
Die soziale Revolte in Chile hat immer noch kein Ende gefunden. Im dritten Kommuniqué der „Federación Anarquista de Santiago“, stehen die autonomen und horizontalen Strukturen der Bewegung im Zentrum: Territoriale Vollversammlungen sollen die Selbstorganisation und die Kooperation unterschiedlicher Gebiete ermöglichen und eine reale Handlungsmacht unabhängig vom Staat und Kapitalismus errichten. Dabei sollen sie auf Ganze gehen und die Grundstrukturen des Kapitalismus, wie z. B. das Privateigentum, in Frage stellen. Im Gegensatz hierzu stehen die Bürgerversammlungen, in denen meist über eine neue Verfassung für den chilenischen Staat diskutiert wird.
Ursprünglich veröffentlicht von Barrikade Info.
DRITTES KOMMUNIQUÉ
Stellungsnahme der „Federación Anarquista Santiago“ zu dem sozialen Aufstand in Chile
1. Die momentane Situation ist von Ungewissheit geprägt. Der Mut der Leute lässt sich weder durch Kugeln noch durch Almosen der Bourgeoisie stoppen. Die unterdrückte Klasse leistet unerschrocken Widerstand und zwar im gesamten Gebiet des chilenisches Staates. Wir rufen dazu auf, die Mobilisierungen aufrechtzuerhalten: Auf der Straße, in den Gemeinden, in den Gymnasien, am Arbeitsplatz usw. Wir sind uns bewusst, dass die Tage des Aufstands einen zermürbenden Effekt haben. Aus diesem Grund ist es wichtig, die territorialen Versammlungen auszubauen und zu stärken. Sie sollten die institutionelle Ausrichtung der Bürgerversammlungen überwinden und sich nicht rund um eine neue Verfassung drehen. Eher sollte ein „Abkommen der Allgemeinheit“ im Vordergrund stehen. Die autonomen und horizontalen territorialen Vollversammlungen sollten zu einem widerständigen Bezugspunkt der unterdrückten Klasse werden. Sowohl lokale wie auch globale Probleme sollten thematisiert und die Versammlungen verbreitet werden, um den Konflikt auf unterschiedlichen Gebieten zu verbreiten. Andererseits ist eine gemeinschaftliche Organisierung, die in der Lage ist, die unmittelbaren und alltäglichen Bedürfnisse zu stillen, unumgänglich um den Staat zurückzudrängen. Wir müssen zusammenkommen und unsere Kräfte bündeln, damit der soziale Aufstand nicht im Moment der Katharsis stehen bleibt, sondern auch zum Beginn eines emanzipatorischen Prozesses wird.
2. Die Regierung hat aufgrund des Drucks auf der Strasse den Ausnahmezustand aufgehoben und das Militär zurückgezogen. Doch die Repression der Spezialeinheiten – der militarisierten Polizei – hat sich verstärkt. Sie hat 25 Menschenleben gefordert, es gibt mehr als 4.300 Verhaftete, mehr als 1.600 Verletzte, mehr als 160 Menschen haben ein Auge durch Gummigeschosse verloren, 19 Menschen wurden sexuell missbraucht, mehr als 133 Menschen gefoltert. Diese Angaben entsprechen den Daten der Regierung, die tatsächliche Zahl dürfte weit höher liegen.
Als ob das nicht genug wäre, hat der Direktor des Nationalen Instituts für Menschenrechte (INDH) behauptet, es gäbe keine systematischen Menschenrechtsverletzungen. Solche Aussagen zeigen auf, dass staatliche Institutionen Gewalt gegen kämpfende Leute tolerieren.
Wir rufen zur internationalen Solidarität auf, wir fordern die Freilassung aller Gefangenen und wir Gedenken unserer Toten.
3. Der opportunistische Charakter der politischen Parteien trat während der letzten Tagen deutlich in Erscheinung. Auf den Straßen sucht man vergebens nach den Anführer*innen der Parteien – die natürlich die Repression noch nie am eigenen Leib gespürt haben. Das hindert sie aber nicht daran, sich als „Volksvertreter*innen und Repräsentant*innen der populären Forderungen“ zu inszenieren. Doch die Bewegung hat die politischen Parteien noch nie gebraucht und wird sie auch in Zukunft nicht brauchen. Sie wollen mit der Regierung verhandeln, einer Regierung, der das Blut unserer ermordeten Brüder und Schwestern an den Händen klebt. Sie wollen dieser nach Tränengas riechenden Demokratie neuen Aufschwung verleihen. Sie werden nie unsere Interessen vertreten, weil sie nicht Teil der unterdrückten Klasse sind. Wir lehnen ihren „neuen Sozialpakt“ ab, weil er keine radikale Veränderung für die Bevölkerung darstellt. Wir sind nicht bereit, unseren Kampf einer Maskerade zu opfern, die dem gegenwärtigen Herrschaftssystem, das unsere Bedürfnisse negiert, ein „menschlicheres Gesicht“ verleiht.
4. Die „verfassungsgebende Versammlung“ ist ihrerseits eine Parole, die in unserer Klasse auf Anklang stoßt. Als wäre sie eine Wunderlampe, die all unsere Probleme lösen könnte, verbreitet sie Illusionen unter den Kämpfenden. Aus diesem Grund scheint uns eine kritische Haltung unserer Klasse enorm wichtig.
