen Kraft der repressiven Staatsorgane niedergeschlagen wird. Die Militarisierung von Grenzen und die Normalisierung von Pushbacks an den internen und externen Grenzen Europas befeuern nur wachsende rassistischer Sentiments und die Faschisierung der Gesellschaft. Gleichzeitig werden diejenigen bekämpft, die sich weigern dieser Logik zu folgen und sich nicht davon abhalten lassen wollen, Menschen auf der Flucht zu unterstützen. In Calais wurde Essenverteilung illegalisiert, an vielen anderen Orten, werden Menschen davon abgehalten ihre Solidarität als unabhängig und als Individuen auszudrücken und gezwungen sich mit offiziellen Organisationen zu registrieren, in Ungarn ist jede Form von Unterstützung für Menschen auf der Flucht seit Jahren illegal. Ziel ist es auf der einen Seite Umstände zu schaffen, die die Flucht immer schwieriger machen und gleichzeitig eine Politik zu verfolgen, die andere davon abschrecken soll, die Reise nach Europa zu wagen. Auf der anderen Seite soll uns weisgemacht werden, dass Humanität und Unterstützung nur dann möglich sind, wenn sie in staatlich anerkannte Methoden und Kontexte gezwängt werden.
Die Repression von Solidaritätsstrukturen und die Abschottung Europas werden jedoch nicht dazu führen, dass Menschen aufhören werden ihrem Willen und Bedürfnis nach Migration nachzugehen. Migration ist so alt wie die Menschheit und so lange diese Welt eingeteilt ist in diejenigen die
ausgebeutet werden und diejenigen, die von dieser Ausbeutung profitieren; so lange Kriege und Konflikte befeuert werden von der Notwendigkeit des Kapitalismus Mehrwert zu erzeugen und der Notwendigkeit von Nationalstaaten ihre Macht und ihr Einflussgebiet auszubreiten, werden Menschen sich gezwungen sehen sich von einem an einen anderen Ort zu bewegen. Und solange diese Ungleichheit zwischen dem „globalen Süden“ und dem „globalen Norden“ besteht, werden Menschen versuchen nach Europa zu kommen. Und so lange der Reichtum und die Vormacht von Europa auf dieser Ungleichheit aufgebaut ist, haben dessen Nationalstaaten und Institutionen keine andere Möglichkeit zu reagieren als durch die Mittel der Militarisierung und Gewalt. Die Räumung von und Repression gegen das Casa Cantoniera wird Menschen nicht davon abhalten diesen Teil der Grenze zu überqueren. Es wird lediglich dazu führen, dass sie sich gezwungen sehen mehr Risiken in Kauf zu nehmen, dass Menschen noch verzweifelter werden und dazu, dass Schmuggler die Route übernehmen, um Geld aus dem Leid anderer Menschen zu schlagen.
Sie können uns die Häuser nehmen, sie können uns einsperren, aber sie werden niemals unsere Ideen begraben und sie können die Wahrheit nicht zum Schweigen bringen, und diese Wahrheit lautet:
Solange die Welt entsprechend der Prinzipien von Herrschaft organisiert ist – die Herrschaft von Mensch über Natur, die Herrschaft von Mensch über Mensch und von einem ökonomischen System bestimmt wird, dass auf der Ausbeutung von Ressourcen und Menschen basiert, können wir nicht frei sein. Wir müssen und wir werden andere Wege finden unseren Widerstand auszudrücken, andere Wege Räume zu schaffen und für Räume zu kämpfen, in denen wir in Freiheit lernen, schaffen und leben können.
¹ Wir benutzen das Wort „radikal“ in seinem ursprünglichen Sinne und meinen damit, dass wir das Problem an der „Wurzel“ angreifen wollen statt einfach zu reformieren, was wir für fundamental dysfunktional halten.

[…] Nach der Räumung der Casa Cantoniera: Sie können uns unsere Räume nehmen, sie können uns krimina… […]