Die „verfassungsgebende Versammlung“ ist für uns nur ein Instrument, um eine institutionelle Lösung des Konflikts zu finden, die den Interessen der Oligarchie zugutekommen wird. Als Klasse haben wir noch keine festen und kämpferischen Organisationsformen entwickelt, die diesem Prozess im besten Fall eine Orientierung geben könnte. Deshalb bedeutet die kurz-/mittelfristige Entwicklung einer „verfassungsgebenden Versammlung“ nichts anderes, als das Schicksal der Bewegung denjenigen zu übergeben, die uns unterdrücken. Es gibt zurzeit nicht die notwendige Korrelation der Kräfte, die es uns erlauben würde, unsere Interessen als Klasse durchzusetzen. Die Einsetzung einer „verfassungsgebenden Versammlung“ würde für die Kämpfenden einer Tragödie gleichkommen, denn damit würden Jahre des Klassenkampfs unter einer „demokratischen, bürgerlichen und partizipativen“ Verfassung begraben. Eine Verfassung, die nur dazu dient, diese verdorbenen Demokratie mit Sauerstoff zu versorgen, damit die Grundpfeiler des Herrschaftssystems unangetastet bleiben.
Andererseits gibt es Leute, die die Errichtung einer neuen „verfassungsgebenden Versammlung“ als einen langsamen und langfristigen Prozess verstehen, in dem die Kräfte der Bürgerversammlungen und der territorialen Versammlungen Schritt für Schritt in die Strukturen des chilenischen Staates fließen. Wir distanzieren uns auch von dieser Position, denn für uns besteht der Zusammenschluss von Kräften – was eine wesentliche Aufgabe ist – nicht darin, eine „verfassungsgebende Versammlung“ zu entwickeln, sondern die Selbstorganisation der unterdrückten Klasse zu erreichen, die ohne jegliche Zustimmung der Oligarchie einen neuen Gesellschaftsvertrag formuliert, in welchem die Säulen des bestehenden Herrschaftssystems für immer begraben werden: Patriarchat und Kapitalismus mitsamt seiner kolonialen Herrschaft in all seinen Ausdrucksformen, der Nationalstaat, das binäre Geschlechtersystem und der Landraub zum Zwecke der Rohstoffproduktion. Wir werden den Staat nicht wieder aufbauen, wir glauben nicht an eine demokratische Unterdrückung, wir werden nicht zur Zementierung der Herrschaft beitragen. Das überlassen wir der Sozialdemokratie.
Wir wissen, dass eine politische Verfassung uns an die institutionelle Säulen des Neoliberalismus bindet und ihn aufrechterhält. Säulen, die verändert werden müssten, wenn wir einen Wandel wollen. Es geht aber nicht nur um eine juristisch-politische Frage, denn es ist unmöglich ist, mit der Oligarchie über fundamentale Fragen des Klassenkampfes zu verhandeln. Man denke an das Privateigentum an Land und Wasser, ein Konflikt, der über den rechtspolitischen Rahmen der Verfassung hinausgeht. Auch wenn die von einigen Akteuren angestrebte Verfassung sich als multinational, populär und feministische gibt und sogar die Natur als Rechtssubjekt anerkennen möchte, wird sie an der Herrschaft des Patriarchats und des Kapitalismus nichts ändern. Deshalb besteht unsere größte Aufgabe darin, einen Zusammenschluss emanzipatorischer Kräfte mit einem programmatischen Inhalt zu stärken, der darauf abzielt, nicht bei Einzelinteressen stehen zu bleiben, sondern die territorialen Versammlungen zu verbreiten, um die Fundamente eines anderes Zusammenlebens zu etablieren und eine neue Welt zu erschaffen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass wir uns als Anarchist*innen aus den verschiedenen Versammlungsinstanzen fernhalten sollten. Wir sollten dafür kämpfen, dass die Vollversammlungen nicht als Plattform für Wahlinteressen missbraucht werden. Wir sollten aus den Vollversammlungen autonome und horizontale Strukturen errichten. Wir müssen präsent sein, um der vorherrschenden Ideologie entgegenzutreten und selbst Grundrisse einer anderen Gesellschaft zu skizzieren. Wir müssen in den Vollversammlungen präsent sein, weil wir selbst unterdrückt werden, weil wir Teil einer kämpfenden Bevölkerung sind, wir müssen diese Strukturen stärken, damit wir uns gemeinsam in Richtung Emanzipation bewegen können.
5. Wir rufen dazu auf, den Kampf auf den Straßen und in den verschiedenen Gemeinden und Nachbarschaften fortzusetzen. Die territorialen Versammlungen müssen ausgeweitet und gestärkt werden, um eine organisierte Gemeinschaft zu entwickeln, die immer mehr Bereiche umfasst. Verbreiten wir die Kraft der Selbstorganisation.
Lasst uns den Kampf fortsetzen!
Generalstreik!
Der Anarchismus soll Wurzeln schlagen!
Lasst uns eine organisierte Gemeinschaft aufbauen!
Lang lebe der Kampf der Unterdrückten!
Sofortige Freilassung der Gefangenen während dem Aufstand!
ANARCHISTISCHE FÖDERATION SANTIAGO
Aus dem Spanischen übersetzt von Eiszeit
Gefunden auf: https://www.facebook.com/Federaci%C3%B3n-Anarquista-Santiago-143813436259330/

Enough 14: Unterstützt unsere Arbeit!
Unterstützt unsere unabhängige Berichterstattung und Info-Café.
€1,00
Enough 14 braucht euere Unterstützung: